Sonntag, März 16

Das Attentat auf den slowakischen Regierungschef wirkt wie ein Weckruf. Die Opposition befürchtet eine weitere Zunahme der Repression. Viele wollen das Land verlassen.

Unmittelbar nach dem Attentat auf den slowakischen Regierungschef Robert Fico laufen die Gesichter einer Handvoll Menschen immer wieder über die Fernsehschirme: Es sind die Augenzeugen, die die Schüsse auf Fico aus nächster Nähe gesehen haben und ihre Eindrücke vor der Kamera wiedergeben. Die meisten sind Fans. Sie hatten ihrem Ministerpräsidenten die Hand schütteln wollen.

Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits einige slowakische Fernsehsender von der amtierenden Koalition unter Druck gesetzt, um weniger regierungskritisch zu berichten. Vielleicht ist das der Grund, warum eine ältere Augenzeugin nur einmal gezeigt wird. Ihre Worte lauten: «Das ist eine Abscheulichkeit, dass bei uns solche Dinge passieren. Ich habe vier Enkel, und ich werde ihnen allen raten, dieses Land zu verlassen.»

Dabei spricht sie einem grossen Teil der Bevölkerung aus dem Herzen. Auch die slowakische Übersetzerin meines Romans, mit der ich an diesem Tag telefoniere, klagt: «Ich weiss nicht, was mit unserer Gesellschaft jetzt passieren wird. Was wird aus unseren Kindern?» Egal, mit welchem meiner in der Slowakei lebenden Familienangehörigen ich spreche, alle treibt die gleiche Frage um.

Die Fronten verhärten sich

Meine sechzehnjährige Cousine erzählt, während der letzten Parlamentswahlen hätten sie in ihrem Gymnasium eine eigene Wahl durchgeführt. Kaum einer der Schüler habe für Robert Fico gestimmt. Der Rechtsruck des Populisten, seine EU-Kritik und die Nähe zu Russland, seine hetzerische Rhetorik: Der jungen Generation könnten der amtierende Ministerpräsident und seine Politik nicht ferner sein. Sie erleben das Attentat als traurigen Höhepunkt einer Polarisierung der Gesellschaft, die im Lauf der letzten Monate bedrohliche Ausmasse angenommen hat.

Gleich drei Wahlkämpfe erlebte das Land innerhalb eines Jahres, und mit jeder Wahlkampagne verschärfte sich die Rhetorik, verhärteten sich die Fronten, die zusammengefasst «für Fico» oder «gegen Fico» hiessen.

Dabei wurde die Gesellschaft immer tiefer gespalten: in ein «wir» und ein «sie», in die «Guten» und die «Bösen», die «guten traditionellen Leute auf dem Land» und die «bösen Liberalen in den Grossstädten», in die «Arbeiterklasse» und die «entrückte Bratislava-Kaffeehaus-Elite», in die Verschwörungstheoretiker und die Aufgeklärten, in jene, die nach Osten zum grossen Bruder Russland blicken, und jene, die sich nach Westen hin und an europäischen Werten orientieren.

So verlor sich das Land auf der Suche nach einer eigenen Identität. Es entstand eine Spannung, die nicht bloss ideologisch, sondern auch emotional aufgeladen ist.

Ficos autokratische Tendenzen werden weitherum durchaus begrüsst. Denn während man sich vor dreissig Jahren noch einig war, dass die Demokratie das beste politische System sei und lebenswerter als eine Diktatur, so herrscht heute eine grosse Ernüchterung vor über die chaotische Regierungsführung der letzten Jahre. Die Bürger bringen die Krisen der jüngsten Vergangenheit mit einem Versagen der Demokratie als System in Verbindung und sehen sich nach Alternativen um.

Es gibt darin eine rationale, im Kern aber vor allem eine emotionale Komponente, die unmittelbar mit der Identitätsfindung verbunden ist: Gehört das Land zum Westen oder doch zum Osten? Fico hat sich seit dem letzten Jahr mit seiner Politik immer stärker nach Osten ausgerichtet und damit bei einem Teil der Bevölkerung Anklang gefunden. Aber es ist eine offene Frage, was zuerst da war, ob Ficos populistische, prorussische Politik oder das Misstrauen seiner Wählerschaft gegenüber dem Westen.

