Mittwoch, Oktober 9

Teheran hat die «Achse des Widerstands» aufgebaut, um Israel unter Druck zu setzen. Zugleich dient die Allianz Iran als Versicherung gegen Angriffe auf das eigene Land. Diese Versicherung scheint aber immer weniger zu wirken.

Israels Angriffe in Damaskus und Teheran haben Irans Strategie in der Region erschüttert. Erst wurden am 1. April bei einem Raketenangriff auf das iranische Konsulat in Syriens Hauptstadt der hochrangige General Mohammed Reza Zahedi und andere Offiziere der Revolutionswächter getötet. Dann traf es in der Nacht zum 31. Juli den Hamas-Chef Ismail Haniya im Gästehaus des Präsidenten in Teheran. Israels Regierung hat sich zwar nicht zu den Angriffen bekannt, doch spricht alles dafür, dass sie dafür verantwortlich ist.

Schon der Angriff auf das Konsulat hatte die Iraner aufgeschreckt. Er zeigte, dass Israel in seinem langjährigen Schattenkrieg in Syrien nicht einmal mehr vor einer diplomatischen Einrichtung zurückschreckt. Das Regime in Teheran, das über Jahre schweigend die israelischen Luftangriffe auf seine Stützpunkte, Konvois und Kommandanten in Syrien hingenommen hatte, antwortete zwei Wochen später mit einem beispiellosen Raketen- und Drohnenangriff auf Israel.

Zum ersten Mal in der Geschichte der beiden Staaten griff Iran direkt Israel an. Zwar konnte Israel den Grossteil der Drohnen, Raketen und Marschflugkörper mithilfe westlicher und arabischer Verbündeter abfangen, doch feierte Iran den Angriff als Erfolg. Es drohte, künftig alle Angriffe Israels in gleicher Weise zu vergelten. Die Tötung von Haniya nur dreieinhalb Monate später lässt jedoch nicht nur Zweifel aufkommen, dass Iran die Abschreckung wiederhergestellt hat. Sie wirft auch die Frage auf, ob Irans bisherige Regionalstrategie noch wirkt.

Aus dem Krieg mit Saddam hat Iran zwei Lehren gezogen

Das Regime hat über Jahrzehnte ein Netzwerk aus Milizen im Nahen Osten aufgebaut. Diese «Achse des Widerstands», der neben dem Asad-Regime der libanesische Hizbullah, die palästinensische Hamas, die Huthi in Jemen und schiitische Milizen wie Kataib Hizbullah im Irak angehören, richtet sich explizit gegen Israel und den Westen. Sie dient der Machtprojektion im Nahen Osten. Zugleich soll sie aber auch Iran vor einem Angriff auf das eigene Land schützen, wie es das Regime Anfang der achtziger Jahre erlebt hatte.

Nach der iranischen Revolution 1979 war Iran fast völlig isoliert. Die arabischen Golfmonarchien betrachteten das schiitische Regime in Teheran mit Misstrauen. Irans Politik des Exports der Revolution sahen sie als direkte Bedrohung ihrer Macht. Als 1980 Saddam Hussein Iran überfiel, unterstützten sie daher den irakischen Diktator mit Geld und Waffen. Einzig das Baath-Regime in Damaskus stand in dem achtjährigen, verlustreichen Krieg an der Seite Teherans.

Über weite Strecken wurde der Krieg auf iranischem Boden ausgetragen und liess die Grenzprovinz Khuzistan und viele iranische Städte verwüstet zurück. Iran zog daraus den Schluss, dass es mehr Verbündete in der Region braucht und seine Abschreckung stärken muss. Sein Ziel ist es seither, dass Konflikte jenseits der eigenen Grenzen ausgetragen werden. Dafür hat es mit viel Geduld und Geld ein Netzwerk aus Verbündeten aufgebaut – die «Achse des Widerstands».

Die «Achse des Widerstands» soll auch Iran schützen

Der Kampf gegen Israel dient der Allianz als ideologischer Kitt. Iran hat sich seit der Revolution 1979 den Kampf gegen das «zionistische Regime» auf die Fahne geschrieben. Während viele arabische Staaten das Interesse am ewigen und unlösbaren Nahostkonflikt verloren haben, gerieren sich die Ayatollahs in Teheran weiter als standhafte Fürsprecher und Verteidiger der palästinensischen Sache. Diese Politik ist teils religiös bedingt, teils erklärt sie sich aus dem antiimperialistischen Selbstverständnis des Regimes.

Gemäss der Ideologie des Regimes ist Israel ein kolonialer Siedlerstaat auf palästinensischem Land und ein Vorposten des Westens in der islamischen Welt. Die Unterstützung der Palästinenser ist aber nicht nur ideologisch motiviert, sondern folgt auch einem politischen Kalkül. Denn die Hilfe für die Palästinenser erlaubt es dem persisch-schiitischen Staat, seine Legitimität unter der mehrheitlich arabisch-sunnitischen Bevölkerung in der Nachbarschaft zu stärken.

