Freitag, Oktober 18

Ein Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen will einen systemrelevanten Zulieferer für Munition nicht mehr lange in seiner Stadt haben. In Berlin wüten Politiker, er gefährde damit Deutschlands Sicherheit. Doch ist es wirklich so? Ein Ortsbesuch in Troisdorf.

Ein Feuerwehrauto ist eine politisch heikle Sache. Wenn es um ihren Brandschutz geht, kennen die Deutschen keinen Spass. So weit, so nachvollziehbar. Dass ein Feuerwehrauto aber möglicherweise zu einem Vorgang beiträgt, in dessen Folge Politiker die Sicherheit Deutschlands gefährdet glauben, dürfte seinesgleichen suchen.

Man findet diesen Vorgang in der Stadt Troisdorf, 78 000 Einwohner, gelegen zwischen Köln und Bonn. Hier, in einem der Ballungszentren Deutschlands, spielt sich etwas ab, was im Kleinen die grossen Schwierigkeiten der Bundesrepublik mit der Zeitenwende aufzeigt.

Besagtes Feuerwehrauto steht im Troisdorfer Stadtteil Bergheim, leistet seit 25 Jahren seinen Dienst und liegt damit 5 Jahre über der durchschnittlichen Nutzungsdauer. Ein neues Auto muss her. Bis es auf dem Hof steht, vergehen im Schnitt zwölf Monate. Weil das bisherige Feuerwehrgerätehaus für das moderne Auto zu klein ist, muss ein neues gebaut werden. Troisdorfs Bürgermeister Alexander Biber machte ein Baugrundstück aus, der Stadtrat genehmigte den Plan.

Es lief, wie es in Kommunen eben so läuft: Planungsrecht, Baurecht, Mitbestimmungsrecht, alles muss beachtet werden. Der Prozess dauerte gut zwei Jahre. Dann aber meldete ein Lebensmitteldiscounter sein Interesse an dem Grundstück an. Der Bürgermeister würde das Feuerwehrhaus nun lieber an anderer Stelle bauen. So ist es aus dem Stadtrat zu hören. Das würde bedeuten, dass sich der Bau des Gerätehauses verzögerte und mit ihm die Ankunft des neuen Löschautos. Brandschutz contra Einkaufsmarkt – es könnte unbequem werden für den Bürgermeister.

Wie der junge Helmut Kohl

Denn Alexander Biber, seit dem 16. Lebensjahr Mitglied der CDU, wird die Stimmen der Menschen in Bergheim bald brauchen. Im nächsten Jahr stehen Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen an. Vor vier Jahren holte er bei der Stichwahl um das Bürgermeisteramt in Bergheim gut 60 Prozent der Stimmen. Sie verhalfen ihm zu einem hauchdünnen Gesamtvorsprung von ein paar hundert Stimmen vor dem SPD-Konkurrenten. Biber muss damit rechnen, dass es auch 2025 wieder knapp wird.

Es gibt Stadträte in Troisdorf, die ihn als jemanden beschreiben, der sich seit seinem ersten Tag im Rathaus bereits im Wahlkampf für die nächste Bürgermeisterwahl befindet. Sie sagen das nicht abschätzig, sondern respektvoll. Biber, 39 Jahre alt, beurlaubter Beamter im Bundesinnenministerium, arbeite fleissig, habe politisches Gespür und wirke ein bisschen wie der junge Helmut Kohl. Er wird als jemand beschrieben, der intern herrisch und autoritär auftritt, nach aussen aber clever agiert und mit seiner jovial anmutenden Art bei den Leuten gut ankommt. Damit gleicht er durchaus dem vor bald sieben Jahren verstorbenen «ewigen Kanzler».

Alexander Biber also hat ein Problem. Das neue Feuerwehrauto, das fehlende Gerätehaus, sie könnten ihn im nächsten Jahr Stimmen kosten, möglicherweise sogar entscheidende, wenn es wieder knapp wird. Woher könnte er da andere gewinnen? Vielleicht aus Stadtteilen, in denen der SPD-Kandidat vor vier Jahren mehr Stimmen hatte?

In der Kernstadt von Troisdorf etwa mit der Einkaufsstrasse, der Stadthalle, der Volkshochschule, dem Rathaus – und einem Gelände, das wirkt wie Betriebe in der früheren DDR ein paar Jahre nach dem Mauerfall. Verlassene Werkhallen, Putz, der von den Wänden bröckelt, Äste, die aus Mauerwerk wachsen, Zäune um Brachflächen, Erdhaufen und Schutthalden, tote Rohrleitungen auf Betonpfeilern – so sieht es aus auf dem Areal, auf dem vor gut 140 Jahren eines der grössten Munitions- und Sprengstoffwerke Deutschlands entstand.

