Montag, September 30

Bild Ullstein, Kolorierung NZZ

Warum ist den Opfern das Etikett Genozid so wichtig?

Die meisten Menschen geben ungern zu, wenn sie falschliegen. Josef Schelbert konnte sein Leben lang nicht zu seinen Fehlern stehen. Der Kreis der Opfer, die sich an die Medien wandten, wurde grösser, die Beweislast wog schwer und schwerer: Aber Schelbert schien unbeeindruckt. Er war Polizist, Kantonsrat, ein angesehenes und bestens vernetztes Mitglied der Schwyzer Gesellschaft. Und eins wollte er garantiert nicht sein: Täter.

Wäre Schelbert zu seinen Fehlern gestanden – sein halbes Leben wäre ein Irrtum gewesen.

Schelbert ist einer von Hunderten von Schweizerinnen und Schweizern, die bis in die 1980er Jahre an der Verfolgung von Jenischen und Sinti beteiligt waren. Diese Volksgruppen lebten vorwiegend in der ländlichen Schweiz, vor allem in Graubünden und im Kanton Schwyz. Ihre Siedlungen aus Wohnwagen, vor denen die Kinder spielten und die Eltern ihrem Handwerk nachgingen, prägten das Landschaftsbild. Die «Zigeuner» oder «Fecker», wie man sie damals nannte, lebten von Gelegenheitsarbeiten wie Reparaturen von Pfannen, Schirmen und Kesseln, oder sie verkauften von Hand geflochtene Körbe und Seile.

«Historische Mitverantwortung» der Schweizer

Im Jahr 1972 enthüllte der Journalist Hans Caprez in einer Artikelserie im Magazin «Beobachter» einen Skandal. Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute hatte den Jenischen und den Sinti systematisch über Jahrzehnte ihre Kinder weggenommen. In den folgenden Jahren kamen immer mehr Details ans Licht, zahlreiche Opfer gelangten mit ihrer Leidensgeschichte an die Medien.

Die Behörden entrissen Hunderte jenische Kinder ihren Eltern, brachten sie in Pflegefamilien und Heime, wo sie oft Schläge und psychische Gewalt erlitten oder als billige Arbeitskräfte ausgenutzt wurden. Suchten Eltern nach ihren Kindern, verhinderten Vormundschaftsbehörden und kirchliche Organisationen den Kontakt und vernichteten persönliche Briefe.

Am meisten störte die Behörden das «Vagantentum», das Leben im Wohnwagen, finanziert durch Gelegenheitsarbeiten. Die Lebensweise wurde als Bedrohung der bürgerlichen Kulturordnung betrachtet, eine Gefahr für Schweizer Wohlstand und Entwicklung. Aus diesem Grund wiesen die Behörden jenische Frauen und Männer ohne rechtliche Anhörung in Anstalten ein, wo sie für wenig Lohn unter anderem für die Schweizer Textilindustrie oder im Strassenbau arbeiteten.

Für Frauen reichte es oft schon, unverheiratet schwanger zu werden, um «versorgt» zu werden – so nannten die Behörden die administrativen Zwangsmassnahmen. Psychiater rieten in Gutachten zur Zwangssterilisation der Jenischen, um zu verhindern, dass sich das «Vagantentum» weiter ausbreiten könne.

Die Forschergruppe um den Historiker Roger Sablonier, die dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte im Auftrag der Landesregierung Ende der 1990er Jahre erforscht hat, bezeichnet das Schicksal von Jenischen und Sinti in ihrem Bericht als «Modellfall von Diskriminierung und Desolidarisierung» einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Eine vom Bund eingesetzte interkantonale Arbeitsgruppe kam zum Schluss, dass eine «historische Mitverantwortung des Schweizervolkes» gegeben sei. Denn die Medien hätten den Umgang mit dem «Vagantenproblem» gutgeheissen, und als Folge davon hätten zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer für das Hilfswerk gespendet.

Saubere Hände der Eidgenossen

Für das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» stand die Schuld der Schweiz bereits in den 1980er Jahren fest. «Sie bauten keine KZ wie die Nazis; Internierungslager genügten ihnen. Sie brachten auch keine Zigeuner um; sie nahmen ihnen bloss vorsorglich die Kinder weg, um ‹der Landplage› Herr zu werden.» Die Eidgenossen, schrieb der Autor weiter, sollen schon immer saubere Hände gehabt haben, wenn andere sie in Unschuld wuschen.

