Sonntag, Oktober 20

Jeden Tag verschwinden 150 Arten, oder die Lebensräume von Indigenen beherbergen 80 Prozent der biologischen Vielfalt.
Das tönt beeindruckend. Doch solche Statistiken sind oft irreführend, manchmal sogar falsch.

Sie sind die Hüter der Natur: 80 Prozent der Biodiversität der Erde befinden sich in Gebieten von Indigenen. Diese Zahl las man in den letzten zehn Jahren überall: In Uno-Berichten, auf Websites von Umweltschutzorganisationen oder von Ministerien, ja sogar auf Protestbannern.

Doch als der Biologe Álvaro Fernández-Llamazares von der Autonomen Universität in Barcelona die Quelle dieser 80 Prozent prüfen wollte, fand er: nichts. Keine Daten, keine Berechnung. Nichts ausser zwei Berichten der Uno und der Weltbank, aus denen die Zahl immer wieder zitiert wurde. «Es gab Policy-Berichte, die sie benutzten. Es gab wissenschaftliche Berichte. Sie wurde in mehr als 180 wissenschaftlichen Publikationen zitiert», sagt Fernández-Llamazares. Fünf weitere Jahre suchte er mit Kolleginnen und Kollegen nach einer Quelle – vergebens.

Jetzt haben sie im Fachmagazin «Nature» einen Bericht veröffentlicht, der zwar betont, wie wichtig Indigene für den Schutz der Natur seien, aber dass die 80 Prozent «haltlose Statistik» seien. Allein die Idee, dass man die Biodiversität «in zählbare Einheiten zerlegen und diese weltweit kartieren kann», sei abwegig. Immerhin gibt es Millionen unbekannte Arten. Er werfe niemandem vor, die Zahl verwendet zu haben, sagt Fernández-Llamazares. Es gehe um etwas anderes: «Was wir infrage stellen, ist: Wie kann es sein, dass diese Zahl für so viele Jahre nicht hinterfragt wurde?»

Hat die Biodiversitätsforschung ein Problem mit unzuverlässigen oder gar haltlosen Zahlen, mehr als andere Wissenschaften? Die Erforschung der Natur ist heute von Statistik getrieben. Zwar entwickelte bereits Alexander von Humboldt im 19. Jahrhundert die «botanische Arithmetik», um die Pflanzendecke der Welt mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu erschliessen. Aber seit es möglich ist, mit Satelliten die Vegetation der Erde zu scannen und Tiere mit Kameras, Mikrofonen und KI zu erkennen, schreitet die Digitalisierung der Natur in grossen Schritten voran.

Mit der Uno-Biodiversitätskonvention von 1992 verpflichten sich Staaten, Naturzustandsberichte vorzulegen. Im jüngsten Bericht der Schweiz ist von der «Vielfalt der Tagfalter-Artengemeinschaften» über die «Anzahl Durchgangshindernisse bei der Wanderung von Fischen» bis hin zur «Änderung der Gehölzdeckung in Hochmooren» alles in Zahlen erfasst, was in der Schweiz wächst und lebt. Und natürlich ist auch das wichtigste politische Biodiversitätsziel der Vereinten Nationen eine Zahl: «30 by 30» – bis 2030 sollen 30 Prozent der Erdoberfläche unter Naturschutz gestellt werden. Das ist die eine Seite.

Kritik kommt nicht immer gut an

Die andere Seite ist, dass sich immer wieder vielzitierte Zahlen als problematisch herausstellen. Dass zum Beispiel jeden Tag 150 Arten aussterben, ist ähnlich haltlos wie die fragwürdigen 80 Prozent. In der Ausgabe vom 14. Juli beschäftigte sich die «NZZ am Sonntag» mit den 26 Millionen Elefanten, die es einmal in Afrika gegeben haben soll. Wie sich gezeigt hat, ist diese Zahl aber wohl eher das Resultat rudimentärer statistischer Modelle und stereotyper Vorstellungen Afrikas (die Datenplattform «Our World in Data» zog sie mittlerweile zurück).

Doch Kritik kommt nicht immer gut an. Fernández-Llamazares und seinen Kollegen wird mittlerweile gar «unethisches» Verhalten vorgeworfen, weil sie mit ihrer Kritik Bemühungen von Indigenen torpedieren würden, die mit den 80 Prozent politische Rechte einforderten. «Mongabay», ein in der Branche vielgelesenes Medium, verstieg sich gar in der Ansage, dass die 80 Prozent nicht falsch seien, lediglich «untererforscht».

