Dienstag, Oktober 8

Ist das neoliberale Zeitalter zu Ende, aber vielleicht hat es auch gar nie angefangen.

Ist er nun tot oder nicht? Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz wusste die Antwort schon 2008 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise: «Der Neoliberalismus ist tot.»

Die Redaktion der linken Zeitschrift «Jacobins» ist hingegen überzeugt: «Die Gerüchte sind falsch – der Neoliberalismus ist lebendig und wohlauf.» Und dann gibt es noch eine dritte Meinung: Der Neoliberalismus sei zwar gestorben, aber er lebe als Zombie weiter, schrieb die «Washington Post» schon vor mehr als zehn Jahren. Ja, was gilt jetzt?

Die Kontroverse erinnert an ein Ritual in den Schweizer Medien. Als eine klare Mehrheit 2002 den Uno-Beitritt guthiess, schrieben die Zeitungen, das sei nun das Ende des Schweizer Sonderfalls. Als 2009 das Bankgeheimnis für ausländische Kunden zerbröckelte, waren sich die Kommentatoren einig: Das ist das Ende des Schweizer Sonderfalls.

Und immer ist der Sonderfall zu Ende

Als die Corona-Pandemie ausbrach, wurde uns erklärt, die Biologie mache keinen Unterschied zwischen den Nationen. Der Schweizer Sonderfall sei damit endgültig am Ende. Kaum war die Pandemie vorbei, hiess es jedoch bald wieder, die Schweiz habe die Krise besonders gut überstanden. Der Sonderfall existiert also weiterhin. Wir sind gespannt, bei welcher Gelegenheit er demnächst wieder beerdigt wird.

Die Beispiele zeigen: Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, die Geschichte als Abfolge von bestimmten Konzeptionen und Konstellationen zu begreifen. Die Übergänge sind immer fliessend, und es ist völlig normal, dass mehrere Konzeptionen nebeneinander existieren. In bestimmten Phasen mag vielleicht eine bestimmte Konzeption etwas stärker in Erscheinung treten, aber das heisst nicht, dass sie alle anderen Konzeptionen dominiert.

Es ist deshalb nicht nur sinnlos, das Ende des Neoliberalismus zu verkünden. Ebenso irreführend ist es, von einem neoliberalen Zeitalter zu sprechen. Wo und wann soll es begonnen haben? Die meisten Historikerinnen und Historiker sind der Meinung, dass die Rezession der 1970er Jahre den neoliberalen Konzepten zum Durchbruch verholfen habe. Aber diese Periodisierung trifft nur auf Grossbritannien und die USA zu.

In den kontinentaleuropäischen Ländern war davon nichts zu spüren. Auch die Schweiz blieb unberührt. Die FDP gewann zwar die Wahlen von 1983 mit dem Wahlspruch «Mehr Freiheit, weniger Staat», aber danach ist nichts passiert. Weder wurden die PTT und die SBB privatisiert, noch wurde der Binnenmarkt durch ein griffiges Kartellgesetz dereguliert. Auch die Staatsquote blieb konstant.

Schweiz gerät in den 1990er Jahren unter Druck

Erst in den 1990er Jahren änderte sich einiges, aber das hatte wenig mit einem neoliberalen Aufbruch in der Schweiz zu tun, sondern mit dem Anpassungsdruck, der von der Bildung des EU-Binnenmarkts und der Gründung der WTO ausging.

Aber selbst in diesem Reformjahrzehnt blieb vieles beim Alten. Die PTT wurde zwar beerdigt, aber der Bund ist heute immer noch Alleineigentümer der Post und Mehrheitsaktionär der Swisscom.

Auch die SBB gehören immer noch dem Staat. An der Urne ist die Liberalisierung des Elektrizitätsmarkts klar verworfen worden. Wer behauptet, die Schweiz befinde sich seit Jahrzehnten im Würgegriff der Neoliberalen, erzählt ein Märchen.

Selbst in Bezug auf Grossbritannien, das als neoliberales Modell bezeichnet wird, muss man vorsichtig sein. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher ist an die Macht gekommen, weil ihre Vorgänger zwei Probleme vor sich hergeschoben hatten, die nichts mit der neoliberalen Agenda zu tun hatten: die Bekämpfung der Inflation und die Schliessung der defizitären Zechen.

Sie ging dabei besonders rabiat vor, was ihr viel Kritik einbrachte, aber sie tat genau dasselbe wie ihre Regierungskollegen in allen anderen westlichen Ländern. Selbst die schwedischen Sozialdemokraten verfolgten damals diese Politik.

Die Staatsquote blieb unter Thatcher stabil

Es stimmt, dass Thatcher die Spitzensteuersätze gesenkt, die Eisenbahnen privatisiert und den Finanzmarkt liberalisiert hat, was klar einer neoliberalen Agenda entsprach, aber das staatliche Gesundheitssystem NHS hat sie nicht angerührt, und die Staatsquote blieb während ihrer Regierungszeit stabil. Thatcher konnte nicht widerstandslos durchregieren.

Dass die Staatsgläubigkeit heute grösser ist als zur Zeit Thatchers, ist wohl richtig. Es hat eine Gewichtsverschiebung stattgefunden. Aber auch diesem Trend sind klare Grenzen gesetzt.

Die Staatsschulden sind überall stark angestiegen, und es mehren sich die Anzeichen dafür, dass der Staat schnell überfordert ist, wenn er glaubt, er könne als oberste Instanz die Privatwirtschaft in die richtigen Bahnen lenken. Er ist nicht einmal in der Lage, eine kohärente Energiepolitik zu realisieren, wie das Beispiel Deutschland zeigt.

Auf den Rausch folgt bald die Ernüchterung, und das ist in der Wirtschaftspolitik gut so.

Tobias Straumann ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.

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