Samstag, September 28

Der langjährige Hizbullah-Chef hat aus einer Guerilla-Truppe die stärkste Miliz des Nahes Ostens geformt. Nun ist er bei einem israelischen Luftangriff getötet worden.

Vor etwas mehr als einer Woche, nur zwei Tage nachdem Israel in der südlichen Beiruter Vorstadt Dayhieh Tausende Pager in die Luft gejagt hatte, trat Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah vor die Kameras. Mit Turban und sorgsam gepflegtem Bart kündigte er vor einem blutroten Hintergrund an, weiterkämpfen zu wollen. Der mächtige Führer wirkte beinahe wie immer: charismatisch, selbstbewusst und gefasst.

Es sollte seine letzte Rede gewesen sein. Gestern Abend kam Hassan Nasrallah bei einem gewaltigen israelischen Luftangriff auf die Hochburg seiner Miliz in Beirut ums Leben. Israels Armee bestätigte den Tod des Hizbullah-Chefs am frühen Samstagnachmittag. Wenig später vermeldete dies auch die Miliz selbst in einer Pressemitteilung.

«Sie haben Gott getötet»

Mit der Tötung Nasrallahs gelang Israel möglicherweise ein vernichtender Schlag gegen den Hizbullah. Denn der 64-jährige war mehr als nur ihr Generalsekretär. Er war der spirituelle Führer einer Bewegung, deren Macht weit über den kleinen Libanon hinaus reicht. Nasrallah war für viele Schiiten eine Mischung aus Prophet und Heiliger. «Sie haben ihren Gott getötet», sagte selbst ein christlicher Libanese gestern Nacht, kurz nachdem erste Gerüchte über den Tod des Hizbullah-Chefs die Runde machten.

Für viele Gegner Israels war Nasrallah der wichtigste Führer in ihrem Kampf gegen den grossen Feind. Er stand nicht nur der mächtigsten Miliz im Nahen Osten vor, sondern war auch eine der bedeutendsten Figuren in der von Iran gesteuerten «Achse des Widerstands» – welche von Teheran über Damaskus bis nach Jemen reicht. Manche Beobachter vergleichen seinen Einfluss sogar mit demjenigen des iranischen Religionsführers Ali Khamenei. Sein Tod wird deshalb den gesamten Nahen Osten erschüttern.

Nasrallah wurde 1960 in eine Schiitenfamilie im Beiruter Viertel Burj Hammoud geboren. Später floh er in den Wirren des libanesischen Bürgerkriegs nach Südlibanon, wo er sich der damals aufstrebenden schiitischen Amal-Bewegung anschloss. In den frühen Achtzigerjahren war er dann einer der Mitbegründer des Hizbullah – jener radikalen, islamistischen Miliz, die im kaputten Bürgerkriegs-Libanon unter Aufsicht der Iraner gegründet wurde, und im Verlauf der Jahre immer mächtiger wurde.

Sorgsam gepflegter Mythos

Nachdem er 1992 die Führung des Hizbullah übernahm, baute Nasrallah, der den schwarzen Turban der Abkömmlinge des Propheten Mohammed trug, die Miliz von einer Guerillatruppe zu einem der stärksten Kampfverbände des Nahen Ostens aus. Unter seiner Leitung legte die Truppe ein gewaltiges Raketenarsenal an und zwang die Israeli im Jahr 2000 zum Rückzug aus Südlibanon, welches sie damals besetzt hielten. Sie schaffte es auch, den kurzen Sommerkrieg von 2006 zu überleben, als Israel den Hizbullah schon einmal mit einer Militärkampagne in die Knie zwingen wollte.

Gleichzeitig gewann er in der Region immer mehr an Einfluss. Diesen hatte Nasrallah, der einst im irakischen Schiiten-Heiligtum Najaf studierte, aber nicht nur den militärischen Fähigkeiten seiner von Iran massiv unterstützen Miliz zu verdanken. Er war auch ein charismatischer Redner, der einen Kult um seine Person erschuf. Die Tatsache, dass er seit 2006 nicht mehr in der Öffentlichkeit zu sehen war und sich nur in Videoansprachen an seine Anhänger richtete, verstärkte diesen sorgsam gepflegten Mythos nur noch.