Als der Artikel 1987 erschien, war das ganze Ausmass des Unrechts, das Jenischen und Sinti widerfahren ist, noch nicht vollständig im Bewusstsein der Schweizer Öffentlichkeit angelangt. Es folgten drei Jahrzehnte der zaghaften Aufarbeitung: Auf Druck der Jenischen entschuldigte sich die Schweizer Regierung dafür, das Hilfswerk der Pro Juventute unterstützt zu haben. Dann setzte der Bund zwei Kommissionen ein: Eine hilft «Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen», wie die Betroffenen genannt werden, an ihre Akten zu kommen. Die andere verwaltet einen Fonds, aus dem jeweils bis zu 25 000 Franken Wiedergutmachung bezahlt werden.

Schliesslich durchforstete eine Historikergruppe das umfangreiche Archiv der Pro Juventute, deren «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» in den Jahren 1926 bis 1973 etwa 600 Kinder ihren Eltern entrissen hatte. Damals wurde klar: Der Bund unterstützte das Hilfswerk mit substanziellen Beiträgen. Und da die Praxis der Pro Juventute breite Zustimmung bei den Behörden im ganzen Land fand, trennten Gemeinden oft von sich aus «Vagantenkinder» von ihren Eltern. Minderheitenorganisationen schätzen , dass die Gesamtzahl entrissener Kinder damit auf rund 2000 steigt.

Fünfzig Jahre ist es her, seit das letzte jenische Kind seinen Eltern weggenommen wurde. Über vier Jahrzehnte wurde die Verfolgungsgeschichte der Jenischen und der Sinti politisch und historisch aufgearbeitet.

Die Schweizer mussten sich schon oft mit der eigenen Schuld auseinandersetzen. Zum Beispiel als Ende der 1990er Jahre bekanntwurde, dass sich das Land an Nazi-Raubgold bereichert hat. Oder wie die Behörden jüdische Flüchtlinge an der Grenze zurück in den sicheren Tod schickten. Und es gab die Verbrechen an den sogenannten Verdingkindern, die während 160 Jahren zu Tausenden ihren verarmten Familien entrissen und zur Zwangsarbeit an Bauernhöfe geschickt wurden.

Doch nun, im Jahr 2024, muss sich die Schweiz erstmals der Frage stellen, ob in diesem Land ein Genozid geschehen ist.

Im Januar 2024 erhielt Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider einen Brief. Darin baten die Radgenossenschaft und andere Vertreter von Jenischen und Sinti der Schweiz um die Anerkennung ihrer Leidensgeschichte als «kulturellen Genozid». Die Regierung entschied, die Frage rechtlich abzuklären. Das Bundesamt für Kultur beauftragte Oliver Diggelmann, Professor für Völker- und Staatsrecht an der Universität Zürich, mit dem Gutachten. Im Zentrum seiner Arbeit steht diese Frage: Haben die Schweizer Behörden, gemeinnützige Organisationen, Kirchenvertreter und Psychiater des Landes zusammengearbeitet mit dem Ziel, die Kultur der Jenischen und der Sinti auszulöschen?

Wie weist man einen Genozid nach?

Das Wort Genozid lässt sofort an das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Europas denken: Die systematische staatliche Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen jüdischen Familien, Männern, Frauen und Kindern. Die Mutter aller Genozide ist ein physischer Völkermord.

Was aber ist ein kultureller Genozid?

Der polnische Jurist Raphael Lemkin prägte den Begriff Anfang der 1930er Jahre, nachdem er Adolf Hitlers «Mein Kampf» gelesen hatte. Der Schrecken des bürokratisch organisierten Massenmordes war damals unbekannt. Lemkin verstand unter Genozid nicht nur die physische Auslöschung von Leben, sondern auch eine planmässige, kulturelle Vernichtung einer Volksgruppe etwa durch Kindswegnahmen oder Zwangssterilisationen.

Im Jahr 2000 nahm die Schweiz den Begriff in das Strafgesetzbuch auf. Laut Artikel 264 ist der Tatbestand des Völkermords auch dann erfüllt, wenn «Kinder der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt» werden. Auch Massnahmen zur Geburtenverhinderung zählen dazu.

