Donnerstag, Oktober 10

Die Geschichte der Villigers erzählt von Frauen, die Geschäftssinn bewiesen, einem Bruder, der Bundesrat wurde, und einem Patron, der sich selbst zum Letzten macht.

Die Nachricht kommt von einer Schreibmaschine. In mechanischer Schrift steht da: «Gegen 1700 Mitarbeiter beschäftigt das Tabak-Unternehmen Villiger.» Erst kürzlich habe man eine Zigarrenfabrik in Nicaragua und eine in Brasilien eröffnet. Der Verfasser hat das Schreiben handsigniert: Heinrich Villiger, Inhaber und Patron. Das Datum am oberen rechten Rand versichert, woran man beim Anblick der Nachricht zu zweifeln beginnt: Sie stammt aus dem Jahr 2024.

Heinrich Villiger führt ein weltumspannendes Tabakunternehmen. In sieben Ländern produziert die Villiger-Gruppe Zigarren, Cigarillos und Stumpen, mehr als eine Milliarde im Jahr. Ihr Patron wird bald 94 Jahre alt. Die Geschäfte leitet er inzwischen mehrheitlich von seinem Zuhause in Full-Reuenthal aus, einem Aargauer Dorf an der Grenze zu Deutschland. Es gibt zwar eine E-Mail-Adresse, die auf seinen Namen lautet, doch einen Computer besitzt Heinrich Villiger nicht. Er hat auch kein Handy. Villiger richtete sein Unternehmen so ein, dass er es auch ohne elektronische Geräte führen kann.

Villigers Sekretärin druckt jeden Tag sämtliche Korrespondenz aus, ein Kurier bringt die Post nach Feierabend vor die Haustüre. Villiger sortiert sie in zwei Stapel: links die Briefe, die einfach zu beantworten sind. Rechts die Briefe, die eine ausführliche Stellungnahme des Patrons erfordern. Dann setzt er sich an seine Schreibmaschine. Denn sein Vater hatte ihn schon als Kind gelehrt: «Das Wichtigste im Leben ist, dass du eine Schreibmaschine bedienen kannst.» Villiger hat sich eisern an den Rat gehalten, bis heute.

Seine älteste Tochter, Corina Villiger, 64, sagt über ihn: Er sei ein Patron alter Schule. «Ein Schreibtisch voller Akten bedeutet Fleiss und Engagement. Ein leerer Schreibtisch mit Computer ist für ihn schwer nachzuvollziehen.»

Heinrich Villiger ist der letzte Patron seiner Art. Er dürfte auch der älteste Zigarrenfabrikant der Welt sein, der noch operativ tätig ist. Mehrmals wollte er in den Ruhestand gehen, die Führung hatte er bereits übergeben. Geklappt hat es nie. Villiger sei jemand, der die Zügel nicht aus der Hand geben könne, sagen Wegbegleiter. Tatsächlich gebe es kaum jemanden, der mehr vom Tabak verstehe als er – davon ist er selbst überzeugt.

Wer ist der Mann, der nicht loslassen kann?

Woran Heinrich Villiger Freude hat, dort investiert er

Am Hauptsitz des Unternehmens in Pfeffikon hat sich der Zigarrenrauch in den Wänden festgesetzt, überall riecht es danach. Je nach Raum ist der Duft süsslich oder herb, dann mischt er sich mit Geschmäcken wie Caipirinha, Vanille oder Pfirsich. Heinrich Villiger, das weisse Haar zur Seite gekämmt, geht leicht gebückt, manchmal fährt er dabei mit der Hand der Wand entlang, um sich zu stützen. Seine Finger sind knöchern, die Stimme brüchig. Villigers eigentliches Büro liegt in Waldshut-Tiengen, der deutschen Niederlassung der Firma. Er arbeitet immer seltener dort. Seine Besuche in Pfeffikon sind rar geworden.

