Samstag, Oktober 5

Noch ist unklar, wie gross das Ausmass von gefälschten Unterschriften bei Initiativen und Referenden wirklich ist. Westschweizer Kantone machten allerdings schon 2019 auf Missstände aufmerksam – während die Politik in Bern beinahe unberührt blieb.

Ein Verein in Lausanne mit dem erklärten Ziel, die direkte Demokratie zu fördern, hat massenhaft Unterschriften für Volksinitiativen gefälscht. Vor allem in der Waadt, aber auch in benachbarten Kantonen. Betroffen sind offenbar fast ausschliesslich Bundesgeschäfte. In Bern wusste man schon länger davon. Aber der zuständige Direktor der Kantonsverwaltung sagt: «Die Waadt stand ziemlich allein da.»

Vincent Duvoisin ist der Waadtländer Direktor für Volksrechte und Gemeinden. Anfang 2019 meldeten ihm mehrere Gemeinden erstmals gefälschte Unterschriften, die sie bei Kontrollen entdeckt hatten. «Wir wussten, dass es ein Problem gab», erklärt Duvoisin gegenüber der NZZ. «Aber wir hatten nicht die Mittel, etwas dagegen zu tun.»

Nach dem Bericht von Tamedia über massenweise gefälschte Unterschriften macht Duvoisin damit auf ein möglicherweise systemisches Problem aufmerksam. «Es ging um Bundesgeschäfte, also gelten die rechtlichen Bestimmungen des Bundes.» Der Kanton könne zu Unterschriftensammlungen dafür keine eigenen Gesetze erlassen.

Fälschungen lassen sich nur schwer feststellen

Zudem hätten die Gemeinden nicht unbedingt die Mittel, die eingereichten Unterschriftenlisten zu kontrollieren, sagt Duvoisin. In kleineren Gemeinden sei dafür nur eine Person zuständig, die Kontrolle könne Stunden dauern. Nur anhand von Namen, Vornamen, Datum und Unterschrift seien Unregelmässigkeiten schwer feststellbar. Und wenn doch Verdacht bestehe, müsse man die betroffenen Personen erreichen.

Trotz diesen Schwierigkeiten hätten Waadtländer Gemeinden seit 2019 insgesamt ein paar tausend gefälschte Unterschriften gemeldet, sagt Duvoisin. Die genaue Zahl habe die Verwaltung nicht, weil sie die Dokumente sofort an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet habe. Die Dunkelziffer könnte einiges höher sein.

Wie gross das Problem wirklich ist, lässt sich vorerst nur schwer abschätzen. Die Bundeskanzlei erklärte in einer Medienmitteilung, sie könne bis zum Abschluss des eingeleiteten Strafverfahrens keine gesicherten Aussagen über das Ausmass der Fälschungen machen. Allerdings gebe es keine belastbaren Indizien dafür, dass über Vorlagen abgestimmt worden sei, die nicht rechtmässig zustande gekommen seien.

Die Bundeskanzlei habe die Kantone aber angewiesen, solche Verdachtsfälle ernst zu nehmen. Duvoisin sieht jedoch in erster Linie den Bund in der Pflicht: «Idealerweise wäre diese Problematik politisch und institutionell auf Bundesebene behandelt worden. Der Kanton hat keinen Handlungsspielraum in dieser Frage.»

Neuenburg wird aktiv

Das zeigte sich, als der Kanton Neuenburg 2020 die Initiative ergriff. Denn der Verein Incop aus Lausanne, der als Dienstleister für ein paar Franken pro Unterschrift für Initiativkomitees arbeitet, war auch dort aktiv gewesen. Das Neuenburger Kantonsparlament verbot in der Folge das bezahlte Unterschriftensammeln für kommunale, kantonale und eidgenössische Geschäfte. Der Bundesrat annullierte die Bestimmung in Bezug auf eidgenössische Vorlagen aber, weil sie Bundesrecht widerspreche.

Zu dieser Zeit hatten sich die Anzeichen von Unregelmässigkeit in grösserem Stil längst verdichtet. Der Bund wurde laut Vincent Duvoisin schon 2019 von der Waadt über die ersten Unregelmässigkeiten informiert. Der Kanton habe alle Waadtländer Gemeinden per Brief vor dem Problem gewarnt, in Koordination und in Kopie mit der Bundeskanzlei, sagt Duvoisin.

