Freitag, Dezember 27

Nach einem harten Polizeieinsatz gegen Studenten in Pisa liest Staatspräsident Sergio Mattarella der Regierung die Leviten. Grund für seine Intervention dürfte das Trauma von Genua sein.

«Manganello» lautet das Wort der Stunde in Italien, zu Deutsch: Schlagstock, Knüppel. Seit am letzten Freitag Polizeikräfte in Pisa mit Schlagstöcken gegen jugendliche Demonstranten vorgegangen sind, ist Feuer unter dem Dach in Italiens Politik. Bei der propalästinensischen Protestaktion in der toskanischen Stadt wurden nach jüngsten Medienangaben zehn Minderjährige verletzt, drei erwachsene Demonstranten mussten in Spitalpflege verbracht werden, einer von ihnen mit einem Schädel-Hirn-Trauma. Auch in Florenz kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei.

Die Bilder aus Pisa haben das Land aufgewühlt. Der bekannte Liedermacher Roberto Vecchioni vergoss im Fernsehen Tränen, als er um einen Kommentar zu den Vorgängen gebeten wurde. So etwas dürfe einfach nicht passieren, sagt er.

Vecchioni steht mit seiner Empörung bei weitem nicht allein. Die Aufregung ist mehr als eine Operette und das übliche Polittheater. Auch geht es längst nicht mehr um die Inhalte der Proteste und die politischen Anliegen der Demonstranten.

Untersuchung angekündigt

Tatsächlich dokumentieren die Bilder einen harten Polizeieinsatz gegen scheinbar friedliche und unverhüllte Jugendliche. Ob sich unter ihnen Gewalttäter befanden oder Personen, welche die Beamten bedroht haben, lässt sich auf den jetzt zirkulierenden Videos nicht erkennen. Die Polizei macht geltend, bei dem Einsatz sei es darum gegangen, die nahe gelegene Synagoge von Pisa beziehungsweise das amerikanische Konsulat in Florenz zu schützen.

Derzeit steht Aussage gegen Aussage. Innenminister Matteo Piantedosi hat eine Untersuchung angekündigt. Derweil wettert die Opposition gegen die Regierung in Rom und fordert Ministerpräsidentin Giorgia Meloni auf, im Parlament Stellung zu den Vorfällen zu nehmen.

Die Konfliktlinie verläuft indessen nicht nur entlang der gewohnten Fronten. Selbst der Lega-Politiker Michele Conti, der Bürgermeister von Pisa, zeigte sich erschüttert über die Gewalt. Als Bürger und Vater empfinde er «Bitterkeit». Eine Demonstration von Schülern dürfe niemals mit Gewalt unterdrückt werden. Die Rektoren der Universitäten von Pisa solidarisierten sich umgehend mit den Demonstranten.

Am meisten Gewicht freilich hatte die Intervention von Staatspräsident Sergio Mattarella. Am Samstag, nur einen Tag nach den Demonstrationen, machte er von sich aus auf X den Inhalt eines Telefonats mit Innenminister Piantedosi publik. Die «Autorität der Polizei», hiess es in der Mitteilung, werde nicht an Knüppeln gemessen, «sondern an der Fähigkeit, die Sicherheit zu gewährleisten und gleichzeitig die Freiheit der öffentlichen Meinungsäusserung zu schützen». Für die Jugendlichen sei der Einsatz von Schlagstöcken Ausdruck eines Versagens.

Beobachter können sich nicht an eine vergleichbar deutliche öffentliche Intervention des Staatspräsidenten erinnern, dem die Aufgabe obliegt, die Werte und Inhalte der italienischen Verfassung zu wahren und diese bei Gelegenheit bei der Regierung anzumahnen. Mattarella übt diese Funktion mit Umsicht und Diskretion aus. Manchmal fordert er die Öffentlichkeit in allgemeinen Worten zur Mässigung auf wie erst gerade vor wenigen Tagen, als in Rom Bilder und Puppen von Giorgia Meloni verbrannt wurden.

