Die Missstimmigkeiten der vergangenen Saison sind vergessen, trotz vielen Verletzten spielt Barça unter dem neuen Trainer Hansi Flick einen begeisternden Fussball. Bereits werden Vergleiche mit grossen Zeiten des Kultklubs gezogen.
Vor ein paar Tagen sagte Hansi Flick einen vermeintlich banalen Satz: «Es ist sehr schön, Barça-Trainer zu sein.» Der Deutsche, seit diesem Sommer beim katalanischen Renommierklub angestellt, lobte die Qualität seiner Spieler, ihre Leidenschaft und Lernbegierde. Eigenschaften, wie man sie vermuten darf bei einem Spitzenverein mit verbriefter Exzellenz in Fussballphilosophie, Ausbildung von Talenten und Arbeitsmethodik. Dennoch brachte es Flicks Satz zur Schlagzeile in den Medien.
Das lag daran, dass sein Vorgänger Xavi Hernández noch ein ganz anderes Amtsverständnis vermittelte. Der Ex-Spielmacher, ein Urgestein des Klubs, charakterisierte den Job beim FC Barcelona als ein tägliches Martyrium, dem er sich überhaupt nur unterwerfe, weil er den Verein so liebe.
«Barça-Trainer zu sein, ist unangenehm, grausam», sagte der Katalane, er sprach von «häufigen Respektlosigkeiten», «fehlender Anerkennung» oder einem «furchtbaren Verschleiss» und prophezeite seinem damals noch nicht benannten Nachfolger: «Unmöglich, das zu geniessen.»
Flick gewinnt und geniesst
Nun, bis jetzt scheint Flick genau das zu tun: geniessen. Vor dem Champions-League-Duell am Dienstag mit den Berner Young Boys prasseln die Elogen auf ihn ein. Den «Mann der Stunde» nannte ihn die Madrider Zeitung «As», vom «Flick-Team» schreibt in Barcelona die «Mundo Deportivo» in Anspielung auf Barças grösste Mannschaften, das «Dream-Team» von Johan Cruyff und das «Pep-Team» von Josep Guardiola.
Zwar ging der Europapokal-Auftakt in Monaco vor zwei Wochen mit 1:2 verloren, konnte aber mit einem frühen Platzverweis entschuldigt werden. Mit der nächsten Gala in La Liga war jedes kleine Murren schon wieder verstummt.
Dort nämlich reihte Flicks Combo denkwürdige Auftritte aneinander. Beim Vorjahresdritten Girona wurde mit 4:1 gewonnen, beim gegenwärtigen Vierten Villarreal mit 5:1, und Aufsteiger Valladolid wurde mit 7:0 abgefertigt, dem höchstem Sieg seit 2016. Vor dem Match am späten Samstagabend (nach Redaktionsschluss) bei Osasuna hatte Barcelona alle sieben Spiele gewonnen, bei einem Torverhältnis von 23:5, und Titelverteidiger Real Madrid um vier Punkte abgehängt.
Der Kurpfälzer Flick scheint in Katalonien im Eiltempo ein ähnliches Wohlfühlbiotop geschaffen zu haben, wie es vor vier Jahren seinen FC Bayern ein historisches Titelsextett gewinnen liess. Die Mannschaft hat eine klare Handschrift, ohne sich in ein Korsett zu zwängen; ihr Fussball einen hohen Wiedererkennungswert, ohne eintönig zu wirken.
Barça agiert freier und heiterer als unter Xavi, im positiven Sinne verspielter und dabei doch stets bissig im hohen Pressing, zielstrebig auf dem Weg zum Tor und scharf im Aufspüren der Räume zwischen den gegnerischen Linien. Erfolge, Stimmung und Selbstbewusstsein potenzieren sich gegenseitig – in einem von Querelen und Schulden geplagten Klub bestimmt endlich wieder der Fussball die Agenda. «Es herrscht ein grossartiges Ambiente, in dem sich die Spieler entwickeln können», beobachtet Flick, «das ist die Grundlage. Jeder fühlt sich wie zu Hause.»
Hansi im Glück – dabei hat er genau das eigentlich nicht. Als dem Captain und Torwart Marc-André ter Stegen voriges Wochenende die Patellasehne riss, meldete sich bereits der achte Leistungsträger mit einer längeren Verletzung ab. Bisweilen sind die gerade erst aufgerückten Ersatzleute aus der eigenen Jugend auch schon wieder unpässlich.