Wo immer Heinrich Villiger durchgeht, heben die Mitarbeiterinnen zwischen den Maschinen den Kopf und nicken ihm ehrfürchtig zu. Er geniesst in seinem Unternehmen eine Art von Respekt, wie es in der heutigen Unternehmenskultur selten geworden ist. Als er an den gelagerten Tabakballen vorbeikommt, hebt er ein paar Blätter ab und riecht daran. Schon als junger Mann hat Villiger gelernt, so die Qualität zu prüfen. Ein Angestellter beobachtet ihn, er strahlt. Dann geht er dem Patron die Hand schütteln. «Das ist, als ob der Papst zu Besuch wäre», sagt er später.

Der Patron betritt die Raucherlounge. An der Wand hängt ein grosses Porträt vom jungen Heinrich Villiger. In einer Vitrine steht ein Formel-1-Pokal von 1976, als Villiger einen Rennstall gesponsert hat. Der Bubentraum dauerte eine Saison lang. «Dann ist uns das Geld ausgegangen.» Heinrich Villiger investiert gerne in Dinge, die ihm Freude bereiten. Er besitzt auch einen Demeter-Hof in Deutschland.

Villigers unternehmerische Entscheide sind oft nicht vom Profit getrieben. Er nimmt beispielsweise kaum je ein Produkt aus dem Sortiment – selbst wenn das Werk in Pfeffikon für eine bestimmte Sorte Cigarillos nur zweimal im Jahr die Maschinen laufen lässt. «Zum Leidwesen des Werkleiters», sagt der Patron. «Aber mir ist wichtig, dass jemand, der sein Leben lang das gleiche Produkt geraucht hat, sich nicht umgewöhnen muss.» Denn Heinrich Villiger mag es selbst am liebsten, wenn sich nicht zu viel verändert.

Das Gebäude, in der die Raucherlounge eingerichtet ist, war früher ein Pferdestall. Wo einst Zuchtpferde seines Vaters standen, hält Villiger heute Sitzungen ab. Er setzt sich auf einen Stuhl. «Wollen Sie einen Kaffee, Herr Villiger?», fragt der Werkleiter Werner Rudin. Villiger nimmt eine Zigarre zwischen die Finger und versucht, deren Kopf abzuschneiden. Es gelingt nicht. «Herr Rudin, bringen Sie mir einen anderen Zigarrenschneider», sagt Villiger. «Der hier ist wohl einer aus dem Kindergarten oder einer aus der EPA.» Villiger ist jetzt halb genervt, halb amüsiert. Die EPA war einst eine Schweizer Warenhauskette. Sie schloss vor zwanzig Jahren.

Heinrich Villigers Unternehmen wurde gross, als das Rauchen noch mehr Genuss war als Gesundheitsrisiko, als im Büro, im Zug und in der Beiz selbstverständlich gepafft wurde – und zu einer Zeit, in der ein ganzes Tal von den Stumpen lebte. Doch das einst glorifizierte «Stumpenland» gibt es nicht mehr. Im Wynental, wo früher bis zu vierzig Stumpenfabriken im Umkreis weniger Kilometer standen, gibt es heute nur noch zwei Zigarrenfirmen: Villiger und seine langjährige Konkurrentin Burger Söhne, wobei diese inzwischen unter der deutschen Marke Dannemann auftritt und den Sitz nach Rotkreuz verlegt hat. Nur Villiger produziert hier noch Zigarren. Und zwar in jenem alten Fabrikgebäude, in dem alles angefangen hat. Mitten im Dorfkern von Pfeffikon, einem 700-Seelen-Dorf, wo der Kanton Luzern auf den Kanton Aargau trifft.

