Das grosse demokratische Experiment einer digitalen Öffentlichkeit leidet unter dem Hass der eigenen Nutzer.

Weihnachten ist vorbei, Chanukka ebenfalls. Sind die Werte des Fests der Liebe und des Fests des Lichts ein wenig in die Gesellschaft übergegangen?

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Nicht auf X. Eine kleine persönliche Auswahl:

«Halt doch bitte deine Fresse», schreibt trashmatash auf X.

«Kann ja nur ein Dummschwätzer sein», fügt Maximilian hinzu.

«Zionistische Lügenpropaganda», sekundiert Jim Beau.

So geht es Millionen Nutzern auf X, Tag für Tag, Sekunde für Sekunde. Auf eine sachliche Aussage folgt Hass als Antwort.

In Deutschland benötigen die meisten Einkaufswagen einen Euro oder eine gleich grosse Attrappe, um freigeschaltet zu werden. Wer den Wagen nicht zurückbringt, wird mit dem Verlust des Pfands bestraft. In den USA ist dieses System nicht so weit verbreitet. Gleichzeitig sind dort die Supermarkt-Parkplätze oft viel grösser. Das Zurückbringen des Einkaufswagens ist dort eine rein freiwillige Angelegenheit. Wer ihr nicht nachkommt, muss keine Sanktionen befürchten.

Wie verhält sich jemand, wenn keine Konsequenzen drohen?

Einer – wissenschaftlich nicht nachgewiesenen – Theorie zufolge, lässt sich an der Frage, ob jemand unter diesen Umständen seinen Einkaufswagen zurück an den Sammelplatz bringt, grundsätzlich auf den Charakter der Person schliessen: Wie verhält sich eine Person, wenn ihr Verhalten keine Konsequenzen hat?

Ein ähnliches Experiment ist X geworden. Wer sich auf der Plattform ohne Klarnamen aufhält, hat (fast) keine Konsequenzen zu befürchten, egal, wie er sich aufführt. Sicher, in Extremfällen, die strafbar sind, wird die Staatsanwaltschaft ermitteln – vielleicht. Oder dünnhäutige Politikerinnen und Politiker stellen Strafanzeige. Davon gibt es in Deutschland erstaunlich viele, und oft sind es gerade diejenigen, die selbst ständig auf Angriff sind: der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck, die FDP-Europaabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder die CSU-Politikerin Dorothee Bär. Aber die alltägliche Unverschämtheit, der kurzerhand in die Tastatur gehämmerte Hass bleiben folgenlos.

Es wäre auch falsch, all die böswilligen Botschaften juristisch zu verfolgen. In aller Regel sind sie von der Meinungsfreiheit gedeckt. Und auch wenn die eine oder andere Beleidigung übers Ziel hinausschiesst, sollte sich kein Staatsanwalt und kein Polizist damit befassen müssen, von ernsthaften Delikten wie Morddrohungen oder Holocaustleugnung einmal abgesehen.

Es mangelt vielen Nutzern schlicht an Anstand.

Ein Wort reicht ihnen aus, um ein Urteil zu fällen. Zwei Sätze der Kritik an Elon Musk, schon ist man «linksgrünversifft» oder gilt als Fan von Angela Merkel (das geht zu weit!). Ist man nicht gewillt, Friedrich Merz zu verdammen, ist man – schon klar – ein Nazi.

«Teil der Mitte» sein wollen, aber fremde Menschen anpöbeln

Scrollt man durch die Profile, zeigt sich erstaunlich oft in der «Bio», die sich die wütendsten Nutzer selber geben, deren Selbstbild: «Gegen Extremismus jeder Art», «Teil der Mitte», «Meinungsfreiheit für alle» sind typische Stichworte.

Zu Beginn des neuen Jahres findet man womöglich Zeit, um auf Youtube alte Fernsehinterviews mit gewöhnlichen Menschen anzuschauen, etwa zur Einführung der Gurtpflicht oder zum Alltag von Feuerwehrmännern. Das Thema ist fast egal, faszinierend ist der weitgehend respektvolle, zurückhaltende Umgang und der gelassene Tonfall miteinander, in dem die Menschen vor vierzig, fünfzig Jahren miteinander sprachen. Das Vokabular ist grösser, die Grammatik klarer, der Ton gesitteter (Ausnahmen bestätigen die Regel).

X und andere Plattformen liefern die direkteste und grösste Öffentlichkeit, die es jemals gab. Für 2025 wäre es schönes Ziel, den Ton so zu verändern, dass die Debatten hart, aber zivilisiert ablaufen können. Das wäre schön. Es ist leider vollkommen unrealistisch.

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