Montag, September 30

Der Führer des Hizbullah hat nie im Interesse seiner Landsleute gehandelt. Er machte sich zum Handlanger Irans und stürzte damit ganz Libanon ins Verderben.

Morden – das ist die Bilanzsumme von Hassan Nasrallahs Leben. Oder muss man das Wirken des sowohl politisch-militärischen als auch geistlichen libanesischen Schiiten-«Führers» anders bewerten und eher von Töten statt Morden sprechen?

Der Unterschied zwischen Töten und Morden ist fundamental, wenngleich durch die falsche Übersetzung des sechsten Gebots – nicht nur ins Deutsche – hierüber Verwirrung oder Ahnungslosigkeit besteht. Das sechste Gebot lautet, aus dem hebräischen Original genau übersetzt: «Du sollst nicht morden.»

Der Unterschied zwischen Töten und Morden sei mithilfe eines Zitates des französischen Schriftstellers und Humanisten Albert Camus verdeutlicht: Manchmal müsse man töten, um das Morden zu beenden oder zu verhindern. Gäbe es nämlich tatsächlich ein Tabu für das Töten ganz allgemein, verböten Religion und Ethik sowohl den Verzehr von Fleisch als auch von Pflanzen. Dieses Tabu besteht in der Menschheitsgeschichte nicht, Vegetarier oder Vegane erlegen es sich selbstbestimmt auf.

Camus’ Unterscheidung ins Historische übertragen: Im Zweiten Weltkrieg mussten die Alliierten millionenfach töten, um das Morden Hitler-Deutschlands und seiner Verbündeten zu beenden.

Er hat zum Schaden Libanons gehandelt

Auf Nasrallah übertragen, stellt sich die Frage daher so: Hat er seiner Hizbullah-Armee (überzuckert in der freien Welt auch «Miliz» genannt) immer wieder den Befehl gegeben, Israeli, Juden, Amerikaner und andere zu töten oder zu morden? Töten würde einen defensiven, ethisch vertretbaren Akt bedeuten, Morden einen unvertretbar offensiven, aggressiven.

Das hänge vom politischen Standpunkt ab, lautet die Standardantwort. Sie ist kontrafaktisch, undurchdacht und ethisch grundsatzlos. Denn «Zweck und Ziel» des Staates sei «das Beste». So Aristoteles, universalethisch-philosophisch und anthropologisch unübertroffen klar sowie zivilisatorisch richtungsweisend im ersten Buch seiner «Politik».

Wer also Nasrallahs Leben sowohl ethisch als auch faktenbezogen bilanzieren will, muss diese Frage beantworten: Hat sein Wirken das Leben in seinem Staat, noch grundsätzlicher: das Leben seiner Mitbürger verbessert? «Das Beste» ist ohnehin unerreichbar.

Die biblische Geschichte von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies beschreibt dieses Urfaktum gleichnishaft. Dieses Narrativ ist selbst Aristoteles überlegen, wenn er das Beste als Zweck und Ziel von Politik bezeichnet. Die Antwort auf jene entscheidende, auf Nasrallahs Leben bezogene Frage sei versucht.

Verbündete der Schiiten

Vor allem seit 1970, nach ihrer blutigen Vertreibung während des sogenannten «schwarzen Septembers» durch die Armee des jordanischen Königs Hussein, verlagerte die Führung der Palästinenser ihren Guerilla- und Terrorkrieg gegen Israel vornehmlich in den Süden Libanons. Diese Region ist seit je Siedlungsschwerpunkt der libanesischen Schiiten. In der traditionellen Machtverteilung Libanons waren die Schiiten zweifellos zu kurz gekommen. Ohne zu übertreiben, kann man sagen: Sie wurden von ihren christlichen und sunnitischen Landsleuten regelrecht unterdrückt. Dagegen waren sie lange macht- und wehrlos.

