Sonntag, September 29

Eines der ärmsten Länder Südamerikas wird bald so viel Öl fördern wie Katar. Das ist nicht nur ein Segen für die seit Kolonialzeiten gespaltene Gesellschaft.

Irgendwann, sagt der Journalist Glenn Lall, irgendwann habe er gespürt, dass auch seine schönsten Leitartikel die Menschen nicht erreichen würden. «Ich muss zu den Menschen in ihrer Sprache sprechen», sagt der Chefredaktor der «Kaieteur News». «Nur dann verstehen sie, welche Verbrechen hier geschehen.»

Lall empfängt in seinem abgedunkelten Büro im Redaktionsgebäude im Hafenviertel von Georgetown, der Hauptstadt Guyanas. Vor seinem Schreibtisch ist eine Hängematte aufgespannt. Seine Bar ist gut bestückt. Lall trägt ein buntes karibisches Hemd, funkelnde Diamantringe und schwere Goldketten.

Lange hält es ihn nicht im Sessel. Die Koi-Karpfen im plätschernden Aquarium zucken erschrocken zusammen, als er wütend aufspringt und schimpft: «Mein Land ist in der Hand von professionellen Wegelagerern!»

Lall besitzt eine von zwei privaten Zeitungen im Karibikstaat Guyana und betreibt auch einen Radiosender. Auf einem populären Youtube-Kanal tritt der 61-Jährige seit einiger Zeit sehr erfolgreich auf. Lall wettert in seinen Sendungen wortgewaltig wie ein Prediger in der Kirche. Sein Vater sei Hindu, seine Mutter Muslimin. Er selbst sei Christ. Ziel seiner Attacken ist meist der Ölkonzern ExxonMobil.

Was ExxonMobil mache, sei legalisierter Diebstahl

Der ist vor fünf Jahren vor der Karibikküste auf Öl gestossen. Guyana ist auf dem Weg, eine neue Ölmacht zu werden. In drei Jahren wird das Land täglich 1,3 Millionen Barrel Öl exportieren. So viel wie Katar heute. Legalisierter Diebstahl sei das, was der amerikanische Konzern mache, sagt Lall.

ExxonMobil betreibt 150 Kilometer vor der Küste Guyanas Ölplattformen. Im Dezember 2019 hat der Konzern mit der Ölförderung begonnen. Von den Öleinnahmen fliesst noch nicht viel in den Staatshaushalt Guyanas. Der Konzern konnte mit der Regierung vereinbaren, dass er zunächst seine hohen Investitionen zurückgewinnen darf. Auch danach wird Guyana von ExxonMobil weniger Steuern und Abgaben verlangen als in der lateinamerikanischen Offshore-Ölindustrie üblich.

«Die haben die lokalen Politiker und die Opposition in der Tasche», so Lall überzeugt. Das sage er auch in seinen Sendungen – und nichts passiere. Immerhin gebe es in Guyana Pressefreiheit, sagt er. Inzwischen hat Lall auch seinen Hut in den Ring geworfen für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2025. Er will kandidieren.

Auf dem weltweiten Ranking der Korruption von Transparency International rangiert Guyana im Mittelfeld auf Platz 87 von 180 Staaten. Doch Lall ärgert sich weniger über die Korruption: «Gier und Selbstbereicherung liegen in unserer DNA.» Was ihn wütend mache, sei, dass sich die Regierung so billig an den amerikanischen Konzern verkauft habe. «Die haben sich mit Peanuts abspeisen lassen», meint er.

Der Medienunternehmer gibt aber auch unumwunden zu, dass der neue Ölreichtum für ihn journalistisch ein Segen sei. «Früher hatten wir alle fünf Jahre einen Skandal», sagt er. «Heute haben wir jede Woche eine Story.» Ein Reporter kommt auf Inlineskates in Lalls Büro gefahren. Er flüstert dem Chefredaktor etwas ins Ohr. Lall beendet das Gespräch abrupt und eilt in die Redaktion.

In der Druckerei dahinter staut sich am frühen Abend noch die Mittagshitze. Die Drucker warten auf den Andruck. Sechs Dieselgeneratoren stehen bereit, damit die alten Druckmaschinen bei Stromausfall nicht stehenbleiben. Schulbücher lässt die Regierung nicht mehr hier, sondern im nahen Ausland drucken. «Politische Schikane», vermutet ein Journalist.

Einmal pro Woche erscheint in New York eine Printausgabe der «Kaieteur News» für die grosse Emigrantengemeinde Guyanas. Heute gibt es mehr Guyaner im Ausland als im Karibikstaat selbst. Knapp 800 000 Menschen leben noch im Land, das fünfmal so gross ist wie die Schweiz.

