Mittwoch, Oktober 9

Gott ist ewig, die Welt wandelt sich ständig. Und der Papst? Er hat die Aufgabe, in der Welt die Ewigkeit Gottes zu symbolisieren. Der Philosoph Otto Kallscheuer analysiert die Rolle des Papstes in der Geschichte.

Zeit ist mehr als ein physikalisches Phänomen. Daran erinnert der Satz des Predigers Salomo, wonach «alles seine Stunde» habe. Das Alte Testament nimmt damit eine Frage auf, die im Zentrum aller Religionen steht: Wie kann es dem Menschen angesichts der Allgewalt der Zeit gelingen, sich von der Zeit zu befreien und über sie hinauszublicken?

Im Christentum geschieht dies über Ordnungsbegriffe wie «Vorsehung» oder «Reich Gottes». Otto Kallscheuer greift im Untertitel seines Buches «Papst und Zeit» auf die Heilsgeschichte zurück, kombiniert sie aber mit der säkularen Weltpolitik. Der deutsche Philosoph und Politikwissenschafter will zeigen, dass und wie beide Instanzen einander bilden und formen. Nach christlichem Verständnis: Das ewige geltende Wort Gottes wohnt in der Zeit. Das ist die Botschaft der Kirche, und es ist Aufgabe des Papstes, dieses Wort so zu verkünden, dass es die Wirklichkeit der Menschen berührt.

Es gehe ihm um die Macht der Kirche und die Macht in der Kirche, schreibt Kallscheuer. Um die Vollmacht des Papstes und den Wandel und die Zukunft dieser Institution. Diesem Thema gilt sein fast tausend Seiten umfassendes Buch. Und dem Autor gelingen Analysen, die Einblick in den politisch-spirituellen Untergrund des Westens bieten. Etwa wenn er am Anfang des Buches den 27. April 2014 in den Blick fasst, als in Rom gleichzeitig vier Päpste auftraten.

Neben Papst Franziskus nahm der im Vorjahr zurückgetretene Benedikt XVI. an der Feier teil. Und auf der Agenda stand eine doppelte Heiligsprechung. Zwei im Bewusstsein vieler Gläubiger sehr lebendige Päpste wurden zur Ehre der Altäre erhoben: Johannes XXIII., der Papst des Zweiten Vatikanischen Konzils, und Johannes Paul II., der polnische Pontifex, der das Schiff der katholischen Kirche ins neue Jahrtausend geführt hatte.

Mit dem Zeichen des Kreuzes

Franziskus und Benedikt XVI., so Kallscheuer, sei es damit gelungen, die verrinnende Zeit so zu gestalten, dass sie den richtigen Zeitpunkt wählten, um «Heilsgeschichte und Weltpolitik» überzeugend miteinander zu verbinden und auf sinnreiche Weise aufeinander abzustimmen.

Auch die katholische Kirche als grösste und älteste noch bestehende Institution der Welt, betont Kallscheuer, sei den Wechselfällen einander ablösender Epochen immer unterworfen gewesen. Sie ruhte nie in sich selbst, sondern musste von Anfang an darum kämpfen, die Zeichen der Zeit zu deuten. Aber wie wurde aus einer jüdischen Sekte eine Weltkirche? Wie wurde der Nachfolger Petri zum Papst mit unbestrittener Deutungshoheit und Entscheidungskompetenz? Und welche Rolle spielte diese Institution für die Entwicklung der westlich-abendländischen Welt?

Um die Frage zu beantworten, blendet Kallscheuer ins Jahr 312 zurück, in dem sich ein welthistorisches Ereignis grössten Ausmasses zutrug: Kaiser Konstantins Wende zum Christentum. «In diesem Zeichen wirst du siegen», soll ihm Christus im Traum gesagt haben. Das Zeichen war das Kreuz, und so prangte es auf den Schildern seiner Truppen, die am folgenden Tag in die Hauptstadt einzogen.

Kallscheuers Fazit: Konstantins Begegnung mit dem Christuszeichen als dem neuen Siegesmal des römischen Kaisertums sei kein historischer Zufall gewesen. Sondern das Ergebnis einer doppelten Entwicklung, in der sich die Kirche und das Reich anverwandelt hätten: Zum einen sei die Kirche in ihrer Struktur in den ersten Jahrhunderten zunehmend römisch geworden. Zum anderen sei das römische Imperium auf der Suche gewesen nach einem Begriff religiöser Legitimität, die seinem universalen Anspruch genügte.

Der gefangene Papst

Das Papsttum behauptete diesen Anspruch während Jahrhunderten, obwohl es fast auf der Strecke geblieben wäre. Dafür steht etwa der Name Bonifaz VIII. Anlässlich des von ihm ausgerufenen «Heiligen Jahres» 1300 hatte er grossspurig verkündet, alle christlichen Reiche Europas unterstünden letztlich dem Apostolischen Stuhl. Was darauf folgte, war eine Tragödie. Es kam zur Konfrontation mit der weltlichen Macht, in Gestalt des französischen Königs. Das Papsttum unterlag. Hundert Jahre verbrachten die Päpste darauf in Avignon in «französischer Gefangenschaft», fernab von den Gräbern der Apostel.

Solchen Gefahren ist das Papsttum heute nicht mehr ausgesetzt. Dafür steht es vor der Frage, wie der Papst in einer stark polarisierten und zugleich säkularen Welt eine glaubhafte Identifikationsfigur sein und bleiben kann. Als «Role-Model» für ein Papsttum auf der Höhe seiner Zeit schlägt Kallscheuer Paul VI. vor. Dieser fasste die Rolle des Papstes 1965 vor der Uno-Vollversammlung in eine schöne Formulierung, als er sich als Spezialisten für «humanité» bezeichnete.

Als Spezialisten für die Menschheit also – und für die Menschlichkeit. Die paradox zweideutige Wortwahl ist für Kallscheuer gerade deshalb besonders treffend, weil sie kein präzises politisches Aufgabenfeld umschreibt. Sondern universelle Kriterien festlegt, an denen sich die Aufgabe eines kirchlichen Oberhirten heute messen lassen muss. Und die Aufgaben einer mehr und mehr global orientierten Politik auch.

Kallscheuer schildert in seinem Buch geschichtliche Wechselfälle von der Spätantike bis zur frühen Moderne. Er erzählt von Päpsten, die in verschiedensten Rollen auftraten: als Bekenner und Friedensstifter, aber auch als Kriegstreiber und Eroberer, als Feinde der Aufklärung und Anwälte der Menschenwürde. Das Papsttum, das zeigt sich dabei, ist nur vor dem theologischen Konzept der christlichen Heilsgeschichte zu begreifen. Aber ohne historisch-soziologisches Verständnis des Begriffs Weltpolitik lässt sich die Stellung des Bischofs von Rom auch nicht angemessen beschreiben.

Otto Kallscheuer: Papst und Zeit. Heilsgeschichte und Weltpolitik. Matthes-&-Seitz-Verlag, Berlin 2024. 956 S., Fr. 61.90.

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