Donnerstag, November 13

Die USA behandelten Frauen in der Spitzenpolitik noch immer anders als Männer, sagt der amerikanisch-kanadische Politikexperte David Frum im Interview. Die Unterschiede seien inzwischen sogar grösser als die zwischen den Ethnien.

Herr Frum, hat Joe Biden seine Kandidatur zu spät zurückgezogen, als dass die Demokraten im November noch eine Chance hätten?

Hätten Sie mich das am Tag selbst gefragt, hätte ich wahrscheinlich Ja gesagt. Aber die derzeitigen Entwicklungen belegen das Gegenteil: Es gab keinen erbitterten Kampf um die Nachfolge. Die Partei hat sich geschlossen hinter Kamala Harris gestellt. Es gab auch keine rechtlichen Schwierigkeiten beim Übertragen der Spendengelder – etwas, was im Wahlkampf hier sehr wichtig ist. Es wird keine Probleme dabei geben, dass Harris’ Name nun auf den Stimmzetteln steht.

Tatsächlich hat sich das grösste Problem von Harris – das Bilden eines eigenständigen Profils – auf bemerkenswerte Weise als Vorteil erwiesen. Sie hatte 2019 einige Positionen eingenommen, die nicht sehr ratsam waren. Aber weil sie dieses unbestimmte Profil hat, kann sie nun den Eindruck schnell korrigieren, den sie 2019 hinterlassen hatte.

Sie sagen «unbestimmtes Profil» – man könnte auch sagen, Harris war 2019 ein Fähnchen im Wind. Ist es überhaupt glaubhaft, dass nun das gesamte demokratische Establishment hinter ihr steht?

Harris war 2019 ein aufsteigender Stern in der Demokratischen Partei. Sie hatte eine sehr erfolgreiche Karriere als Staatsanwältin hinter sich und wurde zur Generalstaatsanwältin von Kalifornien gewählt, was ein sehr wichtiges und mächtiges Amt ist. Dann wurde sie Senatorin, und ihr wurde eine grosse Zukunft in der Partei beschieden.

Im Wahlzyklus 2020 hat die Demokratische Partei einen Linksruck vollzogen, der für sie nicht gut war. Joe Biden sicherte sich die Kandidatur, weil er sich diesem Linksruck entgegensetzte. Aber Harris, die keine klare Markenidentität hatte, folgte dem Linksruck und wurde plötzlich mit einer Reihe von Positionen identifiziert, die gar nicht ihrem Leistungsausweis entsprachen – und das hat auch nicht funktioniert. Dann wurde sie die sehr loyale Vizepräsidentin von Joe Biden und verschwand aus dem öffentlichen Blickfeld, weil sie kein eigenständiges Profil behielt. Man könnte also auch sagen: 2019 drehte sie sich plötzlich mit dem Wind, aber nun steht sie wieder in Einklang mit den Positionen, die sie vorher immer eingenommen hatte.

Trägt Harris Mitschuld daran, dass Bidens gesundheitlicher Abbau monatelang vor der Öffentlichkeit verheimlicht wurde?

Biden hat die Entscheidung, sich zur Wiederwahl zu stellen, vor mehr als einem Jahr getroffen, als sein Zustand offenbar noch besser war. Sein Gesundheitszustand scheint sich erst im Laufe dieses Jahres verschlechtert zu haben, auch erst nach der Rede zur Lage der Nation im März. Ich sehe das so: Biden hat eine effektive Regierung geführt. Er hat mit sehr knappen Mehrheiten im Kongress sein Programm durchgesetzt, immer und immer wieder. Er hat sogar die Blockade der Republikaner punkto Ukraine durchbrochen. Das war ein wichtiger Sieg.