Ähnlich schildert es auch Marc Wilmes, der für Initiativkomitees Beglaubigungen bei den Gemeinden abwickelt. 2019 seien die ersten Fälle von systematischen Fälschungsaktionen nach Bern gemeldet worden, erklärt er auf Anfrage. Auch die welschen Medien begannen damals, über Unregelmässigkeiten bei Unterschriftensammlungen zu berichten.

Anfang 2020 seien die gefälschten Unterschriften auch am Jahrestreffen der kantonalen Fachverantwortlichen für Wahlen und Abstimmungen erörtert worden, allerdings «am Rande, eher informell». Nach Duvoisins Erinnerung berichteten damals auch Genf und Freiburg von ähnlichen Problemen; ein Vertreter der Bundeskanzlei sei dabei anwesend gewesen.

Die Bundesbehörden selber waren zu dieser Zeit ebenfalls aktiv geworden. 2022 reichte die Bundeskanzlei bei der Bundesanwaltschaft Strafanzeige wegen Verdachts auf Wahlfälschung ein. In aufwendigen Ermittlungen versuchte die Bundeskriminalpolizei seither, der Sache auf den Grund zu gehen.

Dennoch ist das Problem offenbar weder in den Staatspolitischen Kommissionen (SPK) noch in den zuständigen Gremien der Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) thematisiert worden. Der Mitte-Ständerat Daniel Fässler erklärte am Dienstag gegenüber der NZZ, ihn erschrecke das Ausmass der Missbräuche. Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» erklärte Greta Gysin, Präsidentin der SPK des Nationalrates, dass die Bundeskanzlei spätestens vor einem Jahr hätte informieren müssen.

Die Bundeskanzlei verteidigte ihre Zurückhaltung in ihrem Communiqué: Auf Nachfrage habe sie auf hängige Verfahren verwiesen. Doch das Amtsgeheimnis, die Unschuldsvermutung, die laufende Strafuntersuchung sowie der Schutz der Abstimmungsfreiheit geböten es, die Verdachtsfälle diskret zu behandeln: «Es gilt, zu vermeiden, dass die Bundeskanzlei mit ihren Informationen die Meinungsbildung zur einen oder zur anderen Initiative beeinflusst.»

Parteien sind auf professionelle Hilfe angewiesen

Spätestens jetzt müssten aber alle Fakten auf den Tisch, sagt Fässler: Wenn sich bewahrheiten sollte, dass es sich dabei nur um die Spitze des Eisbergs handle, bestehe dringender Handlungsbedarf. Bloss, was heisst das? Die Waadtländer Nationalrätin Léonore Porchet lancierte 2022 eine parlamentarische Initiative für ein Verbot von bezahlten Unterschriften. Missbräuche bei zwei Unterschriftensammlungen waren einer der Gründe dafür. Doch der Nationalrat lehnte ab. Zwei Strafnormen reichten aus, «um die schlimmsten Auswüchse zu verhindern», hiess es damals.

Marc Wilmes glaubt zu wissen, weshalb sich die Politik so schwer mit der Problematik tut. Ausser der SP, den Gewerkschaften und einigen Umweltverbänden sei heute kaum noch eine Organisation in der Lage, eigenständig Initiativen einzureichen, sagt er. Viele seien deshalb auf professionelle Hilfe angewiesen. Gleichzeitig sei es äusserst schwierig, Fälschungen wirkungsvoll zu bekämpfen: Die Gemeinden, die für die Beglaubigungen zuständig seien, seien damit überfordert.

Ähnlich argumentiert auch der Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser, Mitglied der Direktion des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA). Aus seiner Sicht ist es nicht erstaunlich, dass die politischen Rechte auch dafür genutzt werden, Profit zu machen. Ihn überrascht eher die Systematik, mit der selbst plumpe Fälschungen unverfroren eingereicht wurden. «Das deutet darauf hin, dass unser System zur Überprüfung der Unterschriften nicht sehr effizient ist», sagt er.

Solange die Gemeinden die Unterschriften ihrer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nicht gespeichert hätten, sei es fast nicht möglich, Fälschungen auf die Spur zu kommen. Und mit Strafbestimmungen könne man möglicherweise die gröbsten Auswüchse bekämpfen. Doch das allein werde der Tragweite des Problems kaum gerecht, sagt Glaser. Ihm erscheine der Umgang von Behörden und Politik mit Missbräuchen bei den Volksrechten teilweise sorglos – «wenn nicht sogar etwas naiv».

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