Erst die veränderte Demografie Libanons, sprich: die auch militärisch verstärkte Präsenz der Palästinenser, verschob die Machtverhältnisse. Davon profitierten die Schiiten. Die Palästinenser wurden ihr natürlicher Verbündeter, allerdings aus innen-, nicht aus israelpolitischen Gründen.

Einerseits profitierten libanesische Schiiten unter Führung der Amal-Miliz von der innen- und der israelpolitischen Militanz der Palästinenser, andererseits mussten sie dafür einen (zu) hohen Preis zahlen: Innenpolitisch auf Gedeih und Verderb an die Palästinenser gekettet, wurden sie aussenpolitisch in den palästinensisch-israelischen Dauerkonflikt hineingezogen. Als Folge der ständigen palästinensischen Angriffe auf Israel besetzte der jüdische Staat 1978 den Süden Libanons. Eigentlich nur der Palästinenser wegen.

Die libanesischen Schiiten waren doppelt betroffen. Erstens als Verbündete der Palästinenser und zweitens als Besetzte. Die Folge: Fortan wurde die schiitisch-palästinensische Allianz im Guerillakampf gegen Israel noch enger, der Hass auf die israelischen Besetzer noch heftiger, denn diese setzten dem Guerillakrieg ihrerseits Gewalt entgegen. Der Konflikt entwickelte seine Eigendynamik. All das, obwohl es bis dahin keinen eigentlichen Konflikt zwischen Libanons Schiiten und Israel gab.

Allianz mit Iran

Jener seit 1978 schwelende Konflikt gipfelte im September 1982 im ersten Libanon-Krieg, im Kern ein palästinensisch-israelischer Krieg, der in Libanon ausgetragen wurde. Das erste Ergebnis: ein neues Desaster für die Palästinenser, eine der vielen Tragödien für das palästinensische Volk, ausgelöst, wie vorher und nachher, durch die eigene Führung.

Das zweite Ergebnis: Die Schiiten hatten ihrerseits nicht nur zahlreiche Menschenleben zu beklagen, sie verloren ihren militärischen und politischen Partner. Das dritte Ergebnis: Amal verlor die Vorherrschaft unter Libanons Schiiten, der Hizbullah wurde stärker und schliesslich, ab 1992 von Nasrallah geführt, nicht nur unter Schiiten, sondern in ganz Libanon dominant.

Das vierte Ergebnis: Der Hizbullah fand schnell einen neuen Verbündeten, die seit Februar 1979 in Iran herrschende, fundamental-schiitische Mullah-Diktatur. Das fünfte Ergebnis: Unter Nasrallah wurde der Hizbullah ein Vasall Irans, denn natürlich instrumentalisierten ihn die iranischen Mullahs für ihren Krieg gegen das «zionistische Gebilde», das sie erklärtermassen vernichten wollen.

Sie liessen sich ihre allumfassende militärische, politische und finanzielle Hilfe teuer bezahlen. Diese Hilfe umfasste den Sozial- und den Gesundheitsbereich ebenso wie das Schulwesen des Hizbullah. Das waren leider nur scheinbare Wohltaten. Zynisch umschrieben: Die Gans (Libanons Schiiten) wurde gemästet, um sie vor dem Schlachten zu kräftigen. Erst die Wohltaten, dann an die Front und dort sterben.

Besonders Deutsche darf man in diesem Zusammenhang an das «Dritte Reich» erinnern: erst Zuckerbrot, dann Peitsche. Erst «Kraft durch Freude», Volkswagen, Kreuzfahrten, Arbeitsbeschaffung als Aufrüstung, dann millionenfacher Mord an anderen Völkern und, als Folge, Tod im eigenen Volk.

Irans Mullahs sind geschickter als Hitler: Sie lassen kämpfen. Bis zum letzten Schiiten Libanons. Die Verantwortung hierfür trug der Führer Nasrallah durch die von ihm betriebene, immer enger gewordene Allianz mit Iran. «Nasrallah befiehl!», brüllten tausendfach Hizbullah-Krieger, bevor sie in den Kampf zogen. Das klingt bekannt: «Führer, befiel. Wir folgen dir!»