Die Uni-Absolventen wandern aus

Für den Wirtschaftsprofessor Thomas Singh geht mit der Auswanderung auch politisches und soziales Kapital verloren. «Deshalb leiden wir unter einem zivilisatorischen Defizit», so Singh überzeugt. Er ist Dekan für Wirtschaftswissenschaften an der staatlichen Universität von Guyana. Der Campus ist vor Jahrzehnten gebaut worden. Die grossen leeren Flächen und die etwas heruntergekommenen Gebäude deuten darauf hin, dass seitdem wenig investiert wurde. «Die Gesellschaft legt keinen Wert mehr auf Wissenschaft», sagt er resigniert. Kaum einer seiner Studenten bleibe nach dem Abschluss im Land.

Gut möglich, dass sich das mit dem Ölreichtum ändert. Denn der Ölboom lässt die Wirtschaft rasant wachsen: Seit 2020 hat sich das Bruttoinlandprodukt Guayanas verdreifacht. Ende dieses Jahres könnte das Pro-Kopf-Einkommen der Einwohner des Karibikstaates kaufkraftbereinigt dasjenige der USA überholen. Brasilianer, Venezolaner, Chinesen, Kubaner strömen ins Land und konkurrieren um Arbeitsplätze.

Es herrscht Goldgräberstimmung in Georgetown. Die Hotels sind meist ausgebucht – trotz den hohen Preisen bei bescheidenem Standard. Viele Exil-Guyaner leben hier temporär. Mit Fremden sprechen sie mit breitem nordamerikanischem Akzent. Untereinander aber reden sie kreolisches Englisch. «Sie suchen nach Geschäftsmöglichkeiten», sagt Singh. «Aber sie denken nicht daran, zurückzukehren.»

Vom neuen Reichtum ist in Guyana noch nicht viel zu sehen: Zwar entstehen überall Wohnsiedlungen, Hotels und Bürokomplexe. Doch die Hauptstadt wirkt wie eine verschlafene, etwas heruntergekommene Karibikstadt. Aus der einstigen «Garden City», wie sie nach der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht 1966 noch hiess, sei eine «Garbage City» geworden, lästern die Einheimischen.

Überall stapelt sich der Müll. Die vielen Kanäle der Stadt sind Kloaken. Wenn es regnet, steht das Wasser schnell kniehoch. Die Holzhäuser aus der Kolonialzeit stehen erhöht. Die Neubauten nicht. Manchmal ziehen Kuhherden gemächlich durch die Strassen. Zwischen luxuriösen Geländewagen transportieren Pferdekarren Lasten. Gewaltkriminalität ist verbreitet, die Mordrate eine der höchsten in Südamerika.

Öffentliche Verkehrsmittel gibt es kaum. Private Kleinbusse schlängeln sich hupend durch den Verkehr. In den Stosszeiten sind die Strassen verstopft. Mit dem neuen Reichtum ist die Zahl der Autos rasant gestiegen. Die Stadt mit ihren quadratischen Strassen aus der Kolonialzeit ist der Blechlawine nicht gewachsen.

Cricket statt Fussball – das Erbe der britischen Kolonialmacht

Ein eigentümliches kulturelles Gemisch prägt das Stadtbild. Mit dem hispanischen Südamerika hat es wenig zu tun: Neben Linksverkehr und uniformierten Verkehrspolizistinnen mit weissen Handschuhen haben die Briten vor allem institutionell ihre Spuren hinterlassen. Der High Court ist in einem Holzgebäude untergebracht. Es gibt einen Premierminister – der aber nicht viel zu sagen hat. Direkt an der Strandpromenade liegt der Everest Cricket Club. Hier trainiert die Nationalmannschaft, die Guyana Amazon Warriors. Das Queen’s College ist die beste staatliche Schule. Die gedruckten Tageszeitungen haben Leserbriefspalten, die mit «Dear Sir» beginnen.

Aber auch die Curry-Shops, Hindu-Tempel und Moscheen zeigen, wie die britische Kolonialmacht die Gesellschaft ethnisch geprägt hat. Als Grossbritannien die Kolonie 1814 per Vertrag von den Niederlanden übernahm, bestand die Bevölkerung vor allem aus versklavten Afrikanern auf den Zuckerrohrplantagen. Nach der Abschaffung der Sklaverei 1834 holten die Engländer Vertragsarbeiter aus Indien ins damalige Britisch-Guayana.

