Sonntag, April 20

Brian Keller, einst der berühmteste Delinquent der Schweiz, strebt eine Karriere als Profiboxer an. Er surft auf einem Trend, den Youtuber und Tiktoker lanciert haben – und braucht dafür wenig mehr als ein Arztzeugnis.

Gourmets der hohen Faustfechtkunst sind kaum zu erwarten, wenn zwei Novizen kommenden Samstag in Winterthur einen so deklarierten Amateurkampf bestreiten. Im Fokus steht Brian Keller, einst unter dem Pseudonym Carlos wohl der berühmteste Strafgefangene der Schweiz.

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Keller nutzte Kampfsport mal als Therapie, mal um Leuten Knochen zu brechen. Nun will er mit 30 Jahren den Grundstein für eine Profi-Laufbahn legen, die ihm nach all den aktenkundigen Konflikten einen neuen Weg aufzeigen soll. So drückte es zumindest der Veranstalter aus.

Sein Gegner Claude Wilfried ist ein bulliger Judoka, der sich viel besser auf Hüftwürfe und Fussfeger versteht. Das deckelt die sportlichen Erwartungen an die Begegnung, wenn es überhaupt welche gibt, von vornherein.

Nur ein Arztbesuch ist obligatorisch

Scheinheilige Erregung wäre dennoch obsolet. Auch in der Schweiz dürfen die Bürger selbst entscheiden, welche Events sie interessant finden oder nicht. In diesem Sinne werden sie in sechs Tagen mit den Füssen abstimmen. Unabdingbar ist lediglich, dass ein Arzt die Kontrahenten vorab untersucht und für Notfälle eine medizinische Erstversorgung zur Verfügung steht. Ausserdem ist es ratsam, erfahrene Kampfrichter zu engagieren. Alles Übrige ist mehr oder weniger Geschmackssache – auch wenn Traditionalisten des Boxsports das mit Leidenschaft anders sehen.

Es ist nämlich eine Tatsache, dass die Massstäbe für einen ordentlichen, gar wichtigen Boxkampf im Zeitalter von Social Media verschoben werden. Beim sogenannten Influencer- oder Youtube-Boxing etwa zählt nur noch am Rande, welche Akteure von den seit Jahrzehnten etablierten Weltverbänden für wert befunden werden, um einen ihrer vielen Titel zu kämpfen – oder, wie übliche Experten deren Qualität einschätzen. Die Eigendynamik von Plattformen wie Youtube und Tiktok bringt ganz andere Stars hervor. Wenn diese ankündigen, auch einmal in den Ring zu steigen, ist das für ihre Follower mindestens ebenso bedeutend.

So lancieren immer mehr junge Meinungsführer und Selbstdarsteller auf allen Kontinenten eine Boxkarriere, die anderen Regeln und Mechanismen folgt. Sie haben sich in den weiten Echoräumen der sozialen Netzwerke bereits eine Fan-Basis aufgebaut, die mitunter in die Millionen geht.

Diese wird über die bewährten Kanäle eingeladen, die Kämpfe live zu verfolgen – entweder über Video- oder Streamingdienste oder unmittelbar am Ort des Geschehens. Dieser kann ein Ring auf der Wiese, ein Gym im Hinterhof oder eine Grossarena sein. Schliesslich sprengt der «fame» mancher Protagonisten, die sich da tummeln, beinahe alle Dimensionen.

Im Februar 2018 etwa waren gestandene Profis nur noch im Vorprogramm einer Gala in der ausverkauften Londoner Copper-Arena zu finden. Den Hauptkampf bestritten die englischen Youtuber KSI und Joe Weller. Ihr tapferes Duell war von augenfälliger Mittelpracht, doch Fans und Follower standen auf den Stühlen.

Ein aufgedrehter Ringsprecher brüllte ihnen zu, dass sie soeben «das grösste White-Collar-Box-Event aller Zeiten» erlebt hätten. Gemeint ist damit ein Fight zwischen Leuten, die ihren beruflichen Alltag im Büro verbringen und deshalb weisse Hemden tragen. Im Deutschen wird dafür auch der Begriff Managerboxen verwendet.

