Mittwoch, Februar 5

Wird es jemals eine Zeit geben, in welcher die Feindschaft zwischen Moskau und Kiew erlischt? Der Blick zurück auf die lange Geschichte lässt daran zweifeln, denn Putins Angriffskrieg ist bei weitem nicht die erste bestialische Grausamkeit der Russen gegenüber den Ukrainern.

Dieser Monat begann mit gegenseitigen Tötungen: Russland wiederholte den massivsten Raketenangriff, den es drei Tage zuvor unternommen hatte. In den folgenden Tagen wurde Charkiw täglich attackiert, manchmal sogar zweimal täglich. Wir schlafen ein und wachen mit dem Geräusch von Explosionen auf.

Die Ukraine lässt diese Angriffe nicht unbeantwortet und greift den Flugplatz hinter der Grenzstadt Belgorod an, von dem aus die Raketen abgefeuert werden. Die russische Luftverteidigung versucht, die ukrainischen Drohnen und Raketen abzuschiessen, und sie regnen auf die Köpfe der verängstigten Russen, der Einwohner von Belgorod. Am nächsten Tag wird Charkiw erneut angegriffen, und wir antworten wieder. So wird der Tod hin- und hergeschoben.

Einige ukrainische Medien fordern uns auf, uns darüber zu freuen, dass Drohnen- und Raketenteile auf Belgorod fallen und dort Leute töten.

«Es war sehr amüsant, sich Videos aus Belgorod anzuschauen, auf denen Frauen schreiend auf dem Boden liegen. Vielleicht hofften sie, die Raketen durch ihre Schreie zu vertreiben, aber die Waffen haben sie nicht erhört», schreiben sie aufgekratzt.

Andere Medien bestehen darauf, dass wir sogar dann feiern sollten, wenn in Belgorod Kinder ums Leben kommen: Sind wir denn Patrioten oder nicht? Mit unserem Patriotismus mag etwas nicht stimmen, aber in meinem Freundeskreis gibt es niemanden, der sich über die Schreie russischer Frauen freut oder den Tod russischer Kinder bejubelt.

Kein Ende der Feindschaft

Der Hass wird auf beiden Seiten geschürt. Jemand will, dass der Hass die Luft erfüllt wie ein Gestank, wie ein giftiges Gas. Das ist einer der Gründe, warum der Hass nicht verschwinden wird, selbst wenn der Krieg morgen zu Ende ist: Jemand braucht ihn.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum die Feindschaft zwischen dem ukrainischen und dem russischen Volk mit dem Ende des Krieges nicht schwinden wird: Zu vergeben und zu vergessen, was alles wir gesehen und erlebt haben, wäre ein unmögliches und sogar unmoralisches Unterfangen. Selbst wenn die letzten lebenden Zeugen dieser Bombardierungen, Brände und Morde verschwunden sein werden, stehen die Dokumente dieses Krieges in den Geschichtsbüchern, welche die nachkommenden Generationen in den Schulen studieren werden. Die Fäden des Hasses werden sich wie Girlanden aus schwarzen Laternen in die Zukunft ziehen.

Es hat schon zu viele solcher Girlanden gegeben.

Am 2. November 1708, um 6 Uhr morgens – schon damals griffen die Russen gerne frühmorgens an – starteten feindliche Truppen unter der Führung von Menschikow, einem Günstling von Zar Peter dem Grossen, einen Angriff auf die ukrainische Stadt Baturin. Zwei Stunden später war die Stadt eingenommen, aber nicht dank dem Mut der Russen, sondern weil ein Verräter dem Feind einen unterirdischen Gang gezeigt hatte, der zur Festung führte. Darauf schlachteten die Russen alle (bis zu 15 000) Einwohner von Baturin ab.

Vor ihrer Hinrichtung wurden die ukrainischen Kosaken auf die raffinierteste Weise gefoltert. Selbst Vlad Dracula wäre nie darauf gekommen: Ihre verstümmelten Körper wurden auf Flösse gelegt, die man den Fluss hinuntertreiben liess, um alle Anwohner einzuschüchtern. Frauen, Kinder und alte Menschen wurden in Stücke gehackt, gerädert oder aufgespiesst. Das Massaker von Baturin ist das erste ukrainische «Guernica», es fand früher statt und war zehnmal so blutig wie das spanische. Und es war zwanzigmal so blutig wie Oradour-sur-Glane und vierzigmal so blutig wie Lidice.

Solch schreckliche Grausamkeit war nicht nötig, aber Baturin war die Hauptstadt des ukrainischen Hetmans Iwan Masepa, den der russische Zar inständig hasste. Der Hass war so gross, dass ein Porträt von Iwan Masepa in Baturin «hingerichtet» wurde. Später wurde ein Schafott gebaut, auf das man ein Masepa-Bildnis schleppte, das mit einem Ordensband versehen war. Dann wurde das Band abgerissen und das Bildnis am Galgen aufgehängt.

Ein Strom aus Hass und Leid

Oft ähnelt der Hass der Emotion eines Kindes, das mit dem Fuss an einen Stuhl stösst und wütend auf diesen einschlägt, obwohl es weiss, dass der Stuhl nicht verletzt werden kann. Das Porträt des Hetmans konnte weder Angst noch Schmerz empfinden, und dennoch waren die Soldaten begeistert, als sie dieses hinrichteten.

Hass enthält stets den Wunsch, jemanden zu demütigen und zu verletzen. Wenn wir jemanden demütigen, vermögen wir dadurch unser Selbstwertgefühl zu steigern, so dass die Neigung zum Hass das Zeichen einer unreifen Persönlichkeit darstellt. Und auch ein Zeichen für begrenzten Verstand: Menschikow, der die Einwohner der ukrainischen Stadt massakrierte, konnte nicht einmal schreiben, und alle seine Briefe, die bis heute erhalten geblieben sind, stammen von Schreibern. Baturin, eine aus Holz erbaute Stadt, wurde damals, im November 1708, vollständig niedergebrannt.