«Wir sind in den eigenen Reihen nicht ehrlich mit uns selbst», sagt Matthias Glaubrecht vom Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels in Hamburg, ein führender Forscher auf dem Gebiet: «Biologie ist eine ‹schmutzige Wissenschaft›, sozusagen: Zahlen sind hier eine Hilfskonstruktion, um einen Casus zu belegen, aber immer mit einem grossen Fragezeichen versehen.»

Über eine Art wissen wir gut Bescheid: den Menschen. Er hat sich stark vermehrt und das statistisch akribisch dokumentiert. Auch seine Nutztiere sind durchgezählt. Schwierig wird es bei den wilden Tieren. Wie viele Zackenbarsche gibt es? Wie viele Schuppentiere?

Genau das versucht der Living-Planet-Index (LPI) zu ermitteln, heute einer der wichtigsten Biodiversitäts-Indikatoren. Alle zwei Jahre publiziert der WWF zusammen mit der Zoologischen Gesellschaft von London (ZSL) ein Update, wie sich Wirbeltier-Populationen verändert haben. Vergangene Woche war es wieder so weit.

«Die Zahlen waren irgendwann verstörend»

Seit 1970 ist laut dem LPI die Zahl der Populationen im Schnitt um 73 Prozent geschrumpft. 56 Prozent sind es in den Meeren, 69 Prozent auf dem Land und 85 Prozent im Süsswasser. Am schlimmsten trifft es Lateinamerika und die Karibik mit einem Rückgang von 95 Prozent. Die Kurven haben eine gewisse Überzeugungskraft. Sie sind ummantelt von einer statistischen Unsicherheit von plus/minus 5 Prozentpunkten, in denen die Zahl schwanken kann. Das wirkt sehr präzise.

Nur sind die Zahlen für Laien nicht ganz einfach zu interpretieren. Ja selbst Profis legen sie oft falsch aus. 73 Prozent Rückgang heisst nicht, dass von 100 Tieren noch 27 da sind, sondern dass alle Populationen unterschiedlichster Grösse im Schnitt um 73 Prozent zurückgegangen sind. Eine kleine Population verändert den Schnitt genauso wie eine grosse. Über die Anzahl Tiere, die am Ende noch das sind, sagt die Zahl nichts aus.

«Die Zahlen waren irgendwann so verstörend, dass wir und andere Wissenschafter entschieden haben, die globalen Trends mit eigenen Berechnungen zu überprüfen, aber auf Basis der gleichen Daten wie der LPI», erklärt Anna Toszögyova, Biologin an der Karls-Universität in Prag. Im Juni 2024 veröffentlichte sie mit zwei Kollegen in «Nature Communications» ihre eigene Berechnung des LPI – und kam zum Teil auf völlig andere Trends.

Die Datenbank, auf denen der LPI basiert, ist ein gutes Beispiel für das, was Glaubrecht als «schmutzige Wissenschaft» bezeichnet, die die Biologie naturgemäss ist. Sie ist zwar eindrücklich, umfasst Daten zu 5600 Wirbeltieren in 42 000 Populationen, die ein Team von Wissenschaftern in London vor allem aus Studien akribisch zusammenträgt.

Aber die Zahlenreihen sind auch voller Nullen, also Datenlücken. «Die Nullen sind entweder ökologisch bedeutsam – etwa, weil die Population dauerhaft oder vorübergehend verschwunden ist –, oder es sind Stichprobenfehler, die durch eine sehr geringe Populationsdichte verursacht werden», sagt die Biologin Toszögyova. Wie also interpretiert man diese Nullen?

Die Kurve biegen und den Artenverlust stoppen

Anders als die Wissenschafter der ZSL haben Toszögyova und ihre Kollegen die Nullen entfernt und nur mit den tatsächlich vorhandenen Zahlen gerechnet. Ausserdem beschränkten sie sich auf Datenreihen mit mindestens fünf statt nur zwei Zählungen. Der Effekt war enorm: Der globale Rückgang halbierte sich beinahe. Bei den Arten an Land glichen sich Zunahme und Rückgang sogar aus. Bei den Wassertieren waren die Unterschiede eher klein.

Die Londoner Kollegen können die Berechnung der Prager allerdings nicht nachvollziehen. Unvollständige Daten mit vielen Nullen kämen eher bei Reptilien oder Amphibien vor und stammten eher aus den Tropen – wo auch der Artenschwund grösser sei, sagt Robin Freeman von der ZSL: «Wenn die Datenlücken an Orten mit stärkerem Rückgang auftreten, die schwieriger zu überwachen sind, fühlt es sich seltsam an, sie auszuschliessen.»