Zweifellos müssen die Hommagen an Flick schon deshalb als provisorisch gelten, weil Barças Saison letztlich von medizinischen Bulletins abhängen wird. Denkbar, dass man angesichts eines knappen Kaders und des intensiven Offensivstils des Trainers irgendwann abreissen lassen muss. Andererseits: Wenn Flick das bisher alles schon ohne die halbe Stammelf geschafft hat – wie wird es dann erst, wenn alle zurückkommen?
Dann, so hoffen sie im Klub, gewinnt vielleicht auch Barça einmal wieder ein wichtiges Europapokalspiel mit 4:0 oder mit 8:2. Entsprechende Niederlagen mussten sie ja erdulden, 2019 gegen Liverpool und 2020 gegen die Bayern. Mit Jürgen Klopp und Flick zeichneten dafür deutsche Trainer verantwortlich, und seither wird Joan Laporta ein Faible für deren Arbeit nachgesagt.
Laporta ist seit 2021 wieder der Präsident des Vereins, dem er schon zur Guardiola-Zeit vorstand. An der deutschen Schule beeindruckt ihn vor allem die Verbindung von Offensivkonzepten und Intensität. Besonders Flicks Bayern wirkten wie eine perfekt geölte Maschine.
Nun holt der Trainer für Barcelona aus dem Angreifer Robert Lewandowski, 36, so beachtliche Rendite wie einst bei den Münchnern. Bei einem Treffer pro Spiel steht der «beste Neuner des letzten Jahrzehnts» (Flick) im Schnitt, mit dem 17-jährigen Jahrhunderttalent Lamine Yamal und dem unermüdlichen Brasilianer Raphinha bildet er ein diabolisches Sturmtrio.
Dabei war Lewandowski von Xavi noch auf eine interne Streichliste gesetzt worden – es war der Moment, so wird kolportiert, als Laporta die Entlassung des Trainers beschloss. Der Präsident wusste, dass angesichts einer Milliarde Euro Schulden ein adäquater Ersatz nicht zu beschaffen wäre.
Die finanziellen Engpässe gehören in diesen Jahren zu Barça wie Hymne und Trikots. Wenig wird Flick daher so positiv angerechnet wie sein kreativer Pragmatismus. In der ersten Saisonwoche wurde spontan noch Ilkay Gündogan abgegeben, allein im Mittelfeld gibt es derzeit fünf Verletzte. Doch Flick improvisiert immer wieder mit Spielern aus dem Nachwuchsinternat La Masia. «Er sucht keine Entschuldigungen und arbeitet mit dem, was er hat», sagt Laporta. «La Masia ist ein Schatz», sagt Flick.
Das grösste Kompliment: «Der neue Guardiola»
Solche Worte sind Musik in den Ohren der Fans – ganz egal, in welcher Sprache sie dargereicht werden. Flick spricht bis jetzt nur Englisch, und nicht nur, weil für viele Katalanen Spanisch auch nicht die eigene Sprache wäre, «connectet» er trotzdem mit Medien und Fans. Von den erschöpfenden und oft polarisierenden Pressekonferenzen der redefreudigen Klublegende Xavi hebt sich seine Sachlichkeit positiv ab.
Der Deutsche beherrscht bei seinen Auftritten die Kunst, keine Baustellen zu eröffnen, und verführt trotzdem mit sympathischen Details. Am Freitag schenkte er einem Reporter eine Stange Halsbonbons, nachdem ihm dieser bei vorheriger Gelegenheit mit einem solchen Zältli gegen einen hartnäckigen Hustenanfall ausgeholfen hatte.
Anspruchsvoll auf dem Trainingsplatz, unprätentiös im Umgang: So präsentiert sich Flick bis jetzt in Barcelona. «Wir sehen seit dem ersten Tag, dass er ein Weltklassetrainer ist», sagt der Verteidiger Jules Koundé, derweil die Zeitung «Sport» in einem Leitartikel schon schrieb: «Laporta hat seinen neuen Guardiola.» Der ist der Goldstandard im Barça-Kosmos, seit er 2009 ein Titel-Sextett gewann. Als erster und einziger Trainer in Europa bis Hansi Flick.