Aber er tat dies, während seine Kräfte schwanden. Das ist nicht die Art von Situation, für die der 25. Verfassungszusatz geschrieben wurde. Dieser regelt, wann der Vize vom Präsidenten übernimmt. Bidens Gesundheitszustand war nicht so schwerwiegend, dass er sofort hätte zurücktreten müssen. Was geschehen musste, war, dass seine Berater den Präsidenten davon überzeugten, doch nicht für eine zweite Amtszeit zu kandidieren, und dass die Partei sich danach nicht selbst zerfleischen würde. All das ist passiert. Das ist doch ein Beispiel dafür, dass das System genau so funktioniert, wie es sollte, und nicht dafür, dass etwas schiefgelaufen ist.

Wo sehen Sie die grösste Herausforderung für Harris?

Wir sind es gewohnt, über Rassenspaltungen in der Gesellschaft zu sprechen, und es gibt Hinweise darauf, dass diese Gräben kleiner werden: Die Republikaner schneiden inzwischen bei nichtweissen Männern besser ab, und die Demokraten bei gebildeten weissen Frauen.

Aber wir reden nicht so offen über die Unterschiede, die wir nach wie vor bei den Geschlechtern machen. Und diese werden sogar immer grösser. Vieles davon geschieht unausgesprochen, im Unterbewussten. Aber es ist eine Tatsache. Wie wird Harris damit umgehen? Das wird die grosse Frage sein.

Wie kann Harris es schaffen, insbesondere in den konservativeren Swing States die Wähler für sich zu gewinnen?

Sie wird einen Weg finden müssen, ihr Frausein nicht zu verleugnen, aber sich gleichzeitig nicht dadurch zu definieren. Das wird eine sehr schwierige Aufgabe sein. Weibliche Kandidaten haben einige Vorteile: Es wäre für Trump sehr gefährlich, in einer Fernsehdebatte genauso unhöflich zu Harris zu sein, wie er es sonst gerne ist. Umgekehrt wird es für Harris schwer sein, genauso bestimmend aufzutreten, wie es ein Mann sich leisten kann.

Konservativ ist nicht das richtige Wort, um das Problem zu beschreiben. Es ist vielmehr so, dass wir überall in den Industrieländern beobachten, dass Männer und Frauen zunehmend weniger Dinge verbinden – sie heiraten später, sie bekommen später Kinder, sie leben nicht mehr so zusammen wie früher. Es gibt weniger, was sie verbindet. Wir sehen das auch im Internet – zunehmende Feindseligkeit. Dort fühlen sich Männer etwa von bestimmten Formen der Geschlechterdarstellung angezogen. Aber als Präsidentschaftskandidat muss man diese Unterschiede irgendwie überwinden. Das wird Harris’ Problem sein – aber, seien wir ehrlich, auch Trumps. Viele Wählerinnen finden ihn abstossend.

Es wird also letztlich darauf ankommen, welche Partei am besten ihre Basis an die Urnen bringt?

Die Basis der Demokraten ist ganz anders zusammengesetzt als jene der Republikaner. Die Republikanische Partei ist wie ein Puzzle, das sich aus zwei gleich grossen Teilen zusammensetzt: erstens den Menschen, die Trump lieben – das ist vielleicht ein Fünftel oder ein Viertel des Landes –, und zweitens den Menschen, die Trump als das geringere Übel ansehen. Zusammen ergeben diese beiden Puzzleteile etwa 45, 46, vielleicht 47 Prozent der Wähler – aber auch nicht mehr.

Und die Demokraten?

Die Demokraten haben ein Puzzle mit vielen Teilen: Da sind die sehr ideologischen jungen Leute, die für Bernie Sanders durch die Strassen zogen. Da sind die eher kulturell konservativen schwarzen Frauen, die in die Kirche gehen. Da sind, drittens, die Gewerkschaften. Alle diese Puzzleteile sind sehr unterschiedlich. Sie zusammenzufügen, ist schwierig. Aber wenn sie es schaffen, ist das Puzzle der Demokraten viel grösser.

Biden hat 2020 mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten. Theoretisch könnte ein demokratischer Kandidat sogar noch mehr schaffen. Aber die Demokraten können nicht die Strategie wählen, ihre Wähler möglichst auf emotionaler Ebene anzufeuern, weil es eben nicht die eine Basis gibt.

Aber dennoch wird am 5. November das Ausmass der Wahlbeteiligung entscheiden – oder nicht?