Das Karma wird Menschikow ereilen. Er sollte bald Admiral, Generalissimus und sogar de facto Herrscher Russlands werden, doch eines Tages verbannte ihn der elfjährige russische Kaiser Peter der Zweite nach Sibirien, wo Menschikow während einer Pockenepidemie im Alter von 56 Jahren starb. Das Massaker von Baturin wird den Ukrainern für immer im Gedächtnis bleiben und ist Teil der neunhundertjährigen Geschichte der Feindschaft zwischen den beiden Nationen. Eine weitere Girlande des Hasses, die bis in die Zukunft reicht.

Die ständig schwelende Feindschaft zwischen den Völkern der Ukraine und Russlands (des Landes, das zuerst das Land Susdal, dann Moskowien, dann das Russische Reich, dann UdSSR und schliesslich Russische Föderation genannt wurde) wurzelt vielleicht in der berüchtigten Zerstörung von Kiew durch Fürst Andrei Bogoljubski im Jahr 1169.

Vielleicht ist sie aber auch schon früher entstanden, als Fürst Juri Dolgoruky 1132 – also vor fast neunhundert Jahren – Perejaslawl, eine Stadt unweit von Kiew, eroberte. Von 1228 bis 1462 führte das Moskauer Reich 160 Kriege. In den folgenden fünf Jahrhunderten führte es deren 329. Fast alle diese Kriege basierten auf der Idee, weitere Territorien zu erobern, benachbarte Nationen zu unterwerfen und sie alle zum grossen «russischen Volk» zu vereinen. Es war ein neunhundertjähriger Krieg, der bis heute andauert, und Hass breitet sich um ihn herum aus wie Tinte auf Löschpapier. Das Baturin-Massaker von 1708 ist nur ein Strudel in diesem gleichmässig fliessenden Strom aus Hass und Leid.

Es mag den Anschein haben, dass das Baturin-Massaker nichts mit der Gegenwart zu tun hat. Doch in der Nacht des 31. Oktober 1904 versuchten Aktivisten der Gruppe «Verteidigung der Ukraine», das erst fünf Monate zuvor errichtete Puschkin-Denkmal in Charkiw zu sprengen.

Auf einem Flugblatt schrieben sie, Puschkin sei ein Moskauer Schriftsteller, der in seinen Werken die Figur unseres höchsten Patrioten, des Hetmans Iwan Masepa, niederträchtig und falsch dargestellt habe.

Vor kurzem habe ich das Gedicht «Poltawa», in dem Puschkin über Masepa schreibt, wiedergelesen. Es ist ein romantisches, 1500 Zeilen langes Gedicht, das mich immer an die historischen Romane von Henryk Sienkiewicz erinnerte: starke Charaktere, viel Liebe, Schlachten und Unglücke. In diesem Gedicht kommt das Wort «Baturin» allerdings nur einmal vor, und auch nur in den Anmerkungen des Autors.

Nach der Lektüre von «Poltawa» hat man den Eindruck, dass in Baturin nur eine Person hingerichtet wurde. Eine, nicht fünfzehntausend. Also ja, das Gedicht begeht eine Geschichtsfälschung. Deshalb wurde das Puschkin-Denkmal 1904 in die Luft gesprengt: Ein dünner Faden des Hasses zog sich durch die Jahrhunderte, von der Vergangenheit bis in die Zukunft. Derselbe Faden zieht sich bis heute durch: Das Puschkin-Denkmal in Charkiw wurde wiederholt geschändet, einmal mit roter Farbe übergossen, deren Farbe verblüffend an echtes Blut erinnerte, und der Dichter schliesslich vom Sockel entfernt.

Medwedew wie Menschikow

Tausende und Abertausende solcher Fäden ziehen sich von der Vergangenheit bis in die Zukunft, so dass die Feindschaft zwischen unseren Völkern, die seit neun Jahrhunderten besteht, auch in zehn, zwanzig oder gar hundert Jahren nicht völlig verschwunden sein wird.

Gestern schrieb der ehemalige russische Präsident Medwedew, dass der Krieg zwischen der Ukraine und Russland ewig dauern werde.

«Die Wahrscheinlichkeit eines neuen Konflikts wird auf unbestimmte Zeit fortbestehen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Mit fast hundertprozentiger Sicherheit wird ein neuer Konflikt ausbrechen, ganz gleich, welche Sicherheitspapiere der Westen und das Kiewer Marionettenregime unterzeichnen. Weder die Assoziierung der Ukraine mit der EU noch der Beitritt dieses künstlichen Landes zur Nato werden ihn verhindern.»

Mit entwaffnender Dummheit fügte Medwedew noch hinzu, dass seiner Meinung nach die Ukrainer, wenn sie die Wahl zwischen dem Tod im ewigen Krieg und dem Leben hätten, letztlich das Leben in Russland wählen würden, weil jedwede Art Leben immer noch besser sei als der Tod.

Was für eine lächerliche Ansicht. Medwedew hat die gleiche Denkweise wie Menschikow. Wie dieser hätte auch er verstümmelte Leichen auf Flösse gelegt und diese den Fluss hinuntergeschickt, in dem naiven Glauben, dass er die Ukrainer auf diese Weise zwingen könnte, Gewalt und ewige Tyrannei, Unrecht und Sklaverei zu akzeptieren.

Er hat nicht die leiseste Ahnung von den Ukrainern.

Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. Bis vor kurzem hat er täglich für das NZZ-Feuilleton ein Kriegstagebuch geführt. – Aus dem Englischen von A. Bn.

Exit mobile version