Dynitec ist systemrelevant

Die Kaiserliche Armee testete auf einem unweit gelegenen Schiessplatz die hier mitentwickelten Granaten. Die Wehrmacht bezog Pulver und Sprengstoff aus Troisdorf. Das Werk war der Grund, warum weite Teile der Stadt im Jahr 1944 von den Alliierten zerstört wurden. Heute produziert das Unternehmen Dynitec auf dem Gelände. Mit Blick auf die umliegenden Brachen würde man nicht meinen, dass von dieser Firma das Leben ukrainischer Zivilisten und die Versorgung der Bundeswehr und anderer westlicher Streitkräfte mit Munition abhängen könnten.

Doch Dynitec gehört zum Rüstungsunternehmen Diehl Defence aus Überlingen. Diehl stellt das Luftverteidigungssystem Iris-T und die dafür benötigten Lenkflugkörper her. Dieses System hilft den Ukrainern seit gut anderthalb Jahren, Städte wie Kiew gegen russische Luftangriffe zu verteidigen. Diehl stellt auch Artilleriegranaten und Zünder für Munition her. Daran mangelt es der Ukraine gerade existenziell.

Dynitec produziert in Troisdorf etwas, ohne das weder die Raketen noch die Artilleriegranaten von Diehl funktionieren. Es handelt sich um fingernagelgrosse Kapseln, die dafür sorgen, dass das Pulver und der Hauptsprengstoff in einem Geschoss zünden. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist der Bedarf an «Zünd- und Anzündmitteln», wie sie der Hersteller nennt, dramatisch gestiegen. Dynitec ist nach eigener Darstellung sicherheitsrelevant für Deutschland.

Wenn man Troisdorf aus der Luft betrachtet, dann sieht man Wohn- und Gewerbeansiedlungen, Strassen und Bahnschienen und mittendrin das Gelände der alten Munitions- und Sprengstofffabrik. Es gehört zu einem kleinen Teil der Firma Diehl, überwiegend aber Dynamit Nobel. Diese Rüstungsfirma beschäftigte in Troisdorf einst bis zu 17 000 Menschen, ehe sie sich aus dem Ort zurückzog. Weite Teile des Geländes sind durch 140 Jahre Rüstungsproduktion verseucht. Dynamit Nobel will es nun loswerden. Mit dieser Verkaufsabsicht ging vor zwei Jahren das ganze Troisdorfer Zeitenwende-Theater los.

«Bürgermeister für den Frieden»

Diehl würde das Gelände gern kaufen. Das brachte Alexander Biber auf den Plan. Vor seinem Rathaus hängt eine Fahne mit dem Symbol einer Friedenstaube und dem Schriftzug «Bürgermeister für den Frieden». Anfang Oktober vergangenen Jahres erschien in der Lokalpresse ein Artikel. Er wolle keine neue Munitions- und Sprengstofffabrik in Troisdorf. Die Produktion von Sprengmitteln mitten in der Stadt sei nicht mehr zeitgemäss. So wird Biber in dem Artikel wiedergegeben.

Damals diskutierte Deutschland über seine «Kriegsfähigkeit» und den Munitionsmangel. Überregionale Medien griffen die Aussage von Biber auf, das Thema schwappte nach Berlin. Bundestagsabgeordnete wie die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), empörten sich. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) musste sich im Parlament fragen lassen, ob ihm die Vorgänge in Troisdorf bekannt seien. Alexander Biber, der Bürgermeister, er gefährde die nationale Sicherheit Deutschlands. So klang es. Wenn man ihn besucht, dann wirkt er nicht, als beeindrucke ihn das.

Bibers Büro befindet sich im ehemaligen Hauptverwaltungsgebäude von Dynamit Nobel. Die Stadt kaufte es in den 1980er Jahren und nutzt es seitdem als Rathaus. Biber sitzt an einem ovalen Tisch, vor sich einen Tablet-Computer mit Tastatur, ein Mann in Turnschuhen und Jeans mit Sakko über dem blauen Hemd, der sich selbst widerspricht. Ja, er stehe zu seiner Aussage aus dem Herbst, sagt er. Aber, nein, so habe er das nicht gemeint: Die Fabrik von Diehl könne bleiben, er wolle die Firma nicht vertreiben, jedenfalls nicht jetzt. In zehn, vielleicht auch erst in zwanzig Jahren aber müsse Schluss sein. Die Stadt wolle das Gelände entwickeln.

Man muss an dieser Stelle noch einmal einen Schritt zurück machen, um zu verstehen, was sich in Troisdorf abspielt. Dynamit Nobel hatte das Grundstück sowohl Diehl als auch der Stadt angeboten. Es entbrannte ein Wettbewerb um die öffentliche Deutungshoheit. Die Firma erklärte, sie benötige das Gelände, um die Produktion erweitern zu können. Dafür erntete sie Zustimmung, vor allem überregional.