Die Familie Villiger hat den Stumpen, so nennt sich die Zigarre ohne Kopf, nicht erfunden. Es war auch nicht sie, die den Tabak in die Deutschschweiz brachte. Und schon gar nicht betrieb sie die erste Zigarrenfabrik der Region. «Wir waren sogar eine der letzten», sagt Monika Villiger. Die 88-Jährige ist die jüngere Schwester des Patrons. Nein, die Villigers zeichnet etwas anderes aus. Wie so oft im Leben sind es nicht die Ersten, die am Ende noch da sind, sondern jene, die am längsten durchhalten.

Heinrich Villiger ist jemand, der durchhält. Zwar hatte er als Erstgeborener gute Voraussetzungen, sich durchzusetzen. Dass er sich aber in seiner Rolle des Patrons derart etablieren konnte, war nur möglich, weil seine Geschwister sich anderen Aufgaben zugewandt haben. Alle drei Geschwister haben im Familienunternehmen gearbeitet. Der jüngste Bruder, Kaspar Villiger, hatte einst das Schweiz-Geschäft geleitet. Dann wurde er Bundesrat und später Präsident der Grossbank UBS. Seitdem der berühmte Bruder das Familienunternehmen verlassen hat, steht Heinrich Villiger allein an der Spitze. Und vielleicht war es gerade die Karriere seines Bruders, die zu seiner Ausdauer als Patron beigetragen hat.

Heinrich Villigers jüngere Schwester, Monika Villiger, hat einst den Export des Familienunternehmens aufgebaut. Heute hat sie sich der Historie des Tabaks zugewandt – oder des «Tubaks», wie die Villigers ihn nennen.

Monika Villiger geht durch die alte Kapelle in Menziken, dem Nachbardorf Pfeffikons. Die Kapelle ist heute ein Museum. Alte Maschinen, Plakate und Fotos zeugen davon, wie wichtig der Tabak und die Stumpen einst für dieses Tal waren. Das Museum wurde von einer privaten Trägerschaft gegründet. Das Unternehmen Villiger hat dem Museum alte Maschinen zur Verfügung gestellt und liefert regelmässig Stumpen und Cigarillos für die Besucher.

Monika Villiger leitet Führungen im Museum, und auch sonst ist sie sehr beschäftigt: Sie besucht pensionierte Villiger-Mitarbeiter, spricht an Veranstaltungen über die Tabakindustrie und ihre Zeit als Exportmanagerin. Sie pflege zahlreiche Kontakte, «gerne auch mit jüngeren Leuten – das finde ich inspirierend». In der übrigen Zeit arbeitet sie in ihrem Garten. «Wir sind halt alle ein wenig Workaholics», sagt sie. Monika Villiger verwendet oft beiläufig Anglizismen. Sie hat ihr Leben lang die Welt bereist.

Eine Frau rettete das Familienunternehmen – allein

Monika Villiger ist eine kleine Frau, doch wenn sie spricht, scheint es, als stünde sie auf einer Kanzel. Sie erzählt leidenschaftlich, detailliert und kennt jede Jahreszahl auswendig. Sie sei zwar mit Stumpen aufgewachsen, «aber das Rauchen hat mir nie besonders geschmeckt», meint sie. Lieber als dem Familienunternehmen widmet sie sich heute der Geschichte des «Stumpenlands». Und diese beginnt, lange bevor die Familie Villiger ins Tabakgeschäft einstieg.

Die Geschichte führt ins Wynental, jenes Tal, das sich vom luzernischen Beromünster über die Kantonsgrenze in Richtung Aarau erstreckt. Die Region befand sich einst in tiefer Not, Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Baumwollindustrie, die das Tal versorgt hatte, lag brach. Der wasserbetriebene Webstuhl verbreitete sich, und die örtlichen Gewässer, die Wyna und der Aabach, führten zu wenig Wasser, um ihn zu nutzen. Das Tal verarmte, Hunderte junge Menschen wanderten aus. Die Dörfer begannen, Einwegtickets für die USA zu verschenken. Je mehr fortgingen, desto besser.

