Sonntag, November 24

Mit dieser Frage haben sich nicht nur Philosophen, sondern auch Naturwissenschafter intensiv beschäftigt. Dabei haben sie Erstaunliches entdeckt.

Sind meine Gedanken vorbestimmt? Oder sind sie frei wie ein Vogel? Sicher haben Sie auch schon einmal über eine der ältesten philosophischen Fragen nachgedacht.

Die Debatte über den freien Willen läuft seit mehr als 2000 Jahren. Das wissenschaftliche Problem, das der Auseinandersetzung zugrunde liegt, lässt sich in einem Satz ausdrücken: Der Eindruck, dass Menschen autonome bewusste Entscheidungen treffen, ist schwer mit der Annahme zu vereinbaren, dass die Denkprozesse im Gehirn vollständig durch physikalische Gesetze erklärt werden können, also ursächlich determiniert sind.

Im Laufe der Zeit haben sich unter den Philosophen mehrere Lager gebildet. Die einen finden, dass sich ein freier Wille gut mit der Vorbestimmtheit allen Geschehens vereinbaren lässt. Andere glauben, dass sich die Vorbestimmtheit und ein freier Wille widersprechen. Um den Widerspruch aufzulösen, geben sie entweder die eine oder die andere Idee auf – also entweder die Vorbestimmtheit oder die Willensfreiheit.

In der Philosophie herrscht also kein Konsens. Kann die Naturwissenschaft vielleicht helfen, die Frage nach dem freien Willen eindeutig zu beantworten?

Naturwissenschafter haben den freien Willen untersucht

Der amerikanische Physiologe Benjamin Libet machte im Jahr 1979 ein Experiment zum freien Willen, das berühmt geworden ist. Er untersuchte, wann genau Menschen eine Entscheidung darüber treffen, eine Bewegung auszuführen, also einen bestimmten Muskel zu betätigen. Libet konstruierte das Experiment so, dass er überprüfen konnte, ob der Zeitpunkt der Entscheidung tatsächlich vor dem Zeitpunkt der Muskelbewegung lag.

Bei dem Experiment stellte sich heraus: Noch bevor wir uns einer Entscheidung bewusst sind, scheint sie bereits gefallen zu sein. Wenn wir denken, wir hätten gerade erst einen Entschluss gefasst, ist die Aktivität der Nerven, die zur Bewegung führt, im Körper schon eingeleitet worden. Libets Experiment scheint den Begriff vom freien Willen also zu widerlegen.

Die Konsequenzen könnten weitreichend sein. Einige Wissenschafter fordern zum Beispiel, dass man, wenn es keinen freien Willen gäbe, die Frage der Schuldfähigkeit vor Gericht neu diskutieren müsste. Denn: Wo kein freier Wille ist – ist da noch persönliche Verantwortung? Verneint man diese Frage, könnte das darauf hinauslaufen, dass die Verurteilung eines Täters nur noch dem Schutz der Gesellschaft dienen müsste, nicht mehr der Bestrafung.

Die Interpretation von Libets Experiment zur Willensfreiheit ist allerdings umstritten. Zum Beispiel mussten die Probanden selbst sagen, wann sie sich für die untersuchte Bewegung entschieden hatten. Dieser Zeitpunkt kann sehr subjektiv sein, was möglicherweise zu einer Verfälschung des Resultats führt. Andere Forscher führten verbesserte Nachfolgeexperimente durch. Aber auch die lieferten keine Eindeutigkeit.

Der Streit über die Existenz oder Nichtexistenz eines freien Willens hält in der Philosophie bis heute an. Naturwissenschaftliche Untersuchungen haben die Auseinandersetzung nicht beenden können. Wahrscheinlich können sie das auch gar nicht.

Ein absolut freier Wille ist nicht nötig

Viele Menschen wehren sich gegen die Behauptung, sie besässen keinen freien Willen. Sie reagieren geradezu gekränkt darauf. Wer uns die Fähigkeit zu völlig eigenständigen Entscheidungen abspricht, scheint unsere Würde anzukratzen.

Die Vorstellung, dass wir keine vollständige Willensfreiheit besitzen, ist in der Tat gewöhnungsbedürftig. Doch es lässt sich kaum wegdiskutieren, dass der menschliche Wille in viele kausale Zusammenhänge eingebunden ist – in biologische, in soziale. Darum gibt es nicht wenige Philosophen, die sagen, dass wir nur über eine bedingte Willensfreiheit verfügen.

Verzichten wir auf die Vorstellung eines absolut freien Willens, so werden wir dennoch weiterhin versuchen, unsere Entscheidungen so gut und so unabhängig zu treffen, wie wir das eben können. Wonach wir streben können, hat der Schweizer Philosoph Peter Bieri einmal so ausgedrückt: «Wir möchten uns das Gesetz unseres Willens selber geben können.»

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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