Nicht nur Libanons Schiiten – und Israeli – mussten bluten. Ganz Libanon blutet wegen des Hizbullah, dessen Hochrüstung sowohl das politische Gefüge als auch die wirtschaftliche Infrastruktur des Landes seit Jahren zunehmend zerstört. Erinnert sei an die durch Hizbullah-Sprengmaterial ausgelöste Explosionskatastrophe im Beiruter Hafen am 4. August 2020.

Die Hamas-Mordorgie gegen Israel vom 7. Oktober 2023 war der nächste fundamentale Einschnitt. Aus Solidarität mit den Hamas-Palästinensern aus dem Gazastreifen eröffnete Nasrallah, dem iranischen Wunsch präventiv oder reaktiv folgend, am 8. Oktober 2023 den Abnutzungskrieg gegen Israel. Wobei er wie die meisten westlichen Experten das eigene militärische Potenzial über- und Israels Fähigkeiten unterschätzte.

Nasrallahs fataler Entscheid

Gab es eine Alternative für Nasrallah? Spätestens seit Oktober 2023: eindeutig ja. Er hätte sich nicht in den Krieg Hamas – Israel hineinziehen lassen müssen. Die eine oder andere Rakete auf Israel hätte als Alibi gereicht, um eine Verhandlungslösung mit Israel und für Libanon insgesamt zu erreichen. Aus einer Position der Stärke bot sich Nasrallah diese goldene Gelegenheit.

Bis zum 7. Oktober 2023 kann man, je nach Sympathie, darüber streiten, ob der Hizbullah unter Nasrallah tötete oder mordete. Spätestens seit dem 8. Oktober ist klar: Nasrallahs Entscheidung bedeutete Morden und nicht mehr Töten. Weder die Schiiten noch die übrigen Bürger Libanons hatten unter seiner Führung Gutes erreicht. Vom Besten ganz zu schweigen.

Daraus wiederum folgt: Die Tötung Nasrallahs lag nicht nur in Israels Interesse. Sie bietet endlich auch den libanesischen Schiiten sowie Libanon und allenfalls dem Nahen Osten insgesamt die Möglichkeit einer Wende, zumindest eröffnet sie einen Modus Vivendi.

Deutschlands Aussenministerin Annalena Baerbock sieht es anders. Die Tötung Nasrallahs sei «in keinster Weise im Interesse der Sicherheit Israels». Sie «weiss» es. Wie so oft.

Landauf, landab «wissen» auch viele Experten manches. Nasrallah sei wie die unsterbliche Hydra der griechischen Mythologie. Schlug man dieser einen Kopf ab, wuchsen zwei neue nach. Hätten die Siegermächte über Deutschland nach dem 8. Mai 1945 ebenso gedacht, wären Hitler und seine Mitverbrecher, Mittäter und Mitläufer nie besiegt worden.

Im Streben für das Humanum ist der jüdisch-christlich-muslimische Trialog heute dringlicher denn je. Khamenei ist Irans politischer und «geistlicher Führer». Nasrallah war ebenfalls politischer und geistlicher Führer der Schiiten seines Landes. Wie kann mit Mördern ein Weg zum Frieden gefunden werden?

Daraus folgt: Der schiitische Islam muss sich von den Khameneis und Nasrallahs dieser Welt trennen. Der sunnitische Islam muss sich von seinen bin Ladins und den Mördern des Islamischen Staates dieser Welt trennen. Dann haben auch aufstachelnde Politiker wie Israels Polizei- und Finanzminister keine Chance mehr.

Nasrallah war ein Mörder. Nicht nur von Israeli und Juden, sondern auch von Nichtjuden, seinen Glaubensgenossen und Landsleuten.

Der Historiker Michael Wolffsohn ist unter anderem Autor von «Wem gehört das Heilige Land?» und «Eine andere Jüdische Weltgeschichte».

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