Sonntag, Januar 12

Mit seiner Suite «Die Planeten» wurde Gustav Holst zum Vater der Science-Fiction-Musik. Aber der kosmopolitische Brite begeisterte sich auch schon früh für die Kultur Indiens und distanzierte sich vorsichtig vom Kolonialismus.

Im vergangenen Herbst beging die Musikwelt postum die runden Geburtstage von Anton Bruckner und Arnold Schönberg. Um einen dritten Komponisten, der wie Schönberg im September seinen 150. Geburtstag gefeiert hätte, blieb es dagegen irritierend still. Dabei dürfte fast jeder zumindest den charakteristischen Tonfall seiner Musik im Ohr haben, auch wenn ihm der Name des Briten Gustav Holst (1874–1934) nicht geläufig sein sollte. Denn Holst schrieb mit seiner Orchestersuite «Die Planeten» eine der stilprägenden und meistzitierten Vorlagen für die europäische Filmmusik, insbesondere zu Science-Fiction-Stoffen. Namentlich Holsts tönende Darstellungen des kriegerischen Mars und des impulsiven Jupiter haben beispielsweise in der «Star Wars»-Musik von John Williams hörbar Spuren hinterlassen, aber auch in vielen anderen Soundtracks, etwa in Howard Shores Partituren zu «Der Herr der Ringe».

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Holst, baltisch-deutscher und skandinavisch-englischer Abkunft, arbeitete an den «Planeten» mitten im Ersten Weltkrieg. Sie sind unter anderem durch die «Fünf Orchesterstücke» Schönbergs inspiriert, auch wenn Holsts Altersgenosse stilistisch deutlich gewagtere Pfade beschritt. Fast zur selben Zeit komponierte Richard Strauss im fernen Garmisch seine «Alpensinfonie», die er 1915 in Dresden zur Uraufführung brachte. Holst begab sich musikalisch in noch höhere Höhen, bis an die Grenzen des seinerzeit bekannten Universums.

Mit allen orchestralen Mitteln wollte Holst die philosophische Vorstellung einer Sphärenmusik der Gestirne in Klang verwandeln. Im «Jupiter»-Satz der Suite wuchs er seinerseits über sich hinaus. Nichts in seinem bisherigen Schaffen hatte diese Hymne auf das Erhabene vorbereitet; nichts danach gelang ihm in einer vergleichbar markanten Weise. Ausserhalb Grossbritanniens – und selbst dort – wird Holsts Schaffen deshalb heute zumeist auf «The Planets» reduziert. Leider blendet diese Verengung die kulturgeschichtlich überraschenden Aspekte seines Werkes aus.

Holst: The Planets, 'Mars' - BBC Proms

England, Japan, Indien

Begonnen hatte Holst mit einer ganz anderen Form von Tonmalerei. Nach 1900 hielten die englischen Landschaften patriotisch Einzug in die rhapsodischen Musikwelten vieler britischer Komponisten. Ihr Pionier war Holst mit seiner Sinfonie «The Cotswolds» von 1900. Ihm folgten unter anderem Ethel Smyth, deren Schaffen derzeit vielerorts wiederentdeckt wird, mit «On the Cliffs of Cornwall» (1904); ferner Ralph Vaughan Williams mit seinen «Norfolk Rhapsodies» (1905/06) und Ivor Gurney mit «A Gloucestershire Rhapsody» (1919–1921). Noch in Edward Elgars elegischem Cellokonzert von 1919 kann man die Atmosphäre von dessen heimischen Malvern Hills nachklingen hören.

Aber nur Holst versuchte, die musikalische Landschaftsmalerei auch in andere geografische Sphären zu transzendieren. So etwa in seiner «Japanese Suite», einem Werk von subtiler Verhaltenheit, typisch für viele seiner Kompositionen, wenn er sich nicht gerade aufgerufen sah, für Militärkapellen zu schreiben. Der «Japonisme», der spätestens mit Puccinis «Madama Butterfly» von 1904 auf den Opernbühnen heimisch geworden war, hätte Holsts Domäne bleiben können. Aber er entwickelte schon früh eine Vorliebe für eine noch ausgefallenere Sphäre: für die indische Welt.

