Push-Nachrichten, E-Mails, Social Media: Andauernd surren unsere Smartphones. Deshalb steigen immer mehr Menschen auf sogenannte Dumb-Phones um, mit denen sie bloss telefonieren oder SMS schreiben können. Der Internetsoziologe Stephan G. Humer ordnet das Phänomen ein.
Man musste es tagelang nicht laden, und sein Gehäuse blieb unzerstörbar. Das Nokia 3210 war ab 1999 ein Kassenschlager – 160 Millionen Mal verkauft. Falls jemand eine Hülle nutzte, dann höchstens, um den Parkettboden zu schützen.
Der Bestseller ist seit vergangener Woche als Remake auf dem Markt. Getreu dem Original: ohne Apps. Es kennt die neusten Schlagzeilen nicht und hat keine Ahnung, ob es demnächst regnet. Während Smartphones schlau sind, ist es eher dümmlich. Man nennt diese Geräte Dumb-Phones oder Feature-Phones.
Aber sie sind zunehmend beliebt, selbst bei den Digital Natives der Gen Z: Das Marktforschungsinstitut Counterpoint schätzte, dass in den USA im Jahr 2023 rund 2,8 Millionen solcher Geräte verkauft wurden. Laut dem Schweizer Händler Digitec Galaxus ist die Nachfrage im Jahr 2024 bisher um 22 Prozent gestiegen, bei Brack um 88 Prozent, wie «20 Minuten» berichtete.
In absoluten Zahlen bleiben die Dumb-Phones ihren cleveren Gegenspielern zwar weiterhin deutlich unterlegen. Dennoch zeigen sie das Bedürfnis nach Digital Detox auf. Der Internetsoziologe Stephan G. Humer ordnet diese Entwicklung ein.
Herr Humer, wir haben Sie gerade auf einer Mobilnummer erreicht. Sprechen Sie in ein Smartphone?
Ich besitze tatsächlich ein ganz klassisches Smartphone, das massenhaft verbreitet ist – nichts Exotisches wie etwa ein Dumb-Phone.
Produzenten von rudimentären Mobiltelefonen vermelden einen Zuwachs an Kunden. Erstaunt Sie das?
Ja und nein. Bis jetzt sieht es eher nach einem kleineren Trend aus. Dass er jetzt einsetzt, hat allerdings Gründe.
Welche?
Es geht um die Komplexität der Welt insgesamt. Krieg in der Ukraine, Krieg in Nahost. Die Welt ist fragiler geworden, und die Menschen haben das Bedürfnis nach mehr Ruhe. Die Digitalisierung bringt mit sich, dass wir permanent mit Nachrichten beworfen werden. Überall springen uns Themen an, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Wer also weniger Bad News will, legt sich ein Dumb-Phone zu.
Die Zahlen zeigen, dass es sich um eine Nische handelt, ähnlich wie beim Verkauf von Retro-Computern. Menschen aus der Generation Z interessieren sich für diese alten Rechner, weil sie sie selbst nicht erlebt haben. Sie wollen die Games von damals spielen.
Zur Person
Stephan G. Humer
cov. Er gilt als einer der Mitbegründer der Internetsoziologie. Stephan G. Humer hat sich bereits Ende der 1990er Jahre mit den Auswirkungen des Webs auf die Gesellschaft auseinandergesetzt. Der Professor für Internetsoziologie an der privaten Hochschule Fresenius Berlin analysiert die Digitalisierung der Gesellschaft unter verschiedensten Aspekten und beschäftigt sich auch mit Internetkriminalität, Cyberterrorismus und Jihadismus.
Gerade Menschen aus der Gen Z steigen in den USA zunehmend auf Dumb-Phones um. Zugleich meldet das Forschungsinstitut GWI, dass die Social-Media-Nutzung bei der Gen Z gesunken ist – so stark wie bei keiner anderen Altersgruppe.
Das passt ins Bild. Die jüngeren Menschen haben zwei Hauptgründe, die zu dieser Entwicklung führen. Der erste ist: Sie kennen Smartphones und Social Media schon sehr lange. Es ist nichts Besonderes, dabei zu sein. Besonders ist, auszusteigen oder die Dosis zu reduzieren.
Der Zweite?
Momentan ist die nächste grosse Entwicklung nicht absehbar. Künstliche Intelligenz (KI) bietet nichts, was mit Social Media vergleichbar wäre. Somit ist es naheliegend, sich eine ganz andere Lebenswelt mit weniger solchen Plattformen zu bauen.
