Im Staat im südlichen Afrika ist die allgemeine Verunsicherung gross. Die Regierung möchte wiedergewählt werden und verspricht, das kriselnde Diamantengeschäft zu revolutionieren.
Steht man am Rand des Schlunds, der Botswana reicher gemacht hat als fast alle afrikanischen Länder, merkt man zuerst nicht, wie gewaltig gross er ist. Man realisiert es, wenn man die Augen auf den Grund der Mine in Orapa richtet, 300 Meter weiter unten. Dort rollen scheinbar winzige Fahrzeuge, die grösser werden, wenn sie den Weg hochächzen, der sich aus der Grube windet. Sie sind beladen mit Hunderten Kilo Fels. Es ist das Gestein, das den Reichtum birgt.
«Morgen wird wieder gesprengt. Das ist immer ein wunderbarer Tag», sagt der Ingenieur, der den Teilnehmern einer Besichtigungstour die Dimensionen der Grube erklärt. Die Mine ist fast zwei Kilometer breit und über einen Kilometer lang; es ist die grösste Diamantenmine der Welt. Seit 1971 wird hier nach dem Mineral gegraben, das Botswana zu einem afrikanischen Modellstaat gemacht hat.
Als Botswana 1966 unabhängig wurde, hatte das Land, das so gross ist wie Frankreich, 40 Leute mit Universitätsdiplomen. Es hatte drei Sekundarschulen und einige wenige Kilometer Teerstrasse. Botswana war bitterarm. Dann begann das Land in Orapa Diamanten zu fördern.
Heute ist Botswana der Staat mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Afrika südlich der Sahara (die Inselstaaten Seychellen und Mauritius ausgenommen). Auch der am wenigsten korrupte. Es gibt mehr als 300 Sekundarschulen. Wer von der Hauptstadt Gaborone Richtung Norden in die Bergbauregion um Orapa fährt, rollt auf über 500 Kilometern Asphalt, in dem sich kaum ein Schlagloch findet.
Je tiefer in Botswanas Minen gesprengt und gegraben wurde, desto höher hinaus ging es mit der Entwicklung des Landes. So war das seit der Unabhängigkeit.
Doch diese Gewissheit ist ins Wanken geraten. Der Diamantenpreis fällt, die Nachfrage ebenso. In den wichtigen Märkten China und USA ist sie regelrecht eingebrochen. Ausserdem werden im Labor gezüchtete, künstliche Diamanten immer beliebter. In Orapa holten sie 2023 12 Millionen Karat Diamanten aus der Grube, das sind zweieinhalb Tonnen. In diesem Jahr wird es halb so viel sein.
Damit brechen auch Botswanas Staatseinnahmen weg. Fast 80 Prozent der Exporteinnahmen kommen aus dem Diamantengeschäft. Im Juli hat der Internationale Währungsfonds Botswanas Wachstumsprognose für 2024 von 3,6 auf 1 Prozent zusammengestrichen.
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Der Präsident verspricht eine neue Wirtschaft
Je länger der Staatspräsident spricht, desto lauter wird das Gemurmel im Publikum. Kein Zwischenapplaus, keine Lacher. Mokgweetsi Masisi war vor seiner politischen Karriere Lehrer, und so spricht er an dieser Wahlkampfveranstaltung auf einem plattgestampften Feld in Lobatse, eine Stunde südlich der Hauptstadt: wie ein Dozent, der den Lehrplan für das nächste Schuljahr verkündet.
Am kommenden Mittwoch sind Wahlen in Botswana. Masisi regiert seit 2018, und er will wiedergewählt werden. In normalen Zeiten wäre das eine Formsache für seine Partei, die Botswana Democratic Party. Sie regiert seit der Unabhängigkeit. Doch weil die Diamantenindustrie schlingert, ist Masisis Wiederwahl plötzlich unsicher.
Masisi spricht während fast einer Stunde. Darüber, die Industrie zu fördern, die Landwirtschaft zu stärken, er verspricht «eine neue Wirtschaft». Er will darlegen, dass die Regierung noch immer einen Plan hat. Selbst wenn die Diamantenindustrie sich nicht erholt. Als der Präsident fertig ist, wischt er sich mit einem Tuch den Schweiss aus dem Gesicht. Im Publikum dehnen da viele längst die steifen Glieder.
Botswanas Powerplay gegen De Beers
Der Regierungsplan zur Sicherung von Botswanas Zukunft hat zwei Teile: Die Regierung will die Wirtschaft diversifizieren, um weniger abhängig zu sein von den Diamanten. Und sie will sich einen grösseren Teil der Einnahmen aus dem Diamantengeschäft sichern. Im vergangenen Jahr führte sie deshalb Verhandlungen, die so klangen, als ob Botswana einen neuen Unabhängigkeitskampf ausföchte.