Im November 2019 zeigte sich das gleiche Phänomen in Los Angeles. Diesmal punktete KSI den amerikanischen Social-Media-Helden Logan Paul in einem Rematch nach Profi-Regeln über gerade einmal sechs Runden aus. Dazn und Sky Sport übertrugen das zähe Geschehen, das bis heute als eines der Highlights im Youtube-Boxen gilt, in zahlreiche Länder. Ein ordinärer WM-Kampf (Version WBO) im Supermittelgewicht wurde dagegen eher als Beifang aufgefasst.

Warum also ein halbes Leben lang strampeln, erst als Amateur und später als Profi, wenn man auch mit ganz kurzem Anlauf im Rampenlicht stehen kann? Die neuen Champions von eigenen Gnaden haben in den digitalen Medien eine Abkürzung entdeckt. Hier reichen oft wenige Kämpfe, um an «fame» und «cash» zu kommen oder die Zuflüsse aus anderen Performances noch zu steigern.

So wie der im Netz gefeierte Brite Swarmz alias Brandon Montel Scott, der es nach einigen Kämpfen als «The Madman» mit ansprechenden Afro-Swing-Songs zu einem Plattenvertrag gebracht hat. Oder der erwähnte KSI, dessen berühmtes Kürzel für «knowledge», «strength» und «integrity» steht.

Der Berühmteste vergibt Titel an sich selbst

Olajide Olayinka Williams Olatunji, so sein bürgerlicher Name, stellte schon als Teenager erste Schnipsel mit witzigen Kommentaren zu Fifa-Videospielen auf Youtube ein – produziert im Schlafzimmer der Eltern. Später kam mit «The Sidemen» eine zweite, mit Partnern betriebene Adresse dazu.

Beide Kanäle haben zusammen inzwischen fast 45 Millionen Abonnenten. Ausserdem etablierte sich der Youngster erfolgreich als Rapper, begann mit Boxtraining und gründete die Promotionsfirma Misfits Boxing. Sie vergibt eigene Champion-Titel, zum Beispiel an ihn, und zieht seit einigen Jahren besondere Wettbewerbsserien auf.

Fitte Kontrahenten mit einer ähnlichen Fan-Basis sind über Social Media ja schnell identifiziert. Der Rest ist Kinderspiel: Sobald der Austausch einen «beef» (Streit) ergibt, können beide Seiten ein Ringduell verabreden, um die Sache zu klären. Wobei KSI die Kampftermine geschickt für Cross-Promotion zu nutzen weiss.

So wählte er seine zuvor veröffentlichte Single «Uncontrollable» beim Kampf mit Joe Weller als Begleitmusik für den Einmarsch zum Ring. Und liess vor dem ersten Duell mit Logan Paul (August 2018) den neuen Song «On Point» in der prallgefüllten Manchester-Arena erklingen.

KSI - UNCONTROLLABLE ft Big Zuu

Dabei handelt es sich um einen sogenannten «Diss-Track», bei dem ein Adressat – in dem Fall Logan – offen provoziert wird. Das Video wurde am Tag der Veröffentlichung 7 Millionen Mal und bis heute über 40 Millionen Mal aufgerufen. Ähnlich schnitt die drei Tage später veröffentlichte Antwort von Logan unter dem Titel «Goodbye KSI» ab. Beide Akteure hatten über Beteiligungen am Ticketverkauf wie an den Klicks also in etwa gleich grossem Stil abgeräumt. Diese Resonanz passte zum Ausgang des Vergleichs, den zwei von drei Punktrichtern als unentschieden werteten.

Ob das noch lupenreines Youtuber-Boxing ist oder eher schon Managerboxen, mag dahingestellt sein. Unstrittig ist, dass die neuen Event-Varianten ihren Akteuren das Gleiche versprechen wie die Don Kings der analogen Welt: Sie können einen Schulabbrecher wie KSI im besten Fall in einen gemachten Mann verwandeln. Sehr wahrscheinlich ist so ein Aufstieg indes auch in der digitalen Parallelwelt nicht. Auch hier bleiben viele Aspiranten in den Anfängen stecken, während andere es bis zur Mitte einer Riesenarena in Arlington, Texas, schaffen.

So geschehen im vergangenen November, als Logan Pauls Bruder Jake den 58-jährigen Mike Tyson über acht Runden fordern (und auspunkten) durfte. Da verschränkten sich plötzlich zwei Boxwelten, die sich sonst kaum begegnen. Auch das durfte man je nach Geschmack als Farce oder als bestes Entertainment ansehen.

Ein Artikel aus der «»

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