Diese zwei Merkmale erinnern an das Schicksal der Jenischen und der Sinti: Das bewusste Zerreissen von Familien, die Platzierung von Kindern zur Umerziehung in Heimen, wo ihnen Sprache und Sitten ausgetrieben und der Kontakt zu den Eltern gewaltsam unterbunden wurde. Hunderte Männer und Frauen wurden auf Beschluss von Vormundschaftsbeamten und Psychiatern unter Zwang sterilisiert, um eine Nachkommenschaft der «Vaganten» zu verhindern.

Jurist Diggelmann steht vor der Schwierigkeit, den Nachweis einer genozidalen Absicht zu erbringen – also Belege zu finden dafür, dass es eine kollektive Absicht gab, Jenische und Sinti als Volksgruppen zu dezimieren oder auszuradieren.

Pädokrimineller leitet Kinderhilfswerk

Eine wichtige Quelle dürften Schriften sein, die der Gründer des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» Alfred Siegfried hinterlassen hat. In einer Publikation aus dem Jahr 1964 schreibt er: «Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinander reissen.» Siegfried schrieb nicht nur für die Fachwelt, sondern er produzierte einen gigantischen Aktenberg über Hunderte seiner Mündel. Aus diesem Grund ist über seine Aktivitäten und den Antrieb dahinter einiges bekannt.

Siegfried suchte mit riesigem Aufwand nach Jenischen und ihren Kindern: Spürte den Familien in Zeitungsartikeln nach, befragte Polizeiposten in der ganzen Schweiz und erforschte die Stammbäume der Jenischen. Vor seiner Anstellung bei der Pro Juventute arbeitete Siegfried als Lehrer an einem Gymnasium in Basel, das ihn 1924 entliess, nachdem er von einem Gericht wegen sexuellen Missbrauchs eines Schülers verurteilt worden war. An seinem neuen Arbeitsort Zürich war er nach wenigen Jahren bestens vernetzt in der Stadtelite. In der NZZ publizierte er Artikel über das «Zigeunerproblem». Die mediale Präsenz half Siegfried dabei, in der Bevölkerung für sein Hilfswerk zu werben und Spendengelder zu sammeln.

Siegfried ist nur der Prominenteste von ihnen: Es sind Psychiater, Gemeindemitarbeiter, Polizisten, Kirchenvertreterinnen, Sachbearbeiter, und Amtsvorsteher, deren Namen aus Patientendossiers und Polizeiakten hervorgehen, die Opfer in den letzten Jahrzehnten vom Bundesarchiv ausgehändigt bekommen haben. In den Augen der Betroffenen sind sie Täter, die niemals zur Rechenschaft gezogen worden sind. Keine Staatsanwaltschaft hat Anklage erhoben, kein Gericht urteilte über ihre Taten. Entschuldigt haben sie sich nie bei ihren Opfern. Und die meisten sind wie der Hilfswerkgründer Siegfried nicht mehr am Leben.

In den Medien waren die Opfer der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, wie die gezielte Verfolgung der Jenischen und anderen Gruppen in der Amtssprache genannt wird, über die Jahre immer wieder präsent: Sie standen mit Namen und Gesicht zu ihren Biografien, die von den Schweizer Behörden und privaten oder kirchlichen Organisationen zerrissen wurden. Sie teilen das Schlimmste, was ihnen zugestossen ist, mit der Öffentlichkeit.

Seltener hörte man von den Tätern. Einer von ihnen ist der Schutzaufsichtsbeamte Josef Schelbert. Seine Geschichte zeigt, wie das Leid der Betroffenen bis weit in die Gegenwart relativiert und kleingeredet wurde.

Fast vierzig Jahre war Schelbert Schutzbeamter des Kantons Schwyz. Er übernahm das Amt 1948 von einem Priester, nachdem er als Dorfpolizist nach Gersau geschickt worden war. Heute würde man wohl sagen, dass Schelbert eine Mischung aus Ordnungshüter und Sozialarbeiter war. Die Machtfülle Schelberts ist für heutige Begriffe kaum vorstellbar: Männer und Frauen, die ihm als liederlich, arbeitsscheu oder untüchtig auffielen, liess er auf unbestimmte Zeit wegsperren – ohne rechtliche Anhörung, die den Betroffenen zugestanden hätte.

Männer und Frauen brachte er in Anstalten, wo sie für wenig Lohn hart körperlich arbeiten mussten, zum Beispiel im Strassenbau. Verlassen konnten sie diese Erziehungsanstalten, wie sie auch genannt wurden, erst, wenn Schelbert es ihnen erlaubte.

