Alle Leichtathletinnen sollen sich einem DNA-Test zur Geschlechtsbestimmung unterziehen müssen. Eine bestechende Lösung für ein kompliziertes Problem – aber nur auf den ersten Blick.
Der Sport hat vieles probiert. Gynäkologische Untersuchungen und Testosteron-Obergrenzen zum Beispiel. Ziel dieser Massnahmen war es, biologische Männer vom Start in den Frauen-Kategorien auszuschliessen. Begonnen hat alles verhältnismässig harmlos, das Internationale Olympische Komitee (IOK) fürchtete einst, dass verkleidete Männer in Wettkämpfen der Frauen starten würden; ein sportlicher Schildbürgerstreich.
Ernster wurde die Problematik, als intersexuelle Athletinnen wie die Südafrikanerin Caster Semenya oder die algerische Boxerin Imane Khelif in den Fokus rückten. Zumindest Semenya ist gesichert intersexuell, sie besitzt männliche XY-Chromosomen, hat aufgrund einer Geburtsanomalie eine männliche Pubertät durchgemacht und hat deshalb im Sport einen körperlichen Vorteil gegenüber anderen Athletinnen. Das Phänomen wird gestörte Geschlechtsentwicklung oder DSD genannt. Die Vereinten Nationen schätzen, dass bis zu 1,7 Prozent der Weltbevölkerung von Intersexualität betroffen sind.
Semenya gewann 2012 in London und 2016 in Rio de Janeiro Olympia-Gold über 800 Meter. Die Boxerin Khelif wurde 2024 in Paris Olympiasiegerin, nachdem ihre Gegnerinnen ohne den Hauch einer Siegchance geblieben waren – ein Mann kämpfe gegen eine Frau, hiess es. Die öffentliche Empörung war sowohl bei Semenya als auch bei Khelif gross.
Die Kritik drückte auch die Ratlosigkeit der Sportfunktionäre aus, wie sie mit Betroffenen umgehen sollten. Das Problem: Intersexuelle sind in gewissen Frauen-Disziplinen hoch überlegen, wären bei den Männern aber kaum konkurrenzfähig. Es ist ein schmaler Grat zwischen Diskriminierung von Intersexuellen und Fairness für biologische Frauen.
Hinter vorgehaltener Hand sprechen sich Leichtathletinnen für ein Startverbot aus
Kürzlich hat der Leichtathletik-Weltverband World Athletics angekündigt, dass sich alle Athletinnen einem DNA-Test zur Bestimmung des Geschlechts unterziehen müssen. Hat World Athletics also die Lösung des Problems gefunden?
Auf den ersten Blick ist die Idee bestechend, die Regeln sind klar: Wer XY-Chromosomen besitzt, ist vom Start bei den Frauen ausgeschlossen. Auch sportrechtlich dürfte die Geschlechtsbestimmung mittels DNA-Test Bestand haben. Intersexuelle Athletinnen würden zwar durch das Startverbot bei den Frauen diskriminiert, doch das Recht auf faire Wettkämpfe biologischer Frauen sei höher zu gewichten, sagen Experten.
Diese Haltung hat auch der Internationale Sportgerichtshof (TAS) mehrfach bestätigt. Und hinter vorgehaltener Hand sprechen sich auch biologisch weibliche Leichtathletinnen für eine harte Linie aus. Öffentlich redet von den Sportlern aber niemand gerne darüber.
Gehört der Test zu den Regeln, oder ist der Eingriff zu gross?
Weniger klar ist die Ausgangslage aus ethischer Sicht. Jürg Streuli ist Medizinethiker, Palliativmediziner und Kinderarzt. Er arbeitet unter anderem am Ostschweizer Kinderspital, für die Stiftung Gesundheitskompass und forscht an der Universität Zürich. Streuli hält flächendeckende Gentests im Spitzensport für bedenklich.