Die Kolonialmacht spielte die beiden Ethnien gegeneinander aus. Die Konflikte zwischen Afro-Guyanern und Indo-Guyanern bestimmen bis heute die Politik. Der Ölreichtum hat daran nichts geändert, im Gegenteil. Die afrikanischstämmigen Guyaner fühlen sich benachteiligt. Sie sind im Durchschnitt ärmer und schlechter ausgebildet als die Indo-Guyaner. Dadurch können sie die Chancen, welche der Ölboom bietet, weniger nutzen. «Guyana ist eine tickende soziale Zeitbombe», sagt ein Diplomat, der anonym bleiben möchte.

Irfaan Ali, den 44-jährigen indischstämmigen Präsidenten, hätte bis vor kurzem kaum jemand auf einem Gruppenfoto der Präsidenten Lateinamerikas erkannt. Doch der einzige Muslim an der Spitze eines südamerikanischen Staates erlebt gerade anschaulich, was 15 Milliarden Barrel Ölreserven in der Geopolitik für einen Unterschied machen. Im vergangenen Jahr besuchte der amerikanische Aussenminister Antony Blinken Georgetown. Chinas Machthaber Xi Jinping lud Ali nach China ein und warb für eine Partnerschaft «auf Augenhöhe».

In der Politik wird in Georgetown entlang ethnischer Grenzen erbittert um die Hoheit über den Ölreichtum gekämpft, noch bevor er richtig in die Kassen sprudelt: Alis Vorgänger vom People’s National Congress der Afro-Guyaner wollte vor vier Jahren nach verlorenen Wahlen nicht zurücktreten. Doch dann kehrte Ali mit seiner von Indo-Guyanern dominierten People’s Progressive Party an die Regierung zurück.

Es sieht nicht so aus, als wolle er die Macht wieder abgeben. Niemand verkörpert diesen Machtanspruch deutlicher als der Vizepräsident Bharrat Jagdeo. Der frühere Präsident hat in Moskau studiert. Man sagt, er habe die wahre Macht im Land. Seine Pressekonferenz jeweils am Donnerstag ist das wichtigste politische Ereignis der Woche. Hier kritisiert, lobt und beschimpft Jagdeo, wie es ihm gerade passt. Ein smarter Tropenpopulist.

Privat kommen die beiden Ethnien eigentlich gut miteinander aus, versichert fast jeder im Gespräch. Nur in Wahlkampfzeiten kommt es immer wieder zu Konflikten. Und die werden schnell brutal und blutig. Nächstes Jahr stehen wieder Wahlen an. Vieles spricht dafür, dass sie nicht friedlich verlaufen werden.

«Die Menschen bekommen nichts vom Ölreichtum ab und sind unzufrieden», sagt Anand Persaud, Chefredaktor der «Stabroek News», der anderen führenden privaten Zeitung und laut Eigenwerbung «Guyana’s Most Trusted Newspaper». Die Zeitung verfügt über ein landesweites Korrespondentennetz und berichtet detailliert und glaubwürdig über die schlechte Stimmung in allen Landesteilen wegen steigender Preise und Mängeln in der Infrastruktur. Die Berichterstattung ist der Regierung ein Dorn im Auge. Der Vizepräsident attackiert die «Stabroek News» regelmässig auf seiner wöchentlichen Pressekonferenz.

Gewählt wird nach ethnischer Zugehörigkeit

Persaud ist so ziemlich das Gegenteil des predigenden Chefredaktors Lall vom Konkurrenzblatt. Der indischstämmige Intellektuelle verschwindet fast hinter seinem mit Bergen von Dokumenten überladenen Schreibtisch und spricht eineinhalb Stunden lang konzentriert und in hohem Tempo über die Politik des Landes. «Egal, wie schlecht die Regierung ist», sagt er, «am Wahltag ist alles vergessen, und jeder wählt nach seiner ethnischen Zugehörigkeit.»

Das oberste Ziel der Regierung Ali sei der Machterhalt. «Ali will in die Geschichte eingehen als derjenige, der den Menschen den Wohlstand gebracht hat», sagt Persaud. Um die Wahlen zu gewinnen, müsse jede Partei aber über die eigene Ethnie hinaus Verbündete gewinnen, sagt Persaud. «One country» lautet der immer wieder beschworene politische Slogan der Regierung. In Alis Kabinett sitzen auch Afro-Guyaner. «Quoten-Schwarze» seien sie, grollen afro-guyanische Politiker.

Es deutet alles darauf hin, dass der Ölreichtum die Gräben zwischen den Ethnien in Guyana noch vertiefen wird. Früher nutzten die Briten die ethnische Spaltung zum Regieren, sagt Persaud. Heute profitierten Konzerne wie ExxonMobil davon. In Guyana hört man oft ein Sprichwort: «When two brothers fight, the stranger eats the dinner» – wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.

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