Angst vor Autoritarismus

Dass der Einsatz der Schlagstöcke in Pisa so viel Aufsehen erregt hat und mittlerweile weitere Protestkundgebungen nach sich zieht, hat verschiedene Gründe:

Die «Piazza», das Protestieren auf öffentlichem Grund, ist den Italienern heilig. Sie tun es oft und gern. Die Kraft einer politischen Gruppierung wird hier nicht zuletzt daran gemessen, wie viele Menschen sie für ihr Anliegen mobilisieren kann. Die Plätze, auf denen demonstriert wird, werden jeweils mit Akribie ausgesucht. Es gilt unter allen Umständen, den Eindruck von Leere zu vermeiden. «Che bella piazza!», sagen die Veranstalter zufrieden nach einer gut bestückten und lauten Kundgebung.

Diese Regeln gelten für Politiker jeglicher Couleur. Auch Giorgia Meloni hat sich auf den Piazze Italiens Gehör verschafft, ehe sie in den Palazzo Chigi, den Sitz der Regierung, eingezogen ist. Sie hütet sich deshalb im eigenen Interesse, das Demonstrationsrecht einzuschränken. Um eine Kundgebung durchzuführen, reicht es in Italien im Übrigen, diese vorher bei den Behörden anzumelden. Die Verfassung sehe keine Bewilligungspflicht vor, sagte Gustavo Zagrebelsky, der frühere Präsident des Verfassungsgerichts, gegenüber der «Repubblica».

Gleichzeitig steht Meloni als Erbin der postfaschistischen Bewegung unter Generalverdacht, autoritär durchregieren und Proteste im Keim ersticken zu wollen. Alles, was sie tut und lässt, wird von der Opposition unter diesem Aspekt beurteilt. Die Italiener sind diesbezüglich aufgrund ihrer historischen Erfahrungen mit dem Faschismus verständlicherweise sehr sensibel. «Das Recht, zu demonstrieren, ist das Erste, was in autoritären Regimen unter die Räder kommt», meint Zagrebelsky.

Aus demselben Grund wird die von Giorgia Meloni lauthals angekündigte «Mutter aller Reformen» argwöhnisch beobachtet. Diese besteht darin, das Amt des Ministerpräsidenten aufzuwerten. Im Raum steht die Absicht Melonis, den Regierungschef künftig per Volkswahl zu bestimmen – was wiederum die Stellung und Funktion des Staatspräsidenten schwächen würde, also just jener Person, die bei kritischen Entwicklungen zur Zurückhaltung mahnt, so wie Sergio Mattarella im gegenwärtigen Fall.

«Diese Reform würde eine ‹Winner take all›-Demokratie verfassungsrechtlich festschreiben», befürchtet Zagrebelsky. Der Gewinner könnte sich ermächtigt fühlen, zu allen Instrumenten des Sieges zu greifen. Der Schlagstock sei darunter gleichsam der Klassiker.

Düstere Erinnerungen an den G-8-Gipfel

Möglicherweise hat die Nervosität rund um den Einsatz von Pisa aber auch einen ganz anderen Grund. Italien hat derzeit den G-7-Vorsitz inne und ist im Juni Gastgeber des entsprechenden Gipfels der Staats- und Regierungschefs. Aber das Land leidet immer noch am Trauma von Genua. Dort kam es 2001 anlässlich des G-8-Treffens zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen den Ordnungskräften und den Demonstranten. Ein Student wurde damals von einem Polizisten erschossen und Hunderte Personen verletzt, Bilder von Misshandlungen gingen um die Welt.

Meloni dürfte solche Szenen um jeden Preis vermeiden wollen. Und Sergio Mattarellas Wortmeldung könnte auch als eine Mahnung an die Einsatzkräfte verstanden werden, es nicht wieder so weit kommen zu lassen.

Exit mobile version