Montag, September 30

Die Gemeinde zwischen Zürich und Baden hat einen miserablen Ruf. Hat sie das verdient? Ein Besuch zum 900. Geburtstag.

«Hey, scheisse, Mann. Ich bi vo Spreitebach, Mann.» So klingt Spreitenbach, zumindest für alle, die nicht dort wohnen.

An Spreitenbach entladen sich all die Klischees, die es in der Schweiz über Agglos und Ausländer gibt. Spreitenbach-Witze gehören zum Programm jedes Schweizer Durchschnittskomikers: Die Figur J. K. des Kabarett-Duos Divertimento stammt aus Spreitenbach, trägt die Hosen tief, spricht im übertriebenen Secondo-Slang, rappt und ist arbeitslos.

Spreitenbach ist ein Dorf im Limmattal im Kanton Aargau und war eine der ersten Agglo-Gemeinden der Schweiz. Die ersten Hochhäuser wurden dort gebaut, das erste Einkaufszentrum, die erste Ikea ausserhalb Skandinaviens. Heute hat das Dorf 12 000 Einwohner und einen Ausländeranteil von 53 Prozent. Blocksiedlungen prägen das Dorfbild, sie gelten als hässlich und anonym.

In Spreitenbach geschieht im Kleinen das, was das ganze Schweizer Mittelland umtreibt: Zuwanderung, Zersiedelung, Verfremdung unter den Einwohnern, Entfremdung vom Wohnort.

Diese Probleme sind in Spreitenbach besonders spürbar. Das Limmattal gehört zu den am stärksten wachsenden Regionen Europas. Spreitenbachs Bevölkerung wächst, das Zentrum mit den Hochhäusern wird zur Stadt.

Doch die Einwohner im alten Dorfkern wollen ihr Zuhause bewahren.

Was denken die Leute, die dort leben? Ist Spreitenbach Heimat? Oder bloss ein Ort, wo die Menschen wohnen, bis sie sich etwas Besseres leisten können?

Treffpunkt «Shoppi Tivoli»

Es ist ein Mittwochabend im August, Sommerferienzeit, das Shoppingcenter Shoppi Tivoli ist der belebteste Ort Spreitenbachs.

Junge Männer sitzen auf Massagestühlen und gamen auf ihren Handys. Familien schlurfen mit dem Migros-Wägeli voll Lebensmittel durch die Ladenpassage. Eine alte Frau sitzt im McCafé und liest Zeitung. Jugendliche düsen vor einem Seitenausgang auf ihren Elektro-Scootern herum, in Trainerhosen und Adiletten, und nennen sich «Amigo».

Das Shoppingcenter ist ein Treffpunkt, der wohl einzige Ort, an dem sich alle Bevölkerungsschichten Spreitenbachs über den Weg laufen. Denn Spreitenbach ist zweigeteilt. Es gibt das Dorf mit einem alten Ortskern. Und es gibt das urbane Zentrum, die Blocksiedlungen, auch Neu-Spreitenbach genannt. Spreitenbach nennt sich deshalb auch «Dorfmetropole».

Die Menschen, die an den beiden Orten leben, haben kaum etwas miteinander zu tun.

Das Dorf liegt leicht erhöht, am Fusse des Heitersbergs. Es gibt Einfamilienhäuser mit Palmen, Geranien, Gartenzwergen. Die Gärten werden umrahmt von zurechtgestutzten Hecken. In einem Brunnen plätschert Trinkwasser, aus einer Kapelle dringt Orgelmusik, am Dorfplatz steht ein roter Holzschopf mit der Aufschrift «Feuerwehr».

Und es gibt eine Dorfbeiz, den «Sternen». Dort trifft sich jeden ersten Mittwoch im Monat der Verein Pro Spreitenbach. Den Verein gibt es seit 13 Jahren, und er hat mehr als 100 Mitglieder. Er ist eine Art organisierter Stammtisch, an dem Einwohner die drängendsten Probleme Spreitenbachs bereden. Ein aktiver und vier ehemalige Gemeinderäte sind Mitglieder und Unternehmer, Landwirte, Landbesitzer.