Er sagt: «Die Genetik ist eine sehr persönliche Information, diese Information gehört nur der betroffenen Person.» Wichtig sei, dass diese Tests freiwillig erfolgten, sagt Streuli. Und darin liegt die Crux: Müssen sich Leichtathletinnen DNA-Tests stellen, weil es zu den Regeln des Sports gehört – ähnlich wie im Doping? Oder ist der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte zu gross?
Streuli hält auch für problematisch, dass die Tests ohne medizinische Notwendigkeit angeordnet würden. Mit DNA-Tests können eine Vielzahl genetischer Informationen ausgelesen werden, dazu gehört auch das Risiko, an gewissen Krebsarten zu erkranken. Bekanntestes Beispiel ist die Schauspielerin Angelina Jolie, die sich einem solchen Test unterzogen hatte und sich danach zu einer vorsorglichen Brustamputation entschied.
Was passiert bei Zufallsbefunden?
Streuli sagt, im klinischen Umfeld seien DNA-Tests in der Schweiz streng geregelt und dürften nur aus medizinisch relevanten Gründen durchgeführt werden. «Im Sport fehlt eine solche Regelung, diese müsste World Athletics nun einführen.» Eine wichtige Frage sei auch, wie mit Zufallsbefunden umgegangen werde. Wird eine Athletin informiert, wenn bei ihr im Zuge eines DNA-Tests beispielsweise ein erhöhtes Krebsrisiko diagnostiziert wird? Wird diese Information überhaupt ermittelt? Auf solche Fragen hat auch der Medizinethiker keine klare Antwort.
In der Schweiz sei ihm kein Fall einer intersexuellen Sportlerin in der Leichtathletik bekannt. Das sagt der Sportarzt Peter von Stokar. Er ist Mitglied des Medical Team des Schweizerischen Leichtathletikverbandes Swiss Athletics und ist dort für die Thematik zuständig. Doch auch er äussert ethische Bedenken, aus ähnlichen Gründen wie Streuli. Von Stokar sagt: «Die Resultate solcher Tests sollten nur mit der getesteten Person geteilt werden und nicht mit einer Organisation.»
Es könne ausserdem sein, dass Leichtathletinnen bereits früh in der Karriere getestet würden, sagt von Stokar. World Athletics sieht vor, dass DNA-Tests Pflicht werden vor dem ersten Start bei der Elite. An internationalen Schweizer Meetings, zum Beispiel bei Weltklasse Zürich oder der Athletissima in Lausanne, gibt es allerdings auch Rennen für aufstrebende junge Athletinnen. Von denen erreichen längst nicht alle Weltklasse-Niveau oder qualifizieren sich für Grossanlässe. Nach den Vorgaben von World Athletics müssten aber bereits diese jungen Frauen getestet werden. Ob das verhältnismässig ist?
Offene Kategorien könnten ein Kompromiss sein
Von Stokar sagt, dass die Tests von einer unabhängigen Stelle erhoben werden müssten; in der Schweiz zum Beispiel von Swiss Sports Integrity (SSI). Die Untersuchung müsste in einem neutralen Labor durchgeführt werden. «Ein Verbandsarzt wäre befangen, er führt ja auch keine Dopingtests durch», sagt von Stokar.
Der Medizinethiker Streuli und der Sportarzt von Stokar sind sich einig, dass der Sport einen Weg zur Inklusion Intersexueller finden müsse. Denkbar wären offene Kategorien für Betroffene. Streuli sagt: «Die Olympischen Spiele müssen bei der Inklusion eine Vorreiterrolle übernehmen.» Ein völlig neues Wettkampfsystem mit anderer Wertung sei für ihn denkbar, sagt Streuli. Doch das dürfte ein Gedankenspiel bleiben.
Von Stokar glaubt ebenfalls, dass die olympische Bewegung eine Vorreiterrolle einnehmen müsste. Wie die Inklusion Intersexueller überzeugend gelingen könne – das weiss er selbst aber auch noch nicht. Wie so viele Athleten, Sportlerinnen, Ärztinnen und Funktionäre im Weltsport. Dafür sind zu viele ethische Fragen offen.