Reiner Populismus

Der Bürgermeister indes sah eine persönliche Chance. Der Streit um den Grundstücksverkauf gab ihm die Gelegenheit, sich als Kämpfer gegen eine Munitionsfabrik in der Stadt und für eine Umnutzung der Flächen als Areal für Gewerbe und Wohnungen zu gerieren. Reiner Populismus sei das. So sagen es Vertreter der städtischen SPD, obwohl sie in ihren Reihen viele Friedensbewegte haben. So sagen es CDU-Politiker in Berlin, obwohl Biber ihren Reihen entstammt. Und so denken sie bei Diehl, sagen es aber nicht öffentlich.

Stattdessen fragen sie in der Firmenzentrale in Überlingen, wie Biber darauf komme, dass Diehl in Troisdorf eine Munitions- und Sprengstofffabrik bauen wolle. Davon sei nie die Rede gewesen. So stand es ebenfalls in der Lokalpresse. Sie wollten das Gelände nur erwerben, weil ihre Produktionsgebäude sowohl auf eigenem als auch auf gepachtetem Grund stünden. Bei manchen Gebäuden liefen die Grenzen sogar mittig hindurch. Die Firma könne nur weiter existieren, wenn klar sei, dass nicht Dritte entschieden, wann ihr die Gebäude entzogen würden. Kurz gefasst: Diehl will das Gelände, um langfristig an dem Ort planen zu können.

Wenn man sich im Stadtrat von Troisdorf umhört, dann gibt es dort zwei Interpretationen des Streits um den Grundstücksverkauf. Die einen sagen, er nütze Diehl, weil die Firma etwas herstelle, was gerade die halbe Welt brauche. Die Sympathien gehörten ihr, sie stehe nach Jahrzehnten der Ablehnung von Rüstungsproduzenten in Deutschland endlich einmal auf der richtigen Seite. Die anderen sagen, der Streit nütze dem Bürgermeister, weil er sich im aufziehenden Wahlkampf als Kämpfer für die kommunalen Belange und für den Frieden darstellen könne. Dies helfe ihm möglicherweise, die eventuell verlorenen Stimmen von Bergheim zu kompensieren.

Biber jedenfalls hat getan, was ein cleverer Bürgermeister tun kann. Er hat eine Vorkaufssatzung für das Gelände von Dynamit Nobel erarbeitet und mit den Stimmen seiner CDU, der Grünen und der Linken durch den Stadtrat gebracht. Diese Möglichkeit gibt es in Deutschland, wenn eine Kommune für die städtebauliche Entwicklung den Verkauf von Grundstücken an Dritte verhindern will. Mit der Satzung können die Flächen nur noch mit Zustimmung der Stadt verkauft werden.

Einmischung aus Berlin unerbeten

Im Gespräch gibt sich der Bürgermeister arglos. Die Vorkaufssatzung sei keinesfalls als Votum gegen Diehl zu verstehen, sagt er. Im Übrigen verbitte er sich die Einmischung von Berliner Politikern in die Belange Troisdorfs, sie wüssten hier schon, was sie täten. Gewerbeflächen und Wohnraum seien knapp in der Region, als Bürgermeister müsse er in erster Linie an seine Stadt und ihre Zukunft denken. Aber «für einen Zeitraum x» sei er bereit, sich im Fall eines Grundstückserwerbs durch die Kommune mit Diehl auf einen Pachtvertrag zu verständigen. Er sehe schliesslich auch, was in der Welt passiere.

Es ist ziemlich verworren, was da in der deutschen Provinz passiert. Diehl erweckte geraume Zeit den Eindruck, als könne es die dringend erforderlichen Produktionssteigerungen nur erzielen, wenn es das gesamte Gelände erwirbt. Dann aber räumte das Unternehmen ein, es würde erst einmal reichen, die Zahl der Schichten in den bestehenden Produktionsstätten zu erhöhen, um den Ausstoss zu steigern.

Der Bürgermeister wiederum tut so, als könnte die Stadt auf einem seit dem 19. Jahrhundert verseuchten Gebiet so ohne weiteres Wohnungen bauen. Bis jetzt ist nicht einmal klar, welche Giftstoffe im Boden lagern. Vor allem aber scheint sich Biber nicht zu schade zu sein, die Ängste der Bürger zu schüren. Er könne schon verstehen, sagt er, dass die Menschen Sorge hätten, dass Troisdorf «wieder etwas passiert wie im Zweiten Weltkrieg».

Russische Bomben auf Troisdorf?

Russische Bomben auf die Stadt, weil sich dort eine Fabrik für Zündkapseln befindet? Damit kann man in Deutschland vermutlich tatsächlich Politik machen. Man hätte es nur nicht von einem Vertreter der Partei erwartet, die für eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine plädiert. Biber erwidert darauf, Bürgermeister sei kein CDU-Parteiamt. Ihn hätten die Bürger Troisdorfs gewählt.

Diehl indes argumentiert, eine Produktion wie diese könne man nicht so ohne weiteres an einen anderen Ort verlagern. Man wolle die Firma absichern, um die eigenen Produkte für die Sicherheit von Deutschland und der Nato weiter im geforderten Umfang liefern zu können.

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