Sie haben einmal gesagt, die Digitalisierung habe auch zu mehr Lebensqualität geführt. Wann wird sie aber zum Problem?
Eine der grössten Kehrseiten der Digitalisierung ist die Komplexität. Heute kann jede E-Mail einen Phishing-Link beinhalten, jede SMS kann ein Betrugsversuch sein, jede App protokolliert Daten, die ich gar nicht protokolliert haben will. Ich muss also mit einem grossen Wissensschatz im Hintergrund sehr strategisch mein Privatleben koordinieren.
Überfordert uns die heutige Technik?
Viele Menschen stört es, dass sie professionell mit der Digitalisierung umgehen müssen. Eigentlich möchten sie das Professionelle auf den Beruf beschränken. Zu Hause will man auch einmal fünfe gerade sein lassen. Eine logische Konsequenz ist der Rückfall auf ein Telefon, das einem nicht gefährlich werden kann. Damit erledigt man viele Probleme auf einmal. Und vielleicht verpasst man weniger, als man erwartet hat – oder gar nichts.
Trotzdem: Wir bezahlen unser Essen per Smartphone, lösen unsere Zugtickets auf der App und können jederzeit ein hochwertiges Foto schiessen. Dagegen kommen Dumb-Phones nicht an.
Das gilt auch im Umgang mit anderen Geräten. Wenn man den Geschäfts-Laptop aus dem Zuhause verbannen will, löst das die Probleme auch nur kurz- bis mittelfristig. Langfristig führt kein Weg daran vorbei: Um die Digitalisierung zu bewältigen, müssen wir klüger und erfahrener werden. Das lässt sich nicht aufhalten.
Wie gelingt das?
Wir brauchen mehr institutionelle Hilfe in Schulen, in der Erwachsenenbildung, in Institutionen wie etwa Verbraucherschutzzentralen. Sie alle müssen mehr Wissen zur Digitalisierung vermitteln. Der strategische Umgang ist das A und O. Man kann nicht nur experimentieren und planlos herumklicken, das können viele Menschen nicht alleine.
Jugendliche brauchen diese Hilfe umso mehr. Der Psychologieprofessor Jonathan Haidt rät von Smartphones vor dem 14. Lebensjahr ab. Wo ziehen Sie die Linie?
Frühestens ab dem Alter von 10 Jahren könnte man über ein Feature-Phone ohne Apps nachdenken. Mit 12 oder 13 Jahren erreichen die Kinder einen gewissen Reifegrad. Dann könnten sie beginnen, auch mit einem Smartphone umzugehen. Aber sie müssen begleitet werden.
Schützt die frühe Annäherung an digitale Geräte besser als Verbote?
Wenn Eltern die Handynutzung verneinen, werden die Kinder bei ihren Freunden Erfahrungen sammeln. Man weiss dann nicht, was sie dort konsumieren. Das Alter zwischen 10 und 14 Jahren ist die kritische Phase. Da muss ein planvoller Umgang gemeinsam mit dem Kind eingeführt werden.
Sie beschäftigen sich mit Privacy und Identität im digitalen Zeitalter. Wie haben Smartphones diese Bereiche verändert?
Die Digitalisierung hat vieles beeinflusst, besonders stark prägt uns aber die mobile Erreichbarkeit. Früher musste ich neben einem Telefon mit Kabel sitzen, sonst war ich nicht zu sprechen. Heute ist die Gesellschaft schneller und flexibler. Das führt zu Herausforderungen – und zu einer deutlichen Zweiteilung.
Das müssen Sie genauer erklären.
Manche Menschen haben früh sehr viele Vorteile aus der Digitalisierung gezogen. Andere empfanden sie als Hürde oder Belastung und wurden abgehängt. Dank Mark Zuckerberg sitzen nun auch Menschen mit Hoodie und nicht mehr nur Krawattenträger in Vorständen. Es gab eine Verschiebung von Machtverhältnissen.
Woran erkennen Sie das?
Ein Beispiel ist die politische Landschaft Deutschlands. Die sehr rechts stehende AfD erzielt grosse Erfolge, auch weil sie als eine der ersten Parteien auf Social Media gesetzt hat. Die anderen Parteien haben die Kanäle lange ignoriert. Das war ein klarer Fehler.
Und nun wird die künstliche Intelligenz die Machtverhältnisse nochmals zusätzlich verändern?
Das hängt von den Ergebnissen der nächsten rund fünf Jahre ab. Noch gibt es Bereiche, in denen KI schlecht abschneidet und es einfach ist, sie zu überlisten. Man wird sehen müssen, wie gut die neuen Modelle sein werden.