Doch in dem schier unaufhaltsam scheinenden Aufstieg Nasrallahs, dem es gelang, den libanesischen Staat komplett zu unterwandern und seinen Stempel aufzudrücken, lag bereits der Keim seines Untergangs. Spätestens als seine Kämpfer – die eigentlich den Anspruch hatten, dem verhassten Israel die Stirn zu bieten – im syrischen Bürgerkrieg an der Seite von Bashar al-Asad auf ihre muslimischen Brüder schossen, versank der Hizbullah in den Mühlen konfessioneller Fehden und im Sumpf der Machtpolitik.

Wichtigster Führer der Anti-Israel-Front

In ihrer libanesischen Heimat gilt die Truppe vielen als mitverantwortlich für den Niedergang des Landes, welches in einer tiefen Wirtschaftskrise versank. Zudem werden dem Hizbullah unzählige politische Morde angelastet – darunter derjenige am ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri. Zuletzt waren Nasrallah und seine militärisch unbesiegbar scheinenden Brigaden innerhalb Libanons, wo die Schiiten nur einen Teil der Bevölkerung ausmachen, zunehmend isoliert – und vielerorts regelrecht verhasst.

Gleichzeitig wurde der Hizbullah-Chef nach dem Tod des iranischen Generals Kassem Soleimani 2018 aber auch zum wichtigsten Führer der von Teheran gesteuerten Anti-Israel-Front. Seine Truppen bildeten Kämpfer in Irak oder Jemen aus, sein Wort hatte grosses Gewicht. Doch es war ein riskantes Spiel: Libanons Schiiten, deren Familien die Opfer für die Grossmachtpolitik des Hizbullah bringen mussten, waren am Ende trotz allem nur eine Minderheit im Kleinstaat Libanon.

Als Nasrallah am 8. Oktober aufseiten der Hamas in den Krieg gegen Israel zog und seine Einheiten anwies, den Erzfeind zu beschiessen, hatte er sein Blatt überreizt. Vermutlich hoffte er auf ein schnelles Ende der Kämpfe in Gaza oder darauf, dass sich die Israeli von den angeblich 150 000 Raketen des Hizbullah abschrecken liessen. Dies stellte sich als tödliche Fehlkalkulation heraus. Statt zum in seinen Reden so oft beschworenen Sieg über die verhassten Zionisten führte er den Hizbullah in eine militärische und politische Katastrophe, für die er nun mit seinem Leben bezahlte.

Der Beginn einer neuen Ära

Zum Zeitpunkt seines Todes sind Hunderttausende jener libanesischen Schiiten, die der Hizbullah stets zu beschützen vorgab, auf der Flucht. Israel Luftwaffe fliegt ununterbrochen Angriffe auf seine Stammlande. In Libanon, wo sich viele gar nicht mehr an die Zeit vor Nasrallah erinnern können, hat die Nachricht von seinem angeblichen Tod Wut und Unglauben – aber auch heimliche Freude und Erleichterung ausgelöst. Nasrallah war dermassen mächtig, dass sein Ende in dem Land eine neue Ära einläutet.

Der Hizbullah wird wohl auch ohne Nasrallah weiter bestehen. Zu tief geht der Glaube an den «Widerstand», wie die Anhänger ihren ewigen Kampf gegen Israel nennen. Ob die Miliz aber in ihrer jetzigen Form als regionaler Machtfaktor weiter existieren wird, ist jedoch ungewiss. Für Libanons Schiiten, die sich unter Nasrallah zur beherrschenden Macht im Land aufgeschwungen hatten, könnte dies das Ende ihrer Dominanz bedeuten. Für Iran, dem es nicht gelungen war, seinen wichtigsten Verbündeten zu schützen, ist es ein gewaltiger Rückschlag in seinen Ambitionen.

Für Israel wiederum ist die Tötung des Milizen-Führers – mit dem sie über 30-Jahre in inniger Feindschaft verbunden waren und der ihnen lange Zeit als berechenbar galt – auf den ersten Blick ein grosser Erfolg. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass ein Triumph nicht ausgemacht ist. 1992 töteten die Israeli den Chef des damals noch relativ schwachen Hizbullah in Libanon, Abas al-Mussawi. Kurz darauf präsentierte die angeschlagene Miliz einen neuen Chef. Er war jung und weitgehend unbekannt. Sein Name: Hassan Nasrallah.

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