Die Kontroverse um die Berechnung des LPI wirft aber noch eine andere Frage auf: Warum führt man so lückenhafte Zahlenreihen überhaupt in einer einzigen globalen, leicht missverständlichen Zahl zusammen? Der LPI wird seit der ersten Auflage 1998 auch als Kommunikationsmittel des WWF benutzt. Kein anderes Tool solle damals so effektiv gewesen sein, um den Rückgang der Arten zu vermitteln, schreibt die ZSL. Übersetzt in 16 Sprachen wurde allein die Ausgabe von 2020 in weltweit 3560 Medienberichten erwähnt und erzielte 290 Millionen Views in den sozialen Netzwerken.

Es scheint, dass Öffentlichkeit und Politik solche Zahlen wollen. Der LPI übersetzt Tausende Studien in eine einfache Kurve und definiert ein gemeinsames Ziel: «Bend the curve» – die Kurve biegen und den Artenverlust stoppen. So wie bei Corona. Und bei noch einer anderen, noch berühmteren Kurve: der globalen Temperatur.

«Die Biodiversitäts-Leute haben diese Idee genommen und sich gedacht: ‹Wenn wir nur so eine Zahl hätten, dann könnten wir wirklich einflussreich werden, so wie die Klima-Leute!›», sagt Erle Ellis von der University of Maryland. Ellis forscht zum Anthropozän, also zur Frage, welche Spuren die Menschheit auf der Erde und in der Natur hinterlässt. Zahlenziele sieht er skeptisch.

Kann man den Daten dahinter vertrauen?

«Man versucht nach Zahlen und Zielen zu managen», sagt Ellis. «Es ist ein bisschen, wie eine Fabrik zu führen. Es hat eine gewisse Effizienz und einen gewissen Professionalismus. Das ist die schöne Phantasie dieser Zahlen.» Denn anstatt das Problem bei der Wurzel zu packen und eine zerstörerische Praxis wie das Verbrennen von Öl oder das Verdrängen von Arten zu lassen, beginnt man alles mit allem zu verrechnen – und Verantwortung zu verschieben.

Gerade macht eine Studie von sich reden, die zu quantifizieren versucht, wie «Biodiversitätsverlust das menschliche Wohlbefinden beeinträchtigt», wie das Fachmagazin «Science» schreibt: In New England brachen 2006 Fledermaus-Populationen ein, wegen Pilzerkrankungen, die an den Rucksäcken und Wanderschuhen europäischer Backpacker eingeschleppt worden sein sollen. Bauern hätten daraufhin 31 Prozent mehr Insektizide verwenden müssen, rechnet der Ökonom Eyal Frank von University of Chicago vor. Das habe die Säuglingssterblichkeit in der Region um 8 Prozent gesteigert.

Mit solchen Rechnungen wird versucht, die Kosten und Folgen von Biodiversitätsverlusten zu quantifizieren und womöglich – ähnlich wie bei CO2-Emissionen – zu kompensieren. Im Grunde liessen sie sich für jede Tierpopulation im LPI aufmachen. Umso dringender ist die Frage: Wie sehr kann man den darunterliegenden Daten vertrauen?

Wie schwierig die Deutung der Zahlen ist, zeigt auch, dass die globale LPI-Kurve paradoxerweise seit etwa 2010 stagniert. Haben wir etwa das Artensterben gestoppt und die Kurve gekriegt? «Wir müssen vorsichtig sein, dies als nachlassenden Druck auf die Natur zu interpretieren», sagt Andrew Terry von der ZSL: «Wir haben es mit äusserst komplexen Datensätzen von Tausenden von Populationen zu tun, die alle auf lokaler Ebene unterschiedliche Auswirkungen erfahren, sowohl positive als auch negative.»

Gibt es denn wenigstens eine globale Zahl, auf die der Naturschutz bauen kann? Glaubrecht, der Biologe aus Hamburg, sieht es pragmatisch: die 30 Prozent Schutzgebiete. Nicht weil die Zahl besonders solide ist, im Gegenteil. So wie auch das 1,5-Grad-Ziel nur eine politische Zahl ist, sei auch das Biodiversitätsziel «30 by 30» eine Art Leitplanke. «Es ist kein empirischer Parameter», sagt Glaubrecht: «Aber mit der gleichen Nichtpräzision wie die Klimawissenschaft können wir als Biodiversitätsforscher sagen: Es ist eine gute Idee, wenigstens 30 Prozent der Erde unter Schutz zu stellen.»

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