Bereits in seiner während eines Aufenthalts in Berlin vollendeten Tondichtung «Indra» von 1903 griff er in die Welt der Hindu-Mythen aus. Indra, der Regen- und Sturmgott, mit dem Drachen Vritra ringend, der für Dürre sorgt und Indra am Regnen hindern will; doch Vritra unterliegt, und der Regen darf strömen wie im «Regenlied» von Johannes Brahms. Holst dürfte der einzige westeuropäische Komponist seiner Zeit gewesen sein, der des Sanskrits mächtig war. Angeregt wurde er zu seinen Studien unter anderem von Friedrich Max Müllers Sammlung religiöser Schriften «The Sacred Books of the East».

In der Musik hatte Holst immerhin einen prominenten Vorläufer: Schon Richard Wagner trug sich zeitweilig mit dem Gedanken, eine «indische Oper» zu schreiben. «Die Sieger» hätte sie heissen sollen. Der junge Holst, zunächst von Wagners Musikwelt eingenommen, hat von diesem nie realisierten Plan wahrscheinlich nichts gewusst. Aber die Mythen der Welt zu musikalisieren, das war gleichsam der Auftrag, den er aus seiner Auseinandersetzung mit Wagner ableitete.

Er hat dem auch in anderen, ungewöhnlich vielfältigen kulturellen Kontexten Tribut gezollt: der antiken Welt etwa in der «Klage der Hekuba» und den sieben Chorstücken aus Euripides’ «Alkestis»; der skandinavischen schon 1898 mit «Örnulfs Drapa» nach einem Text von Henrik Ibsen. Zur wichtigsten künstlerischen Frucht seiner Indien-Begeisterung wurde die Arbeit an einer Oper mit dem Titel «Sita», die er 1899 begann und 1906 zum Abschluss brachte.

Eine Oper für unsere Zeit

Holst komponierte «Sita» nach einem Libretto, das er, dem Vorbild Wagners folgend, selbst verfasst hatte. Er reichte das vollendete Stück für den Ricordi-Wettbewerb ein, der nicht nur mit einem beträchtlichen Preisgeld lockte, sondern auch mit der Erstaufführung am Londoner Royal Opera House Covent Garden. «Sita» wurde allerdings lediglich der nicht dotierte zweite Preis zuerkannt, angeblich, weil einem der Juroren, dem Komponisten Charles Villiers Stanford, gewisse Passagen für Stimmen in parallelen Quarten missfallen hatten. Enttäuscht liess Holst seine Oper daraufhin in der Versenkung verschwinden.

Aus den Tiefen der British Library tauchte «Sita» erst im vergangenen Oktober wieder auf, und zwar am Saarländischen Staatstheater. Unter dem Dirigat von Stefan Neubert und in einer Inszenierung von Jakob Peters-Messer kam es in Saarbrücken zur verspäteten Uraufführung. Sie wurde zum Ereignis: wegen der Qualitäten der Musik, aber gleichermassen auch dank den überragenden Interpreten, allen voran Lea-Ann Dunbar in der Titelrolle und Peter Schöne als ihr Gefährte Rama sowie Clara-Sophie Bertram als Mutter Erde und Markus Jaursch als das Prinzip des Bösen namens Ravana.

Trotz oder vielleicht gerade wegen der Verspätung um mehr als ein Jahrhundert erweist sich «Sita» in Holsts musikdramatischer Interpretation als eine ökologisch-emanzipatorische Oper für unsere Zeit. Als solche präsentierte sie jedenfalls die Saarbrücker Aufführung, und sie tat gut daran. Holsts Lesart des «Ramayana»-Mythos des nordindischen Dichters Valmiki geht nämlich vom Bild einer erschöpften Erde aus, die von einem zerstörerisch veranlagten Autokraten beinahe zugrunde gerichtet wird.

Eine neue Bewusstheit für den Wert des Natürlichen verkörpert sich dagegen in Sita, einer Tochter der Mutter Erde, ebenso wie in ihrem Gefährten Rama, einer Reinkarnation des göttlichen Vishnu. Von Rama fordert Sita nur eines: dass er ihr unbedingt vertraue und nie an ihr zweifle. In Sitas Sonnengesang, einem der vielen musikalischen Höhepunkte dieser Oper, manifestiert sich der Glaube an das aufsteigende Licht als Lebensspender, verkörpert durch das Prinzip des Weiblichen, das in diesem Werk das erste und das letzte Wort hat. Auch als sie ins Reich der Zerstörer entführt wird, bleibt Sita unkorrumpierbar und dem Prinzip natürlichen Lebens verschrieben.