Botswanas Aufstieg gründet auf einer Zweckehe mit dem südafrikanisch-britischen Minenkonzern De Beers, dem grössten Diamantenförderer der Welt. Seit 1969 schürft man die Diamanten gemeinsam. Das Joint Venture heisst Debswana und betreibt vier Minen. Bisher kaufte De Beers 75 Prozent der geförderten Diamanten, Botswana erhielt 25 Prozent, die es selber verkaufte.
2023 wurden die Bedingungen neu ausgehandelt. Botswana verhandelte hart. «Wir wollen haben, was uns gehört», sagte Präsident Masisi. Am Ende erhielt er, was er wollte. Der Anteil der Diamanten, die Botswana selber verkauft, soll in den nächsten zehn Jahren von 25 auf 50 Prozent steigen.
Doch was, wenn Botswana auf diesen Diamanten sitzen bleibt? Das Land hat sich ein grösseres Stück vom Kuchen ausgerechnet zu dem Zeitpunkt gesichert, in dem die Industrie zu serbeln begonnen hat.
Minister mit Trillerpfeife
Im VIP-Zelt der Wahlkampfveranstaltung sitzt der Minen-Minister Lefoko Moagi. Er hat Baseballmütze und Sonnenbrille aufgesetzt, eine Trillerpfeife umgehängt, alles in Ketchup-Rot, der Farbe der Partei. Moagi ist auch der Wahlkampfleiter.
Moagi hatte ein Interview über die Zukunft der Industrie in Aussicht gestellt, doch nun ist er zu beschäftigt. Er wird die Fragen später schriftlich beantworten. Dann schreibt er: «Die Diamantenindustrie wird eine wichtige Säule unseres Wachstums bleiben.» Trotz den gegenwärtigen Schwierigkeiten wolle man ein weltweit führender Umschlagplatz für Diamanten werden.
Botswanas Regierung will das erreichen, indem sie nicht mehr nur Rohdiamanten verkauft. Die Steine sollen im Land verarbeitet werden. «Entwicklung der Wertschöpfungskette» nennt Präsident Masisi das in seiner Rede. Es ist ein Begriff, der kein Wahlkampfpublikum von den Sitzen reisst. Doch für Botswanas Pläne ist er zentral. Der Minen-Minister formuliert es so: «Die Stärkung der lokalen Produktion wird es uns erlauben, neue Jobs zu schaffen und die Fertigkeiten der Leute zu verbessern.»
Botswanas Regierung will einen Schritt machen, der bisher kaum einem afrikanischen Land gelungen ist. Rohstoffe nicht nur zu exportieren, sondern sie auch zu verarbeiten.
«Machen sie Fehler, verlieren wir Dollars»
Was es an verarbeitender Diamantenindustrie schon gibt in Botswana, findet man in der Hauptstadt hinter schweren Metallgittern in Gewerbebauten, an denen Sicherheitskameras und Slogans befestigt sind. Bei Siddarth Gothi lautet dieser: «Inspired to Shine».
Gothi ist vor sechs Jahren aus Indien gekommen. Der 40-Jährige leitet KGK, die grösste Diamantenschleiferei in Botswana, sie beschäftigt 500 Leute. Und er ist der Vorsteher der Organisation der verarbeitenden Industrie. Das macht ihn zu einer Schlüsselfigur für Botswanas Zukunft.
Gerade führt Gothi im Eiltempo durch die Manufaktur von KGK. Vorbei an jungen Botswanerinnen und Botswanern, die den Blick auf Bildschirme fixiert haben, auf denen dreidimensionale Scans von Diamanten drehen. Sie müssen bestimmen, wie die Diamanten geschliffen werden. «Wenn sie einen Fehler machen», sagt Gothi, «verlieren wir Dollars.»
Gothi hat wenig übrig für das nationalistische Pathos, das in Botswana oft mit der Industrie verbunden ist. Er muss rechnen, damit das Geschäft läuft. Und gerade ist es schwierig. Gothi hat für einen Teil seiner Angestellten keine Arbeit, den Lohn erhalten sie trotzdem. KGK schleift auch weniger Diamanten als sonst.
Mehr Sorgen als die Konjunktur bereitet Gothi die vergleichsweise schlechte Ausbildung des Personals. Botswanas verarbeitende Diamantenindustrie beschäftigt 4000 Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht mit der Konkurrenz in traditionellen Verarbeitungszentren wie Indien, Belgien oder Israel mithalten können. Weil diese Länder schon viel länger Diamanten schleifen als Botswana. Aber auch, weil Botswanas Regierung kaum in die Ausbildung von Diamantenarbeitern investiert. Firmen wie KGK, die ihren Hauptsitz in Hongkong hat, können nur in Botswana produzieren, weil sie Technologien einsetzen, die die schlechter ausgebildeten Angestellten an den Bildschirmen anleiten.