Zum Treffen im August kommen 22 Personen, alle wohnen im Dorf, sind älter als 50 Jahre, viele pensioniert. Mitglieder aus den Hochhäusern hat der Verein keine, solche mit Migrationshintergrund wenige. Die meisten trinken Cola mit Zitronenschnitz und Eis und kennen die Kellnerin beim Namen.

Peter Wurzer ist Mitgründer und Präsident des Vereins. Er ist 61 Jahre alt und kam mit seinen Eltern als Kind nach Spreitenbach. Wurzer sagt, neue Bekanntschaften reagierten irritiert, wenn er seinen Wohnort nenne. Manche lachten. Er erzähle ihnen dann vom alten Dorfkern, wo vor 15 Jahren noch Hühner über die Strassen gerannt seien, wo man sich kenne und ihm auch Fremde Guten Tag sagten.

In Wurzers «Spreiti» ist es noch wie früher, vor dem Bauboom, der Zuwanderung und all dem Wachstum.

Das grosse Fest

Spreitenbach war ein winziges Bauerndorf, ehe es in der Nachkriegszeit innert Jahren zur Agglo Zürichs wurde.

Der Ort tauchte vor 900 Jahren erstmals in einer Urkunde auf. Und selbst 1847, als die erste Eisenbahnlinie zwischen Zürich und Baden gebaut wurde, wehrten sich die Landwirte mit Mistgabeln gegen einen Bahnhof in Spreitenbach.

Mitte der 1950er Jahre wurden die ersten Hochhäuser gebaut, da hatte Spreitenbach 1200 Einwohner. Doch die Bevölkerung der Schweiz wuchs rasant, wegen der Zuwanderung und des Babybooms. In den Siedlungen von Spreitenbach entstanden neue und günstige Wohnungen, der Ausländeranteil in Spreitenbach stieg. Die italienischen Gastarbeiter kamen zuerst, dann die Menschen aus dem Balkan.

Das Umland reagierte skeptisch. Hochhäuser galten als anonym, von einem Ghetto war die Rede, das in Spreitenbach entstehe. Die vielen Ausländer würden die Kriminalität befördern, hiess es. Zudem werde die Natur mit den hässlichen Hochhäusern verschandelt. Spreitenbach galt als schlechtes Beispiel dafür, was unkontrollierter Siedlungsbau anrichtet.

Ein Reporter des Schweizer Fernsehens fragte 1979 die Bewohner von Spreitenbach: «Wie lebt man in einem Dorf, das immer wieder kritisiert wird?» Ein Mann sagte: «Früher war es natürlich schöner als heute, aber Entwicklung kann man nicht aufhalten.» Und eine Frau: «Der Ort gefällt mir nicht besonders, aber die Einkaufsmöglichkeiten sind gut.»

Beim Treffen des Dorfvereins Pro Spreitenbach im «Sternen» geht es um die ohrenbetäubenden Böller vom 1. August, um Gutscheine für die Bratwurst am Dorffest, um die Dorfbrunnen, die geputzt werden müssen. «Wer schreibt wegen der Brunnen eine Mail an das Bauamt?», fragt Wurzer. «Der Heinz macht das», sagt die Frau von Heinz. Zudem störe das Unkraut an den Randsteinen, sagt ein Mann. Das Dorfbild müsse passen bis zum grossen Fest.

Ab Donnerstag werden 900 Jahre Spreitenbach gefeiert, vier Tage lang. National bekannte Acts treten auf: Gotthard, Oesch’s die Dritten, Linda Fäh. Alles gratis. Das werde eine Riesensause, sagt Wurzer. «Das Open-Air-Highlight des Jahres», steht auf der Website. Doch die alten Dorfbewohner sind skeptisch. Wenn es beim Gotthard-Konzert regne, müssten sie danach die Schulhauswiese sanieren.