Wöchentliche Demonstrationen

Tatsache ist: Viele Slowaken fühlen sich von etwas bedroht, was sie als westliche Werte bezeichnen, etwa Toleranz gegenüber Migranten, Aufgeschlossenheit gegenüber der LGBTQ-Community oder neuen Familienstrukturen. Ausserdem trauen sie angesichts der Weltlage Russland als strategischem Partner eher als der EU oder gar den USA. Es macht ihnen nichts aus, dass Fico seit seinem Amtsantritt zunehmend autokratisch regiert, Justizreformen durchsetzt und die Medienfreiheit einschränkt.

Gegen solche Massnahmen wehrt sich das liberale Lager, das die Demokratie gefährdet sieht. Es demonstrierte von Januar bis April wöchentlich jeden Donnerstag. An diesen Demonstrationen zeigte sich noch ein Funke Hoffnung, man kam zusammen, klagte über die Machenschaften der Regierung, tröstete sich gegenseitig, man protestierte friedlich, ging danach gemeinsam ins Kaffeehaus.

Es waren durchaus nicht nur junge Leute da, auch viele Ältere kamen, mit Gehstock, wenn nötig, und sie zeigten, dass sie mit den antidemokratischen Tendenzen der Regierung nicht einverstanden waren. Zum Zeichen ihres Protests wurde während der Präsidentschaftswahlen auf Transparente eine runde Brille gemalt, wie der liberale Kandidat Ivan Korcok sie trug, darauf der Slogan: «Wir sehen klar.»

Es ist dieser liberal denkende, proeuropäische Teil der Bevölkerung, der seit dem Attentat auf Fico stark verunsichert ist. Viele befürchten, dass die Regierung nun noch repressiver vorgehen wird. Zukunftsängste sind spürbar. Besonders die junge Generation ist desillusioniert, sie will nicht länger auf eine freundlichere Wendung der Ereignisse warten. Es werden noch mehr Menschen nach der Schule das Land verlassen. Der Braindrain, in der Slowakei ohnehin bereits in vollem Gange, wird in Zukunft wohl weiter zunehmen.

Grosser Reformbedarf

Laut neusten Umfragen hegen mehr als zwei Drittel der Jugendlichen unter 24 Jahren die Absicht, die Slowakei zu verlassen. Dass in ihrem Land ein solches Attentat verübt wird, ist dabei vielleicht gerade für sie, die jüngste Generation, am wenigsten überraschend. Viele von ihnen kennen das politische Leben nicht anders als vergiftet von persönlichen Angriffen und verbalen Attacken. Sie sind in einer Zeit gross geworden, in der Beschimpfungen, Korruption und vulgäre Ausdrucksweise zu gängigen Werkzeugen des politischen Lebens wurden.

Dabei braucht das Land weniger Streit als vielmehr grosse Reformen. Das Gesundheitssystem ist in desolatem Zustand und das Bildungswesen unterfinanziert, der Wirtschaft fehlt es an Investoren, und die Chancenungleichheit am Arbeitsplatz, niedrige Löhne und geringer Modernisierungseifer sind Probleme, die durch die Abwanderung der talentiertesten slowakischen Köpfe noch verstärkt werden.

Dieser Verlust von qualifizierten Arbeitskräften könnte schwerwiegende Folgen für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Landes haben. Dass die jungen Leute aber gerade unter den derzeitigen politischen Zuständen ihren persönlichen Möglichkeiten zur Zukunftsgestaltung Vorrang geben, ist verständlich. «Von uns Schülern wollen wirklich die wenigsten hier bleiben», erzählt mir meine Cousine. «Die meisten wollen nach der Matura gleich ins Ausland. Irgendwohin, zumindest nach Tschechien, Hauptsache, weg.»

Susanne Gregor ist Schriftstellerin slowakischer Herkunft und lebt heute in Wien.

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