Sonntag, September 29

Wie ein Streit ums Jacke-Anziehen vor einem Zürcher Gericht endet.

Eine Gruppe Polizisten hastet geräuschvoll über die Treppenstufen des Bezirksgerichts Horgen. Sie begleiten zwei Männer und zwei Frauen in Handschellen. Die Verhandlung beginnt bald, es geht um gewerbs- und bandenmässigen Diebstahl.

Einen Stock tiefer, im kleinen Saal, steht eine junge Frau, Kleinkinderbetreuerin von Beruf. Sie muss sich ebenfalls verantworten: Sie soll die Ehre eines Zweijährigen mit einer Bemerkung verletzt haben.

«Als der Zweijährige trotz warmen Temperaturen darauf beharrte, seine Jacke anzuziehen», heisst es in der Anklageschrift, «sagte die Beschuldigte, in für den Geschädigten sowie auch andere Kinder hörbarer Lautstärke, zu zwei Arbeitskolleginnen, dass er dumm sei.» Und sie soll gefragt haben, was mit diesem Kind «falsch laufe».

All dies soll sich in einer Kindertagesstätte in einer Gemeinde des Bezirks Horgen im Frühling 2023 zugetragen haben. Die beiden Arbeitskolleginnen haben den Vorfall der Kita-Leitung gemeldet. Diese hat die Eltern informiert. Und die haben die Frau angezeigt.

«Das sind wir unserem Kind schuldig»

Für die Beschuldigte geht es um viel. Wegen Beschimpfung droht ihr eine bedingte Geldstrafe von 1200 sowie eine Busse von 300 Franken. Zum Problem würde vor allem der Strafregistereintrag: Ein solcher würde die berufliche Zukunft der 30-jährigen Frau gefährden. Von der Kita wurde sie kurz nach dem Vorfall noch in der Probezeit entlassen, ohne Angabe von Gründen. Heute arbeitet sie als Hortleiterin.

Vor Gericht streitet die Frau rundweg ab, den Buben jemals als dumm bezeichnet zu haben. Sie will sich an den Vorfall insgesamt nicht erinnern können. In einer Kita gebe es viele derartige alltägliche Situationen.

Die Beschuldigte sagt, ihre beiden Kolleginnen hätten sie angeschwärzt – aus Frust. Sie habe die Leitung der Kita kurz zuvor übernommen und einiges verändern wollen. Zum Beispiel Ausflüge mit den Kindern im Dorf machen statt die immergleichen zwei Spaziergänge. Das sei ein Mehraufwand, den die beiden gescheut hätten. Deshalb hätten sie sie loswerden wollen.

Der Geschädigte selbst ist aus naheliegenden Gründen nicht vor Ort. Sein Vater sagt, mit seiner Anzeige wolle er dazu beitragen, dass solche Fälle nicht mehr vorkommen. «Das sind wir unserem Kind schuldig.»

Die Beschuldigte überlässt das Reden weitgehend ihrer Rechtsanwältin. Diese führt Widersprüche in den Aussagen der beiden Mitarbeiterinnen ins Feld. Und: «Der Privatkläger sagte seinen Eltern nichts, obwohl er schon sprechen konnte. Wäre dies wirklich passiert, hätte er doch sicher davon zu Hause erzählt und Mühe bekundet, wieder in die Kita zu gehen.»

Die Eltern, so die Anwältin weiter, seien verärgert gewesen über die nachweislich schlechten Zustände in der Kita. Das sei verständlich. Aber es sei unfair, an der Beschuldigten ein Exempel zu statuieren. «Hier wird aus einer Mücke ein Elefant gemacht.»

Dieser Vergleich gefällt dem Vater nicht, wie er im Gespräch mit der NZZ in einer Verhandlungspause sagt. Unter Erwachsenen sei es vielleicht eine Lappalie, wenn einer den anderen als dumm bezeichne. «Aber wir reden von Kleinkindern. Sie sind schutzlos. Dass ‹dumm› und ‹blöd› alltägliche Äusserungen sein sollen, entspricht nicht meiner Vorstellung.» Er betrachte dies als verbale Gewalt.

Lebensfremd sei auch das Argument der Verteidigerin, wonach ein Zweijähriger den Eltern verlässlich von so einem Vorfall erzählen solle. «Unser Sohn weiss nicht einmal, was dumm heisst, wir verwenden dieses Wort nicht.»

«Nicht gut, nicht gut, nicht gut»

Der Vater schildert, wie es zur Anzeige kam. In der Kita habe es schlimme Vorfälle gegeben. Kindern sei Essen in den Mund gestopft, sie seien geschüttelt worden. Es habe Kinder gegeben, die ihren Eltern beim Abholen gesagt hätten: «Nicht gut, nicht gut, nicht gut.» Wenn sie daheim hätten essen sollen, hätten sie gezittert. Das habe andere Kinder betroffen – seinen Sohn zum Glück nicht.

Aber sie hätten wissen wollen, was es mit dem Vorfall mit der Jacke auf sich gehabt habe. Sie seien an die Gemeinde als Aufsichtsbehörde und an andere Stellen gelangt. Dort habe man ihnen beschieden, eine Anzeige sei der einzige Weg, eine Untersuchung in die Wege zu leiten. «Wir wollten wissen, was passiert ist.» Und im besten Falle dazu beitragen, dass sich weniger solche Fälle zutragen.

Sein Sohn sei mittlerweile in einer anderen Kita und dort sehr zufrieden, sagt der Mann. Gegen die Mitarbeiterin persönlich habe er nichts. Es sei jetzt an den Vertretern des Justizsystems, ihre Arbeit zu machen. Er werde nach dem Urteil «weder lachen noch weinen».

Aus Sicht des Richters ist es klar, dass die beschuldigte Kleinkindbetreuerin den Zweijährigen als dumm bezeichnet hat. Nicht eindeutig festzustellen sei dies beim zweiten Teil der Aussage («Was läuft mit diesem Kind falsch?»).

Bei der Bewertung wird es komplizierter. Bei Erwachsenen, so der Richter, gebe es alltägliche abschätzige Bemerkungen, die man aushalten müsse. Wenn man jemanden als «dumm» qualifiziere, sei dies noch lange keine Beschimpfung. Bei einem Zweijährigen stelle sich die Frage, ob er den Ausdruck überhaupt verstehe.

Der Frau sei das Wort offensichtlich «herausgerutscht», findet der Richter. Er spricht die Frau frei. Und sagt zu ihr: «Sie sollten es besser wissen, Sie hätten sich nicht hinreissen lassen dürfen. Aber was passiert ist, erreicht nie das Mass, ab dem eine Verurteilung gerechtfertigt ist.» Die Kosten von rund zehntausend Franken bleiben am Staat hängen.

Der Richter wird grundsätzlich: «Es ist fraglich, ob der Rechtsapparat in so einem Fall bemüht werden muss. Wo bleibt der gesunde Menschenverstand? Was erreicht man, wenn man diese Frau juristisch verfolgt?» Es brauche ein gewisses Vertrauen in die Kita-Angestellten: «Es kann nicht sein, dass sie sich ständig beobachtet fühlen und Angst vor Anzeigen haben müssen, weil sie etwas falsch machen könnten.»

Den Eltern macht der Richter keinen Vorwurf. Sie seien juristische Laien. Aber die Staatsanwaltschaft, findet er, hätte ruhig «mutig sein» können.

Was in diesem Fall geheissen hätte: Das Verfahren einzustellen, bevor es zum Prozess kommt.

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