Mittwoch, April 16

Passt Heidi noch auf die Bühne der Gegenwart? Am Theater Neumarkt wird der Stoff als persiflierendes Rollenspiel inszeniert. Das Stück lebt von Charme und grotesken Übertreibungen.

Der blaue Himmel leuchtet im Hintergrund, darunter grünt am Abhang eine Wiese. Links prangt ein goldenes Kruzifix, und an der Wand hängt ein Alpenpanorama von Hodler. So wäre auf der Bühne eigentlich alles angerichtet für einen heimatlichen Abend mit Heidi.

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Tatsächlich trägt das neue Stück im Theater Neumarkt, von Hayat Erdogan geschrieben und inszeniert, den Namen der kindlichen Schweizer Nationalheldin – allerdings mit einem Zusatz, der skeptisch stimmt: «Heidi. Ein cottagecore-pop-musikalischer Bergrutsch». Was mag das sein?

Dann gleich zu Beginn ein Bergrutsch der Gefühle oder jedenfalls eine Enttäuschung. Statt eines fröhlichen Mädchens oder eines kräftigen Geissenpeters zeigen sich schüchtern bloss zwei Frauen und zwei Männer. Der eine in einem dunklen Hirtenrock und einem breitkrempigen Hut; die andern in beiger, zum Teil mit Rüschen verzierter Spitzenwäsche, die aus dem 19. Jahrhundert stammen dürfte, womöglich aus St. Galler Produktion.

Die Legende lebt

Zu viert trudeln sie an den vorderen Bühnenrand wie scheinheilige Schüler: «Frau Johanna Spyri, wir haben die Hausaufgaben vergessen!» Das sagen sie zwar nicht. Ohnehin sprechen sie meist Englisch, zuweilen Französisch, nur selten hingegen Deutsch oder Schweizerdeutsch. Scheinheilig aber schauen sie ins Publikum, und reumütig geben sie bekannt: Heute leider kein Heidi! Heidi sei zu Hause geblieben bei den Geissen und dem Grossvater, vielleicht habe sie auch den Zug verpasst. Womöglich sei sie unterdessen eine Frau. Oder aber bereits gestorben.

Ausgerechnet auf Heidis Tod einigen sich die vier. Und sofort bricht ein Lamento aus, ein Gejammer und Geheule, das von elegischen Klängen eines Heidi-Requiems untermalt wird. Aus tiefster Trauer schöpfen die zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler indessen nochmals Mut, indem sie sich gegenseitig an Heidis Verdienste erinnern.

In einem anschwellenden Bocksgesang wird aufgezählt: die Freude an den Tieren und Blumen, die Ehrfurcht vor «goats and God». Heidi verdanken sie auch zahlreiche Weisheiten: Man soll nicht warten, bis der Sturm vorbei ist, man soll lernen, im Regen zu tanzen; auch in dunklen Zeiten könne man glücklich sein, wenn jemand das Licht anschalte . . . Nein, das habe nicht Heidi gesagt, sondern Harry Potter.

Jedenfalls spüren die vier: Heidi mag tot sein, die Legende aber lebt. Das gibt ihnen Kraft, auf der Bühne am Heidi-Stoff weiterzuarbeiten. Noch mehr Schub gibt ihnen allerdings Schweizer Ziegenmilch. In einer aberwitzigen Szene geraten alle in einen Milchrausch, in einen eigentlichen Milchorgasmus, der sie schnauben und zucken lässt. Nach diesem erotischen Erweckungserlebnis versuchen sie dann, selbst in die Rolle von Heidi zu schlüpfen.

Die Inszenierung am Neumarkt-Theater (Regie: Lena Reissner) lebt einerseits von Komik und Ironie, von grotesken Übertreibungen in der Rede und in den Gefühlen sowie von geradezu surrealen Einschüben. Andrerseits aber verströmen die vier Darsteller sehr viel Charme und Wärme. Das gilt etwa für Chady Abu-Nijmeh, der sich seines Huts und seiner Hirtenkluft entledigt, um als überengagiertes Heidi über die Wiesen zu springen, den Geissenpeter fast ebenso enthusiastisch feiernd wie später einen alpinen Sonnenuntergang.

Die andern finden sein Spiel allerdings zu enthusiastisch, zu naiv. Chady soll deshalb die Rolle der leidenden Klara übernehmen, die in Frankfurt Besuch aus der Schweiz erwartet. Heidi allerdings erweist sich, von Yara Bou Nassar verkörpert, plötzlich als ein Geissbock mit starrenden Augen, der die Szenerie in eine Traumwelt verwandelt. Klara wird ihre Trauer sozusagen am Fell des geduldigen Tieres abstreifen können. Das Mädchen aus den Schweizer Bergen hingegen leidet in Frankfurt an Heimweh. Gespielt nun von Melina Pyschny, beginnt Heidi gegen die deutsche Stadt zu wettern und gegen ihre Integration zu rappen.

Im Laufe des Abends wird das Thema «Heidi» musikalisch tatsächlich in allen möglichen Stilen variiert (Musik: Joachim Flüeler, Moritz Widrig) – von klassischen Streicherklängen über Volksmelodien und Musical-Anklängen bis hin zum technoiden Schlager, den zuletzt Challenge Gumbodete als singendes Heidi zum Besten gibt.

Die Ziegen haben etwas zu meckern

Fast könnte man von einem Heidi-Musical sprechen. Die theatrale und musikalische Herausforderung scheint die vier Heidis zuletzt ziemlich ermüdet zu haben. Zunächst liegen oder stehen sie nun sinnierend herum, um ihr Theater mit einer Moral abzurunden: Mythen seien manipulativ, wird moniert, sie packten das Chaos der Realität in simple Geschichten. Und die Nostalgie sei eine «bitch». Sie schaffe ein Verlustgefühl, das die Machthaber mit dem Versprechen ausnutzten, irgendetwas «great again» zu machen.

Aha, so ist das, denkt man sich, da verwandeln sich Schauspielerinnen und Schauspieler offenbar in Ziegen. Während sie langsam aus der Bühne wandern, wird ihr Gemecker auf Screens ins Deutsche übersetzt. So ist zu erfahren, dass sie sich weiterhin über Heidi und Heimat austauschen. Der Mythos scheint noch nicht erschöpft unter den Wiederkäuern.

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