Auch wenn Rama für Momente ihre Integrität doch in Zweifel zieht – was dazu führt, dass aus den beiden kein Paar werden kann –, feiert diese Oper letztlich die Selbstbestimmung der Frau und die Möglichkeit, totalitäre Anmassungen Einzelner aus Sorge um die Entfaltung des Lebens ins Leere laufen zu lassen.

Die eindrucksvollen Bühnenbilder der Uraufführung zeigen eine vergiftete Natur, aber auch den Willen zu einem entgiftenden Lichten der sinistren Verhältnisse, die über unserer Erde walten – die gelungene Saarbrücker Inszenierung muss diese Gegenwartsbezüge nicht überstrapazieren. Diese Motive in Holsts Oper liegen auf der Hand, und zwar buchstäblich: Es ist die symbolische grosse Hand des «Lebenserhalters» Vishnu, die ein zentrales Requisit darstellt. Sie erhält eine mechanische Entsprechung in Gestalt einer riesigen Abräumschaufel, die den Müllbergen zu Leibe rückt.

Kritik am Kolonialismus

Musikalisch und motivisch ist Wagners Präsenz in dieser Oper unabweisbar. Das Frageverbot aus «Lohengrin» etwa ist mit dem Verbot des Zweifelns verwandt. Ramas Naivität erinnert an Siegfried, Wagners «reinen Toren». Und die im Müll wühlenden Rakshasas, die dämonischen Dunkelmänner, gleichen den Nibelungen. Die Schlussphase des dritten Aktes von «Sita» evoziert die Stimmung am Ende des «Parsifal», nur eben, dass hier ein Frauenchor die Apotheose lichten Lebens beschwört. Holst zitiert zudem Takte aus dem «Walkürenritt», den er jedoch um Rosse und Reiterinnen gebracht hat.

Damit ist der zeittypischen Wagner-Nachahmung freilich auch Genüge getan. Und man glaubt Holst durchaus, wenn er später bekundete, dass er diese seine «wagnernde» Oper gerade deshalb geschrieben habe, um von Wagner loszukommen. 1923 wird Holst die Komödie «The Perfect Fool» komponieren, eine Nachkriegs-Persiflage mit Material von Debussy, Verdi und abermals Zitaten aus Wagners «Parsifal». Doch sie klingt, als habe er der Operntradition eine Nase drehen wollen.

Mit musikalisch Eigenem kann Holst indes auch schon in der frühen «Sita» aufwarten, und zwar reichlich. Dazu gehören die wirkungsvolle Orchestrierung, die avancierte Rhythmik mit unregelmässigen Taktarten oder auch seine Behandlung des Chores, die deutlich hörbar in der englischen Chortradition steht. Dramaturgisch überzeugend wirkt nicht zuletzt Holsts Interpretation der Rolle der Sita, die deren selbstbestimmtes Handeln betont.

Daraus ergibt sich noch ein Aspekt, vielleicht ist es aus heutiger Perspektive der inhaltlich aufregendste: Holst, der einem humanistischen Sozialismus anging und in der «Socialist Society» des Londoner Stadtteils Hammersmith aktiv war, hat mit «Sita» eine Oper geschaffen, die mehr oder weniger offen den Kolonialismus zum Thema macht, lange bevor Kritik daran opportun war. So verbünden sich Sita und Rama womöglich gerade deswegen gegen das Reich des Bösen, weil Holst darin ein Sinnbild für den Kolonialismus des viktorianisch-edwardianischen Zeitalters erkannt haben könnte. Dazu passt wiederum, dass Mahatma Gandhi, der geistige und politische Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, in der ursprünglichen Sita-Figur des Dichters Valmiki ein Ideal erblickte.

Rüdiger Görner ist Professor em. für neuere deutsche Literatur mit vergleichender Literatur- und Kulturwissenschaft in London. Jüngst erschien seine Biografie «Bruckner. Der Anarch in der Musik».

Exit mobile version