Das Motto des Festes ist «Mir sind Spreitebach». Aber ob auch alle Spreitenbacher zum Fest kommen?

Mehr als die Hälfte der Einwohner von Spreitenbach sind Ausländer. 80 Prozent der Primarschüler sprechen zu Hause eine andere Sprache als Deutsch. Der Vereinspräsident Wurzer spricht von den Leuten aus den «Häuserschluchten» und meint damit die Ausländer in den Blocksiedlungen.

Eine ältere Frau sagt: «Ich habe Jahrzehnte im Hochhaus Bellavista gewohnt. Doch seit zehn Jahren sagt dort niemand mehr Grüezi.» Die Ausländer würden unter sich bleiben und sich weniger in Vereinen engagieren, heisst es im «Sternen». Sie hätten noch immer nicht gelernt, den Müll richtig zu entsorgen.

Aber dann sagt ein Mann: «Haben wir jemals Bewohner aus den Hochhäusern gefragt, ob sie in unseren Verein kommen wollen?»

Die Hochhäuser sind sanierungsbedürftig

Die Hochhaussiedlungen bilden mit dem Shoppingcenter das Zentrum von Neu-Spreitenbach. Die zwei bekanntesten Türme sind mehr als 80 Meter hoch, das sind 26 Stockwerke. Der eine ist rot, der andere grau, sie sind von überall erkennbar, von der Autobahn, aus dem Zug, vom alten Dorf aus. Das rote Haus nennen die Spreitenbacher «Blutwurst», das graue «Leberwurst».

Die grösste Siedlung ist das Langäcker-Quartier. Es umfasst mehrere Plattenbauten aus den 1960er und 1970er Jahren, die eng beieinanderstehen. Ihre Fassaden sind verblasst. Die Sonnenstoren auf den Balkonen sind ausgewaschen, die meisten Balkone sind leer.

Ein Mann hat gerade parkiert und steigt mit zwei Kindern aus dem Auto. Sie tragen Badehosen, ziehen aufblasbare Tiere hinter sich her. Zu einem Kollegen sagt er: «Dieses Quartier ist ein Haifischbecken.» Er meint damit die Parkplätze, die rar sind. Nun sind viele Leute in den Ferien.

Die Hochhaussiedlungen und die Berichte darüber prägen den schlechten Ruf von Spreitenbach. 1993 fand die Polizei in einer Wohnung ein verdurstetes Kind, die Mutter war drogensüchtig und verschwand im Drogenmilieu von Zürich. 2018 entdeckte man drei Leichen in einer Wohnung, ein Tötungsdelikt. 2019 gab es eine Massenschlägerei zwischen verfeindeten Banden, ein 16-Jähriger stach mit einem Messer auf einen anderen ein.

Und die Hochhäuser sind in einem desolaten Zustand, die Gebäude wurden lange nicht saniert. 2020 fiel ein Mann in den Schacht eines defekten Lifts. Er stürzte elf Stockwerke hinunter und starb.

Die Bewohner der Siedlungen gehören zur ärmeren Schicht Spreitenbachs. Viele sprechen kaum Deutsch. Jene, die finanziell aufsteigen, ziehen weg. Die Hochhäuser sind im Idealfall eine Zwischenstation.

Sirmijet Avdi ist im Vorstand des Treffpunkts Café-Bar. Der Verein betreibt im Quartierzentrum Langäcker zweimal pro Woche ein Café. Avdi kam im Alter von acht Monaten aus Nordmazedonien in die Schweiz, 2017 liess sie sich einbürgern. Avdi ist Fahrlehrerin, für den Treffpunkt arbeitet sie ehrenamtlich.

Im Langäcker gebe es Frauen, die trotz Diplom aus ihrem Herkunftsland in der Schweiz nicht arbeiteten, sagt Avdi. Sie kämen nicht von zu Hause weg, wegen der Kinder und der fehlenden Deutschkenntnisse. In der Café-Bar können sie Kuchen backen und Kaffee servieren. Das helfe ihnen, Kontakte zu knüpfen, sich mit Bewohnern aus anderen Vierteln auszutauschen, Deutsch zu lernen.