Allmächtiger Polizist im Kanton Schwyz

Behörden konnten Menschen ohne rechtliche Anhörung in zahlreiche Institutionen abschieben, wenn sie nicht den bürgerlichen Idealen entsprachen. Neben den «Irrenanstalten» und Gefängnissen verfügte die Schweiz über ein gut ausgebautes Netz von Zwangserziehungs-, Arbeits-, und Trinkerheilanstalten, in denen die Menschen interniert wurden mit der Idee, sie zur Integration in die bürgerliche Gesellschaft zu zwingen. Besonders störte sich Schelbert an der fahrenden Lebensweise der jenischen Volksgruppe. Sie lebten damals zahlreich im Kanton Schwyz und bestritten ihren Lebensunterhalt mit Gelegenheitsjobs als Korber, Schirm- und Kesselflicker oder Hausierer.

Der Kanton Schwyz gehörte damals noch zu den wirtschaftlich schwächsten Regionen der Schweiz. Schelbert, der eng mit dem Regierungsrat zusammenarbeitete, sah den Wohlstand und die Moral der bürgerlichen Gesellschaft von der angeblichen Liederlichkeit und Arbeitsscheue der «Vagantenfamilien» bedroht. Und darum fasste er es als seine persönliche Aufgabe auf, das «Feckerproblem» in seinem Revier zu lösen.

Eine Forschungsgruppe hatte Zugang zu 1100 Dossiers, die Schelbert hinterlassen hatte. «Integration in seinem Verständnis bedeutete eine kompromisslose Assimilierung und war mit Zwang verbunden», schrieben die Autorinnen 2019. «Möglichkeiten für Betroffene, sich argumentativ zur Wehr zu setzen, waren enge Grenzen gesetzt.» Wiederholt hätten Schelbert und seine Behörde gegen verfahrensrechtliche Garantien wie die Gewährung des rechtlichen Gehörs verstossen.

«Ich werde bei den Fahrenden nicht gerühmt, weil ich immer für die Integration war», sagte Schelbert im Jahr 1995 im Interview mit dem «Boten der Urschweiz». Der 75-jährige Rentner beklagte, wie schmerzlich es ihn treffe, dass so hart über die Vergangenheit geurteilt und seine Arbeit verteufelt werde. «Es heisst, wir seien die brutalsten Menschen gewesen, die es gegeben hat», sagte Schelbert. Aber man mache sich kein Begriff, was für ein «Elend» damals bei den «Fahrenden» geherrscht habe. Er habe nach einem gesetzlichen Auftrag der Schwyzer Armenfürsorge gehandelt, und der habe nun einmal vorgesehen, «Sozialbehinderte» in die Gesellschaft zu integrieren.

Schwesternschaft vernichtet Aktenbestände

Dass Kindswegnahmen und Administrativversorgungen mit dem Zeitgeist und alten Gesetzesgrundlagen entschuldbar seien, ist eine verbreitete Haltung. «Das war damals einfach so», bekommen Betroffene heute noch zu hören. Davon zeugt auch der Skandal bei der Schwesterngemeinschaft des Seraphischen Liebeswerks in Solothurn um eine grosse Aktenvernichtung, den der «Beobachter» Ende August bekanntgemacht hat. Die Organisation hat bis Ende der 1980er Jahre Jenischen ihre Kinder weggenommen, Geschwister wurden voneinander getrennt und Briefe der Eltern nicht weitergeleitet. So wollte man die familiäre Bindung zerstören.

Inzwischen erwachsene Opfer forderten Akteneinsicht von der Schwesternschaft, doch diese hatten erst kürzlich alles weggeworfen –obwohl ein Gesetz seit 2017 die Vernichtung verbietet. Im Artikel wird Schwester Marie-Theres Rotzetter vom Seraphischen Liebeswerk zitiert. Auf den Vorwurf, sie stehe der Aufarbeitung im Wege, erwiderte sie: «Wo gearbeitet wird, passieren Fehler. Aus heutiger Sicht haben wir vielleicht zu sehr auf die Bedürfnisse der Erwachsenen und zu wenig auf die Bedürfnisse der Kinder geachtet.»

