Donnerstag, Oktober 3

Paris steht unter Druck, Brüssel zu erklären, wie es seinen Schuldenberg abbauen will. Die künftige Regierung von Premierminister Barnier hat aber schon mit dem laufenden Haushalt ihre Probleme.

Bereits fünf Tage nach seiner Ernennung zum neuen französischen Premierminister läuft Michel Barnier die Zeit davon. Einen wichtigen Termin in Brüssel wird der ehemalige EU-Kommissar und Brexit-Chefunterhändler in jedem Fall nicht mehr einhalten können: Bis zum 20. September hätte seine Regierung der Europäischen Kommission eigentlich erklären sollen, wie Frankreich seinen gewaltigen Schuldenberg abbauen will.

Mit mehr als 3100 Milliarden Euro Schulden steht Europas zweitgrösste Volkswirtschaft bei den Banken und Investoren tief in der Kreide. Wie das französische Finanzministerium mitteilte, könnte das Defizit in diesem Jahr von 5,1 auf 5,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts steigen – das ist weit entfernt von den Schwellenwerten des Stabilitäts- und Wachstumspakts, der von den EU-Staaten verlangt, ihr Defizit unter 3 Prozent zu halten. Mitte Juni hatte die Kommission deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich (und sechs weitere Mitgliedstaaten) eingeleitet.

Aufschub für Paris

Doch nicht zuletzt weil Barnier in Brüssel bestens vernetzt und angesehen ist, dürfte der neue Premierminister nicht lange gebettelt haben, um einen Aufschub für sein Land zu bekommen. Frankreich wird seine Vorschläge zur Kürzung der öffentlichen Ausgaben später einreichen und wahrscheinlich auch mehr Zeit für den Schuldenabbau bekommen. Dafür muss es gemäss Brüsseler Vorgaben lediglich nachweisen, in «wachstumsfördernde Reformen» und «strategische Sektoren» zu investieren.

Es ist deswegen eine andere Frist, die Barnier grösseres Kopfzerbrechen bereitet: Bereits in drei Wochen, am 1. Oktober, muss seine Regierung in der Assemblée nationale einen Haushaltsentwurf für das kommende Jahr vorgelegen. Bei der Bildung seines Kabinetts steht der konservative Gaullist jedoch erst ganz am Anfang, und es ist rätselhaft, wie er einen Sparhaushalt durch ein Parlament bekommen will, in dem der Mehrheit der Abgeordneten herzlich wenig nach Sparen zumute ist.

Zu erwarten ist, dass Barnier eine Minderheitsregierung aus Parteien des Mitte-Lagers und seiner eigenen Partei, den konservativen Républicains, schmieden wird. Das Linksbündnis Nouveau Front populaire (NFP) sieht sich weiter um seinen Wahlsieg betrogen und will Barnier mit einem Misstrauensvotum stürzen. So wird sich der Premierminister voraussichtlich vom rechtsnationalen Rassemblement national (RN) tolerieren lassen. Sowohl die extreme Linke wie auch die extreme Rechte haben sich jedoch in der Vergangenheit wiederholt gegen Ausgabenkürzungen ausgesprochen.

Im Wahlkampf agitierte die Partei von Marine Le Pen heftig gegen die Rentenpläne von Präsident Emmanuel Macron, die eine Anhebung des Mindesteintrittsalters von 62 auf 64 Jahre vorsehen. Und auch bei der geforderten Senkung der Mehrwertsteuer auf Gas, Heizöl und Kraftstoffe wusste sich das RN mit den Linken einig. Massiv will Le Pen zudem in die Sicherheit, in mehr Polizei und Grenzschutz investieren.

Bruno Le Maire, der scheidende Wirtschaftsminister, drängte Barnier bei einer Anhörung vor dem Finanzausschuss im Parlament, den Rotstift bei den öffentlichen Ausgaben anzusetzen, um mindestens 100 Milliarden Euro bis 2028 einzusparen und so europäischen Verpflichtungen nachzukommen. Als weitere Einnahmequelle schlug Le Maire vor, sogenannte «Übergewinne» grosser Energiekonzerne sowie Aktienrückkäufe zu besteuern. Zugleich warnte er davor, die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung stärker zu besteuern oder die von Macron abgeschaffte Vermögenssteuer wiedereinzuführen, wie dies der NFP fordert.

Droht ein Shutdown à la française?

Wird Barnier für eine Politik der haushaltspolitischen Vernunft trotzdem Partner finden? In seinem ersten Interview nach seiner Ernennung machte der Premierminister keine Anstalten, die Lage zu beschönigen. Die Franzosen dürften wohl von ihm erwarten, dass er die Wahrheit ausspreche, sagte er, und zur Wahrheit gehöre, dass die Schulden «schwer auf den Schultern unserer Kinder lasten». Eine Erhöhung des Staatsdefizits werde es mit ihm jedenfalls nicht geben. Barnier hatte schon während des Präsidentschaftswahlkampfes 2022 Macrons mühsam erkämpfte Rentenreform unterstützt. Zu «moderaten Anpassungen», deutete er jetzt im Interview an, sei er aber bereit.

Ob das ausreicht, um die Wut des linken Spektrums zu zügeln, ist fraglich. Französische Gewerkschaften haben bereits zu neuen Protesten aufgerufen. Zugleich hat auch das Rassemblement national zu verstehen gegeben, dass es Barnier keineswegs einen Blankocheck erteilt. Der neue Premierminister stehe «unter Beobachtung», sagte der RN-Chef Jordan Bardella, «ohne uns geht nichts».

Kommt es zu keiner Einigung im Haushaltsstreit, könnte Frankreich im schlimmsten Fall ein Stillstand der Regierungsgeschäfte drohen, ein Shutdown, wie man ihn aus den USA kennt. Davor warnte am Wochenende der Präsident des Rechnungshofes, der Sozialist Pierre Moscovici, in einem Interview mit «Le Parisien». Der nächste Haushalt sei zweifellos der «heikelste in der Geschichte der Fünften Republik».

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