In diesem Punkt sind die Demokraten eine merkwürdige Partei. Bei den Kommunal-, Gliedstaats- und Kongresswahlen 2022 und 2023 haben sie unerwartet gut abgeschnitten, weil sie bei den besser gebildeten Wählern erfolgreicher geworden sind. Und das sind genau die Bürger, die am wahrscheinlichsten ihre Stimmen abgeben. Bei Wahlen mit niedriger Beteiligung schneiden die Demokraten heute also besser ab, als man es erwarten würde.

Trump hingegen punktet unter anderem gut bei jungen Männern ohne Hochschulabschluss. Aber die gehen auch nicht so verlässlich wählen. Obwohl also alle Stimmen gleich viel zählen, ist es nicht bei allen Wählern gleich wahrscheinlich, dass sie sich auch die Mühe machen, an die Urnen zu gehen.

Sie schrieben kürzlich in «The Atlantic», Harris sei nun die einzige Hoffnung für die amerikanische Demokratie. Ist das nicht übertrieben?

Wir haben in diesem Land einen Putschversuch erlebt. Wir sagen das nicht gern so deutlich, aber genau das war es. Verantwortlich dafür war die Person, die geschworen hatte, die Verfassung zu schützen. Wir gehören nun nicht mehr dem Klub all jener fortschrittlichen Demokratien an, bei denen die Machtübergabe stets friedlich erfolgt. Und jetzt will genau die Person, die uns aus diesem Klub geworfen hat, eine zweite Chance als Präsident.

Wie erklären Sie es sich, dass Trump trotz dem Aufstand vom 6. Januar und trotz dem Berg von Rechtsstreitigkeiten wiedergewählt werden könnte?

Ich hätte tatsächlich nicht gedacht, dass der Oberste Gerichtshof ihn in dem Ausmass schützt, wie er es tut. Es gab viele Verzögerungen bei den juristischen Verfahren. Es scheint in Rechtskreisen den unausgesprochenen Konsens zu geben, nach jeglichem Grund zu suchen, um vor November 2024 keine grossen Urteile fällen zu müssen. Die Gerichte werden die Demokratie nicht für uns retten.

Wenn eine Demokratie gut funktioniert, überschätzen wir als Gesellschaft, wie belastbar sie sei. Ein beträchtlicher Teil des Landes vergisst leicht den Wert einer Demokratie, weil Trump ihnen etwas bietet, was sie mehr schätzen – einfache Antworten; jemanden, dem man die Schuld für die eigenen Probleme zuschieben kann; Ausreden, um selbst nichts ändern zu müssen. Das macht Trump so gefährlich.

Ich hoffe sehr, dass unsere Gesellschaft wieder auf den Weg des normalen politischen Wettbewerbs zurückfindet – so dass ich als Konservativer voller Stolz 2028 gegen Harris stimmen kann und für einen Kandidaten wie einst Mitt Romney, der beim Thema Staatsdefizit, Handel und Steuern eher meine Werte vertritt. Aber jetzt, im Jahr 2024, lautet die Frage auf dem Stimmzettel: Ist ein Putschversuch akzeptabel? Wenn die Antwort Nein ist, dann muss man auch Nein zu der Person sagen, die diesen zu verantworten hat.

Was passiert, wenn Trump verliert?

Ich hoffe wirklich, dass wir dann nach vorne schauen können. Ein Sieg über Trump würde uns helfen, nicht immer von einer Krise in die nächste zu schlittern. Aber es würde nicht das Problem unserer immensen Verschuldung lösen, den Klimawandel oder unser schwaches Produktivitätswachstum.

Wenn Trump verliert, hängt alles vom Ausmass der Niederlage ab. Wenn sie sehr deutlich ist und die Republikaner zudem keine Kontrolle mehr über das Repräsentantenhaus haben, ist das ein echter Schock für die Partei, der sie zu einem grundsätzlichen Umdenken zwingt. Wenn die Republikaner aber das Repräsentantenhaus behalten, werden sie sagen, dass der Trumpismus doch kein Fehler gewesen sei, auch wenn es sie das Weisse Haus gekostet hat. Sollte Trump nur knapp verlieren, wird er behaupten, er habe gewonnen.