Sätze wie diese treffen Ursulina Gruber wie ein Blitz. Als Kleinkind wurde sie in eine Adoptivfamilie gegeben, ihre biologische Mutter kannte sie nicht. Dass ihre Eltern Jenische sind und Ursulina gleich nach der Geburt im Säuglingsheim in Zürich ihrer Mutter mit Gewalt weggenommen wurde, wurde ihr lange Zeit verschwiegen. Dass mit ihr irgendetwas nicht in Ordnung war, gaben ihr die Erwachsenen aber immer wieder zu verstehen.

An ein Mittagessen in Zürich in den 1970er Jahren erinnert sich Ursulina Gruber besonders. Damals war Gruber etwa 16 Jahre alt. «Sie werden einmal in der Prostitution enden, wie alle von ihnen», sagte ihr die Sozialarbeiterin, Fräulein Guyer, unvermittelt. Diese war Gruber seit ihrer Kindheit zugeteilt, zusammen mit einem Amtsvormund, der Pfrunder hiess, wachte sie über Grubers Lebenswandel – obwohl diese von einer Pflegefamilie adoptiert worden war.

Lügen der Erwachsenen

An die Vornamen der beiden, die für die Zürcher Amtsvormundschaft arbeiteten, kann Gruber sich nicht mehr erinnern. Sie weiss aber noch ganz genau, wie Fräulein Guyer sie während dieses Mittagessens aus heiterem Himmel nannte: mannstoll. Auf keinen Fall könne die Gesellschaft verantworten, dass sie jemals Kinder bekomme. Dass sie damit auf ihre jenischen Wurzeln anspielte, ahnte Gruber nicht. Ein andermal, als sie ihrem Vormund Pfrunder gestand, dass sie lieber aufs Gymnasium gehen würde, statt eine Berufslehre zu machen, habe dieser geantwortet: «Du wärst die Einzige von denen, die das schaffen würde.»

Allerdings wusste Gruber damals nicht, wer mit «denen» gemeint war. Ihr Name lautete auch nicht Ursulina Gruber, sondern während fünfzig Jahren Ursula Spillmann. Ihre Adoptiveltern waren streng, griffen zu Prügeln, wenn sie «Flausen» zeigte, übermütig war und herumtobte. Sie behaupteten immer, nichts über ihre Eltern zu wissen, ausser dass ihre Mutter sie weggegeben hatte.

Zu ihrer Diplomfeier wollte sie ihre biologische Mutter einladen und fand über Umwege heraus, wo diese wohnte. Sie rief sie an, und die beiden Frauen vereinbarten ein Treffen. Wie begegnen sich Mutter und Tochter, nachdem sie zwanzig Jahre getrennt gewesen sind? «Ich stellte es mir anders vor, als es dann wirklich war», erzählt Gruber. «Die Begrüssung war steif.»

Gruber war Anfang zwanzig und in der Ausbildung zur Krankenschwester. Sie wusste nicht, was sie von der Frau, die ihr gegenüberstand, halten sollte. Ihre Pflegeeltern hatten sie immer als böse Frau dargestellt. Die Mutter habe sie verstossen, und der Vater sei gefallen – im Krieg. «Erst in der Sekundarschule habe ich begriffen, dass es seit meiner Geburt keinen Krieg mehr gegeben hat.»

Dann sass sie bei dieser angeblich bösen Frau in der Küche, betrachtete die vielen Bilder ihrer Kinder – sie hatte längst geheiratet und eine Familie gegründet. Mitten in der Galerie entdeckte Gruber die Fotografie eines Kleinkindes, das ihr bekannt vorkam. Ihre Mutter sah ihren Blick und erzählte, dass sie immer Teil der Familie gewesen sei und die Geschwister immer gewusst hätten, dass es da noch das Urseli gab. Sie seien Jenische, sagte sie Gruber. Doch der Begriff sagte ihr nichts.

Die Wiedervereinigung mit ihrer Mutter hätte sie glücklich machen können. Doch das Gegenteil passierte. Ab da litt Gruber unter psychischen Problemen. «Mein bisheriger Lebenslauf war nichtig. Meine Identität war aus Lügen und Geheimnissen gebaut», erinnert sich Gruber. Sie fühlte sich beobachtet und verfolgt. Meinte im Zugabteil hinter sich die Stimme ihrer Pflegemutter zu hören. Wenn sie Frauen begegnete, die der Sozialarbeiterin ihrer Kindheit und Jugend glichen, bekam sie Atemnot und Herzrasen. Um der Panik zu entkommen, wollte sie sich einmal aus dem Fenster stürzen. Eine Kollegin hielt sie gerade noch rechtzeitig davon ab.