Siddarth Gothi sagt: «Wenn ich in Indien einen Arbeiter verliere, stehen am nächsten Tag zwanzig andere bereit. Verliere ich hier jemanden, dauert es Jahre, einen Ersatz auszubilden.» KGK hat bisher 300 Angestellte selber ausgebildet. Doch in dem Raum in seiner Fabrik, in dem die wertvollsten Steine geschliffen werden, sitzen noch immer Inder an den Werkbänken.
T-Bone-Steak und Cabernet Sauvignon
Im August wurde in Botswanas Karowe-Mine der zweitgrösste je gefundene Diamant geborgen: Er ist gross wie eine Faust und wiegt 2492 Karat. Präsident Masisi liess es sich nicht nehmen, den Stein in die Fernsehkameras zu halten. Er betrachtete ihn und sagte: «Ich erkenne darin Strassen, die gebaut werden, und Spitäler.»
So war das in Botswana in den vergangenen sechs Jahrzehnten. Inzwischen sind sich viele nicht mehr sicher, wie ernst es der Regierung ist mit ihren Plänen für eine neue Wirtschaft. Sheila Khama zum Beispiel, eine ehemalige CEO von De Beers in Botswana, sagt: «Die Pläne der Regierung klingen gut in der Theorie, doch sie werden nicht umgesetzt.» Kritikerinnen wie Khama sagen, die Regierung sei viel zu langsam vorgegangen. Sie habe es versäumt, wie etwa die Vereinigten Arabischen Emirate, ein anderer Rohstoffstaat, einen grossen Investitionsfonds aufzubauen, der geholfen hätte, die Wirtschaft zu diversifizieren und eine verarbeitende Industrie aufzubauen. «Nun wächst die Bevölkerung, die Jugendarbeitslosigkeit explodiert, die Diamanteneinnahmen sinken – und die Zeit läuft davon», sagt Sheila Khama.
Es ist möglich, dass sich in Botswana viele blenden liessen von den Diamanten, nicht zuletzt die Regierung.
Dabei gab es schon immer zwei Botswanas. Das Erfolgsmodell, in dem man über makellosen Asphalt durch Viertel rollt, die wie amerikanische Vorstädte aussehen. Das andere Botswana ist eines der ungleichsten Länder der Welt, in dem jeder dritte 15- bis 35-Jährige arbeitslos ist.
Man sieht das zum Beispiel in Letlhakane, einer Stadt mit 25 000 Einwohnern, umgeben von Minen. Die Grube von Orapa, wo Botswanas Boom einst begonnen hat, liegt ganz in der Nähe. Ebenso die Karowe-Mine, in der im August der Riesendiamant gefunden wurde. Nach Letlhakane kommen viele, um ihr Glück in der Industrie zu versuchen. Abends sieht man Ingenieure in der «Diamanten-Mall» bei T-Bone-Steak und einer Flasche südafrikanischem Cabernet Sauvignon sitzen. In den Strassen tragen auch jene Schutzausrüstung mit Reflektoren, die nicht in den Minen arbeiten. Es ist eine Frage des Status.
«Ich verlasse mich nur auf mich selber»
Auch Everson Mpatane trägt Reflektoren. Er macht Pause in einem Picknickstuhl vor einem Häuschen aus Backsteinen, das er gerade baut. Er nennt es sein «Mini-Lagerhaus». Am Strassenrand hat er gebrauchte Autoreifen aufgereiht, die er verkauft. Er sagt: «Was du siehst, ist das Resultat von Arbeitslosigkeit.»
Mpatane ist 31, er hat vor zwei Jahren sein Studium als Softwareingenieur abgeschlossen. Doch Arbeit fand er nicht, weder in der kleinen IT-Branche noch sonst wo. Er bewarb sich überall, auch bei den Diamantenschleifereien. Ohne Erfolg. Er sagt: «Die Regierung hat versagt bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Sie verliess sich darauf, dass es die ausländischen Firmen schon richten werden. Ich habe beschlossen, mich nur auf mich selber zu verlassen.»
Mpatane entwarf mehrere Businesspläne. Eine Weile verkaufte er Hühner. Doch das Geschäft lief nicht. Seit zwei Monaten handelt er nun mit gebrauchten Pneus. Im ersten Monat verkaufte er 70 Stück und erzielte einen Gewinn von umgerechnet 300 Franken. Für ein eben begonnenes Geschäft ist das in Botswana ein Erfolg. Mpatane will den Gewinn nutzen, um zu wachsen. Als Nächstes will er mit Neureifen handeln, dann mit Autozubehör.
Im besten Fall ist das der Anfang der Diversifizierung in Botswana. Von unten getrieben. Durch Leute wie Everson Mpatane, die keine Zeit zum Warten haben. Und so dem Land helfen, sich aus der Diamantengrube zu stemmen.