Wird der Vizepräsidentschaftskandidat J. D. Vance den Trumpismus nun in die Zukunft führen?

Es sieht nicht danach aus. Trump hat das Bedürfnis, jeden zu demütigen, der ihm nahe kommt. Sollte Trump also gewinnen, wird er versuchen, Vance zu degradieren, statt ihn aufzubauen. Und sollte Trump verlieren, wird er Vance die Schuld daran geben. Man braucht nur einen Erben, wenn man sich eingesteht, dass man sterben muss. Ich glaube, Trump erlaubt sich nicht, das zu glauben.

In seiner ersten Amtszeit hat Trump viele Drohungen gegen die Nato ausgesprochen, aber keine Taten folgen lassen. Wäre dies bei einer zweiten Amtszeit anders?

Der Präsident muss nicht aus der Nato austreten, um das Bündnis zu zerstören. Er muss nur ein Interview geben, in dem er sagt: Ich werde Estland nicht verteidigen, wenn es angegriffen wird. Die Nato ist letztlich eine nukleare Diktatur – eine Verpflichtung des amerikanischen Präsidenten, seine Atomwaffen für ein anderes Mitglied einzusetzen, wenn es die Umstände verlangen.

Und wenn dieser Präsident sagt: Ich werde das nicht tun, dann ist die ganze Sicherheitsgarantie hinfällig, und Estland ist schutzlos.

Natürlich hat Trump vor, genau das tun, er macht damit schliesslich Wahlkampf. Zudem hat er den grössten Gegner der Ukraine-Hilfen im amerikanischen Senat zu seinem Vize-Kandidaten gewählt. Wenn die Ukraine verliert und einen Frieden mit Russland schliessen muss, der sie zwingt, ihre Unabhängigkeit aufzugeben, passieren zwei Dinge: Europa muss Russland stärker besänftigen. Und langfristig muss es sich von den USA abkehren und mehr Vorkehrungen für seine eigene Verteidigung treffen.

Manche Anhänger Trumps argumentieren, er werde die Ukraine im Stich lassen, um den Chinesen zu zeigen, dass er alle Mittel auf die Verteidigung Taiwans konzentriere.

Wenn wir die Ukraine im Stich lassen, verlieren wir jede Glaubwürdigkeit. China wird denken, dass wir unzuverlässig seien, und Taiwan wird es als erwiesen ansehen. Jedes Land wird beginnen, seine eigenen Sicherheitsabkommen zu schliessen.

Natürlich werden die USA eine mächtige Streitkraft bleiben, aber eine viel isoliertere. Und als Allererstes zahlen unsere Freunde den Preis für diese Isolation. Das Konzept der kollektiven Sicherheit wird geschwächt. Der jüngste Gefangenenaustausch hat doch gezeigt, was möglich ist, wenn Länder mit ähnlichen Institutionen ihre Sicherheitsinteressen bündeln und engstirnigen Nationalismus zum Wohle aller beiseiteschieben. Trump versteht einfach nicht, dass die USA einen grossen Teil ihrer Macht aus der Tatsache ziehen, dass andere Länder uns vertrauen.

Ein konservativer Trump-Kritiker

lma. · David Frum ist ein kanadisch-amerikanischer Journalist. Von 2001 bis 2002 war der 64-Jährige Redenschreiber von Präsident George W. Bush und prägte den Ausdruck «Achse des Bösen» als Bezeichnung für Iran, den Irak und Nordkorea. Frum schrieb für konservative Publikationen wie das «Wall Street Journal» und die «National Review» und ist seit 2014 beim Magazin «The Atlantic» angestellt, bei dem er etwa für seine migrationskritischen Texte bekannt ist. Frum ist einer jener Neokonservativen, die die Wahl Trumps 2016 politisch heimatlos gemacht hat. 2020 erschien sein zehntes Buch: «Trumpocalypse».

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