Als sie in den 1980er Jahren heiratete, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. «Ich hatte wieder Erstickungsanfälle und sah Spinnen aus der Wand kriechen», erzählt Gruber. Erst da suchte sie Hilfe bei einer Psychotherapeutin. Diese riet zu einer Aufarbeitung ihrer familiären Wurzeln. Gruber begann, sich mit ihren jenischen Wurzeln zu befassen. Mithilfe eines Freundes forderte sie Einsicht in ihre Akten bei der Vormundschaftsbehörde.

Schweizern fehlt es an Unrechtsbewusstsein

Vor einigen Jahren entschloss sich Gruber, den Namen ihrer Adoptivfamilie abzulegen und wieder den ihrer jenischen Familie anzunehmen. Die Behörden ihres Wohnorts Basel stellten ihr für die Namensänderung eine Rechnung aus. Sie las das Begleitschreiben, dem die Forderung in der Höhe von einigen hundert Franken beigelegt war. Gruber fühlte sich einmal mehr gedemütigt. Die Schweizer Behörden hatten ihr den Namen geraubt, und nun sollte sie dafür bezahlen, dass ihr endlich Gerechtigkeit widerfuhr.

Ursulina Gruber gehört zu den Mitunterzeichnerinnen des offenen Briefes, der Anfang 2024 an den Bundesrat geschickt wurde. «Was den Jenischen in der Schweiz passiert ist, findet man noch nicht einmal in den Schulbüchern», sagt sie. Den Schweizern fehle es an Unrechtsbewusstsein. «Das spüren Betroffene oft, wenn sie Behörden oder private Institutionen um Hilfe bei der Aufarbeitung bitten.»

Und darum sei der kulturelle Genozid eben mehr als nur ein Etikett. Die offizielle Anerkennung als Genozid führe dazu, dass das Unrecht, das den Jenischen und den Sinti passiert sei, einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Schweizerinnen und Schweizer erhalte. Dass niemand mehr sagen könne: «Das war halt damals so.»

Schweizer Vorbilder für deutsche Nazis

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts ging die Schweiz generell hart und unbarmherzig mit Armengenössigen um. Arbeitslosigkeit und Armut sahen die Behörden als erblichen Charakterfehler. Die Verfolgung der Jenischen könnte ein Extremfall der damaligen Sozialpolitik sein.

Dem widerspricht der Historiker Thomas Huonker in seinem Buch «Diagnose: ‹moralisch defekt›». Die damalige Praxis sei in einer rassenhygienischen Theorie verwurzelt, deren Erforschung und Anwendung in der Schweiz mit besonderem Eifer vorangetrieben worden sei. In der Klinik Waldhaus in Chur etwa haben mehrere Psychiatergenerationen bis Anfang der 1980er Jahre ein Sippenregister der Jenischen geführt, um die Entwicklung der Familien genauer zu erforschen.

So entstanden Studien über jenische Familien der Schweiz, die auch in Deutschland gelesen wurden. Etwa von Verantwortlichen der Verfolgung von «Zigeunern» und «Landfahrern» im Nazireich. Die Forschung der Churer Klinik steht am Anfang von psychiatrischen Theorien, die Roma, Sinti und Jenische als «erblich Minderwertige» verschiedenen Verfolgungsstrategien auslieferten: in der Schweiz der «Entvölkerung der Landstrasse» und im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich dem Holocaust.

Warum wurden die Jenischen und die Sinti verfolgt? Die Frage kann den Siegfrieds, Schelberts und Fräulein Guyers dieser Geschichte nicht mehr gestellt werden. Ihr Erbe ist ein Arsenal von Akten. Sie sind alles, was zur Aufarbeitung dieses dunklen Abschnitts der Schweizer Geschichte bleibt.

Quellen

Capus, Nadja: Ewig still steht die Vergangenheit? Der unvergängliche Strafverfolgungsanspruch nach schweizerischem Recht (Bern, 2006).

Galle, Sara: Kindswegnahmen. Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse der Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge.

Huonker, Thomas: Diagnose: «moralisch defekt». Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890–1970
(Zürich, 2003).

Sablonier, Roger et al.: Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» (Bern, 1998).

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