«Das Hauptproblem ist das Einkommen der Familien. Die viele Arbeit, die Kinderbetreuung und das fehlende Geld halten sie davon ab, sich weiterzubilden und die Sprache zu lernen», sagt Avdi. Oder sich in Vereinen zu engagieren.

Einige hätten die Hoffnung aufgegeben, sich jemals auf Deutsch unterhalten zu können. Das habe die Frauen noch verschlossener gemacht, sagt Avdi. Es hätten sich in Spreitenbach Gruppen gebildet. Sie blieben unter sich, weil sie dieselbe Sprache redeten. Und dieselben Sorgen hätten.

Avdi sagt, sie finde es gut, dass am Dorffest gejodelt werde. So könnten die Jugendlichen aus den Häuserblocks Schweizer Kultur erleben. Doch wenn niemand im Programm stehe, der Jugendliche mit Migrationshintergrund anspreche, gehe wohl kaum einer an das Fest. Vor zehn Jahren sei der Komiker Müslüm im Dorf aufgetreten, da seien alle hingegangen.

Ein neuer Bauboom

Spreitenbach ist ein Dorf. Und Spreitenbach ist eine Stadt. Oder eben: eine «Dorfmetropole». Die Einwohner im urbanen Spreitenbach kamen wegen der günstigen Wohnungen und der Nähe zu Zürich. Die anderen wohnen hier, weil es ihre Heimat ist.

Es sind zwei Erwartungen an einen Ort, die es auch anderswo gibt. Die aber kaum irgendwo so deutlich sichtbar werden wie in Spreitenbach.

Markus Mötteli, 65 Jahre alt, ist seit drei Jahren Gemeindepräsident von Spreitenbach. Es ist ein Vollzeitjob. Mötteli ist Bauingenieur und Mitglied bei der Mitte-Partei. Er sagt: «In den 1960er Jahren gab es Prognosen für ein starkes Bevölkerungswachstum in der Schweiz. Die Gemeinden sollten Pläne ausarbeiten. Spreitenbach hat das angepackt.» Spreitenbach sei eine Pioniergemeinde gewesen, sagt Mötteli.

Heute wollen einige Dorfbewohner verhindern, dass Spreitenbach den Bauboom wieder aufnimmt. 2020 lehnten sie an der Gemeindeversammlung ein grosses Bauprojekt ab. Zwei Türme hätten gebaut werden sollen, 100 Meter hoch wären sie geworden, höher als die Blut- und die Leberwurst.

Der Gemeindepräsident Mötteli sagt: «Das Wachstum ging den Einwohnern zu schnell, das Projekt wollte zu viel.» Doch der Druck auf das Limmattal ist gross. Irgendwo müssen all die Menschen wohnen, die in Zürich arbeiten.

Also wächst Spreitenbach weiter. Neben dem Shoppingcenter entsteht eine neue Siedlung mit 450 Wohnungen. Spreitenbach rechnet mit 1000 zusätzlichen Einwohnern. Dass niemand mehr Grüezi sagt, liegt vielleicht nicht nur an schlecht integrierten Ausländern, sondern daran, dass Spreitenbach zur Stadt wird, wo alles anonymer ist.

Zudem wurde Spreitenbach mit der Limmattalbahn für Investoren attraktiver. Mötteli sieht darin eine Chance: In Spreitenbach soll Altes saniert und Neues gebaut werden. Mötteli hofft, dass so Personen mit höherem Einkommen nach Spreitenbach ziehen. Seine Gemeinde habe tiefe Steuereinnahmen, es brauche auch Bewohner, die sie mitfinanzierten.

Doch zuerst muss Spreitenbach seinen Ruf verbessern. Und dafür braucht es alle. Der Präsident Mötteli hat die Gemeinderäte angewiesen, Spreitenbach mit positiven Nachrichten in die Medien zu bringen. Sie sollen immer wieder betonen, wie schön es in Spreitenbach doch sei.

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