Irans wichtigster Verbündeter in der Levante ist die libanesische Hizbullah-Miliz, welche die Revolutionswächter mit 130 000 Raketen ausgerüstet haben. Sie wirkt als verlängerter Arm Irans im Kampf gegen Israel, aber zugleich auch als Versicherung gegen einen Angriff Israels oder des Westens auf das eigene Land. Solange den Israeli aus Südlibanon Tod und Zerstörung drohten, werde die Regierung in Jerusalem es nicht wagen, Teheran zu attackieren, so die iranische Logik.

Irans Strategie der Abschreckung wirkt nicht mehr

Der Angriff auf das Konsulat in Damaskus und die Tötung Haniyas in Teheran haben diese Logik aber infrage gestellt. Für das Regime war es eine Demütigung, dass es seinen Verbündeten nicht schützen konnte. Der Hamas-Chef weilte als offizieller Staatsgast im Gästehaus des Präsidenten. Nur Stunden vor seinem Tod war er bei der Vereidigung des iranischen Präsidenten Masud Pezeshkian im Parlament gewesen und vom Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei empfangen worden.

Fürchtet Israel die iranischen Raketen nicht mehr? Hat die «Achse des Widerstands» ihren Schrecken verloren? Dieser Schluss lässt sich aus der Tötung Haniyas ziehen. Nur Stunden zuvor hatte Israel bereits Fuad Shukr, einen Mitbegründer des Hizbullah, in Beirut getötet. Einen Vergeltungsangriff schien Israel dabei in Kauf zu nehmen. Offenbar geht es davon aus, dass das Schadenspotenzial Irans und des Hizbullah begrenzt ist und sie keinen Grossangriff wagen werden.

Diese Einschätzung dürfte auch darauf beruhen, dass der Hizbullah und Iran seit dem Beginn des Gazakriegs infolge des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober bemüht scheinen, eine komplette Eskalation des Konflikts zu vermeiden. Statt die Chance zu nutzen, eine Grossoffensive auf den jüdischen Staat zu starten, schickte Iran nur seine Verbündeten vor. Der Hizbullah feuert zwar seither Raketen und Drohnen auf Israel ab, doch hat er dabei bestimmte Grenzen nicht überschritten.

Iran wirkt heute verletzlich

Iran muss sich nun fragen, ob seine relative Zurückhaltung Israel nicht ermutigt hat. Seine Raketen in Südlibanon haben nicht verhindert, dass Israel das iranische Konsulat in Damaskus zerstört hat. Und der iranische Raketenangriff auf Israel hat es nicht davon abgeschreckt, mit Haniya einen von Irans wichtigsten Verbündeten mitten in Teheran zu töten. Was kommt als Nächstes? Der von Israel schon lange angedrohte Militärschlag gegen die iranischen Atomanlagen?

Manche Experten sehen in den jüngsten Angriffen in Damaskus und Teheran einen Versuch von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, die USA in einen grossen Krieg mit Iran zu ziehen, um der Bedrohung durch den Erzfeind ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Für einen grossen Krieg ist Iran nicht gerüstet – erst recht, wenn die USA Israel zur Seite springen. Irans Flugabwehr ist höchst löchrig, und seine Luftwaffe ist wegen des Waffenembargos des Westens total veraltet.

Für Teheran wäre ein Krieg im eigenen Land das, was es seit dem Iran-Irak-Krieg immer zu vermeiden gesucht hat. Was also tun? Eine erste Option ist es, Israels Angriffe schweigend hinzunehmen und die Alliierten weiter aufzurüsten. Eine zweite Option besteht darin, einen harten, aber kontrollierten Vergeltungsschlag auszuführen in der Hoffnung, damit die Abschreckung wiederherzustellen, ohne aber einen grösseren Krieg auszulösen, der die USA hineinzieht.

Allerdings gibt es auch noch eine dritte Option. Schon nach dem Angriff auf das Konsulat in Damaskus wurde in Regimekreisen diskutiert, ob Iran nicht eine Atombombe zur Abschreckung brauche. Die Diskussion wurde zwar von der Führung nach wenigen Tagen beendet, und die offizielle Position bekräftigt, dass Iran nicht nach Atomwaffen strebe. Die Diskussion war aber ein Eingeständnis, dass die bisherige Regionalstrategie nicht mehr zur Abschreckung reicht. Und sie zeigte, dass Israel vorsichtig sein muss, wenn es mit seinen Angriffen nicht riskieren will, dass Teheran zur ultimativen Waffe greift.

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