Donnerstag, Oktober 10

Bisher zeigte sich Kamala Harris medienscheu. Nun geht sie in die Offensive und bleibt sich doch treu: Konfrontative Interviews sind die Ausnahme, nette Moderatoren die Regel. Sie will die Wähler nicht nur mit ernsten Inhalten, sondern auch mit positiven Emotionen gewinnen.

Ein guter amerikanischer Präsident muss ein guter Kommunikator sein – ein «Communicator-in-Chief». Das kann man von Kamala Harris, der Kandidatin der Demokraten, bis jetzt nicht behaupten. Seit dem rauschenden Parteitag im August gab sie kaum Interviews und keine Pressekonferenzen. Harris hat versprochen, das gespaltene Amerika zu versöhnen. Aber mit konservativen Sendern wie etwa Fox News will sie nicht sprechen, als ob sie etwas zu verbergen hätte. Als ob sie dieses Publikum bereits aufgegeben hätte.

In den vergangenen Tagen ging Harris jedoch in die mediale Offensive – zumindest, was die Zahl ihrer Interviews angeht. Mit Ausnahme der vielen kritischen Fragen in der CBS-Sendung «60 Minutes» suchte sich die Vizepräsidentin für ihre Gespräche jedoch mediale Wohlfühloasen aus. Bezeichnend für ihre Strategie war ihr Auftritt im Podcast «Call Her Daddy». Das Format ist bei jungen Frauen beliebt und dreht sich vor allem um Beziehungen, Sex und die weibliche Psyche. Dies gab Harris die Gelegenheit, über ihre vorbildliche Mutter zu sprechen oder über die rührende Geschichte hinter ihrer Berufswahl.

Zu Gast bei Freunden

Ihre beste Freundin in der Highschool habe ihr offenbart, dass sie von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht werde, erzählte Harris. «Ich sagte ihr sofort, sie solle zu uns ziehen, und sie tat es.» Dieses Erlebnis motivierte die heutige Vizepräsidentin zu einer Karriere als Staatsanwältin: «Ich entschied mich in jungen Jahren, schutzlose Menschen beschützen zu wollen.»

Am Dienstag war Harris gleich in drei Gesprächssendungen zu Gast. Bei Radiostar Howard Stern, der zwar vor allem ein männliches Publikum anspricht, aber selbst ein scharfer Trump-Kritiker ist und für Harris stimmen wird. Bei «The View» auf dem Fernsehsender ABC wurde die Demokratin von der Schauspielerin Whoopi Goldberg als «die nächste Präsidentin der Vereinigten Staaten» angekündigt. Und das New Yorker Publikum in Stephen Colberts «Late Show» empfing Harris mit «Kamala, Kamala, Kamala»-Rufen.

Offensichtlich will Harris die Wähler, die vielleicht noch zögern, nicht allein mit ihren Steuerplänen, sondern auch mit ihrer persönlichen Geschichte für sich gewinnen. In Sterns Radiosendung erfuhren die Zuhörer, dass sie die Musik von U2 mag, dass sie zum Frühstück gerne Flocken mit Rosinen isst und sich gerne Formel-1-Rennen anschaut. Allerdings offenbarte Harris auch in diesen wohlgesinnten Formaten ihre grösste Schwäche: In die Defensive gedrängt, fühlt sie sich unwohl und hat dann Mühe bei der Angriffsauslösung. Wie eine verunsicherte Fussballmannschaft schlägt sie den Ball dann lieber weg – weicht einer Frage aus oder liefert vorbereitete Antworten.

Bei «The View» wollte eine von Goldbergs Co-Moderatorinnen von Harris wissen, ob sie in den vergangenen vier Jahren etwas anders als Joe Biden gemacht habe. «Da kommt mir nichts in den Sinn», antwortete die Demokratin. Stephen Colbert fragte seinerseits, was sich mit ihr als Präsidentin ändern werde. Harris erwiderte: «Nun, offensichtlich bin ich nicht Joe Biden. Das ändert sich. Aber 28 Tage vor der Wahl ist es auch wichtig, zu erwähnen, dass ich nicht Donald Trump bin.»

Entscheidend ist die Kunst des Kaschierens

Die härteste Prüfung hatte Harris bei «60 Minutes» zu bestehen. Ihre Regierung habe den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu vor einer Bodenoffensive in Libanon gewarnt, so holte der hartnäckige Moderator Bill Whitaker aus und fragte: «Netanyahu tat es trotzdem. Haben die USA keinen Einfluss auf Netanyahu?» Harris antwortete, ohne etwas zu sagen: «Unsere diplomatische Arbeit gegenüber der israelischen Führung besteht in einem fortwährenden Bestreben, unsere Prinzipien klarzumachen.»

Auch bei der Einwanderungspolitik wich Harris aus. Durch schärfere Verordnungen konnte die Regierung die Migrationswelle an der Südgrenze eindämmen. Whitaker wollte wissen: «Wenn das nun die richtigen Massnahmen sind, warum hat ihre Administration diese nicht bereits 2021 ergriffen?» Die Vizepräsidentin konnte die Frage nicht beantworten, weil sie dafür einen Fehler hätte einräumen müssen.

Ihre ausweichenden Antworten scheinen indes nicht das eigentliche Problem zu sein. Ramesh Ponnuru, ein konservativer Kolumnist der «Washington Post», meinte über Harris: «Alle Politiker weichen bestimmten Fragen aus. Sie tut es oft. Und sie beherrscht die Kunst nicht, es zu kaschieren, wenn sie es tut.»

Auch Trump weicht Fragen oft aus und liefert völlig zusammenhangslose Antworten. Der Comedian Jon Stewart machte sich kürzlich darüber lustig. Er spielte dazu ein Interview ein, in dem Trump gefragt wurde, wie er konkret die Inflation bekämpfen wolle. Der republikanische Präsidentschaftskandidat liess sich zunächst darüber aus, wie unfähig Harris sei, um dann seine guten Beziehungen mit den Diktatoren in Moskau und Peking zu loben. Im Gegensatz zu Harris sagte Trump zudem ein bereits geplantes Interview mit «60 Minutes» kurzfristig ab. Offenbar störte er sich daran, dass der Sender seine Aussagen auf ihre Faktentreue überprüfen wollte.

Auch wenn es Harris an Charisma und Schlagfertigkeit mangelt, konnte sie mit den Interviews wichtige Botschaften transportieren. «Ich bin eine Kapitalistin», sagte sie in verschiedenen Sendungen. Oder: «Wenn wir in kleine Unternehmen investieren, stärken wir die Mittelklasse.» Harris höre sich an wie eine moderate Republikanerin, erklärte der konservative Meinungsforscher Frank Luntz am Dienstag gegenüber CNBC. Die Vizepräsidentin dringe mit ihren Positionen langsam zu den Wählern durch. Und nach dem Auftritt bei «60 Minutes» sei nun Trump derjenige, der Interviews und Debatten meide. Eine Umfrage der «New York Times» vom Dienstag scheint Luntz’ Beobachtungen zu bestätigen: Erstmals sieht eine knappe Mehrheit der Wähler Harris und nicht Trump als die Kandidatin, die für einen Wandel steht.

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