Andere schickten ihre Kinder fort, um Arbeit zu suchen. So auch der Tuchfabrikant Samuel Weber, der seinen Sohn ins Welschland entsandte. Als dieser zurückkehrte, brachte er einen Rohstoff mit, von dem er überzeugt war, er würde dereinst «Goldstücke ins Tal regnen»: Tabak. 1838 eröffnete Weber die erste Pfeifentabakfabrik, kurz darauf kam von anderer Seite eine Stumpenfabrik dazu. Bald wimmelte es von Stumpenfabriken.

Und so kam es, niemand weiss genau, weshalb, dass die Stumpen aus dem Wynental im amerikanischen Bürgerkrieg landeten, als die Tabakfelder der Südstaaten zerstört worden waren. In den 1860er Jahren rauchten die Soldaten im Bürgerkrieg um die zehn Millionen Stumpen aus dem Wynental – und zwar jeden Monat.

Das Geschäft florierte, 4000 Menschen im oberen Wynental und im angrenzenden Seetal lebten von der Tabakindustrie: Es waren Fabrikanten, Arbeiterinnen, aber auch Schreiner und Mechaniker, die der Produktion zudienten. In nahezu jedem Haushalt stand ein Wickeltisch – nicht etwa um Kinder zu wickeln, nein, um Zigarren zu fertigen. Heimarbeit waren die Wynentalerinnen noch aus den Zeiten der Webstuben gewohnt. Und auch jetzt verdienten sich Hunderte Lehrerinnen, Schneiderinnen, Mütter und Kinder einen Zustupf in der heimischen Stube. Die Region wurde zum «Stumpenland».

Die Fabrikantenfamilien erhielten Beinamen, die auf ihr jeweiliges Produktlogo hinwiesen: Gautschis und Hauris wurden zu «Göggus» (weil ein Hahn die Packung zierte), Eichenbergers zu «Bäumlis», Burgers zu «Rösslis».

Besonders zwei Familien erwiesen sich als die grossen Profiteure des Booms. Die Pionierfamilien Weber und Hediger waren bald im ganzen Tal für ihren ausufernden Lebensstil bekannt: «Sie bauten Villen, kauften sich Diamanten und fuhren teure Autos. Sie haben das Geld überall ausgegeben, nur nicht in der Firma», erzählt Monika Villiger. «Damals sagte man über Leute, denen es besonders gutging: ‹Sie führen ein Hediger-Leben›, oder: ‹Es hedigerlet.›»

Und Villigers? Heinrich Villigers Grossvater, Jean Villiger, arbeitete zunächst als Buchhalter in der «Bäumli»-Zigarrenfabrik. Als er sich 1888 selbständig machen wollte, erhielt er von seinem Chef kein Konkurrenzverbot, wie es heute üblich wäre, sondern einen Kredit. Nur vierzehn Jahre später starb er. Die Geschichte von Villiger-Zigarren hätte hier enden können.

An der Beerdigung ihres Mannes erhielt Villigers Witwe Louise ein Angebot eines anderen Fabrikanten: Sie solle ihn heiraten und ihm das Unternehmen vermachen. Sie lehnte dankend ab. Stattdessen führte Louise Villiger das Unternehmen selbst weiter, bis ihre Söhne alt genug waren, ins Geschäft einzusteigen. Sie gründete eine Niederlassung in Deutschland, lancierte neue Produkte und fuhr jeden Sonntag mit der Kutsche von Beiz zu Beiz, um die Stumpen zu verkaufen. «Meine Grossmutter muss eine unglaubliche Frau mit gutem Geschäftssinn gewesen sein», sagt Monika Villiger. Sie hat sie nicht mehr kennengelernt.

Heinrich Villigers Vater Max gehörte zu jenen Wynentalern, die ihr Glück in den USA suchten. Er wollte dort mit Freunden ein Tabakunternehmen aufbauen. Dann holte ihn die Pflicht ein. Nach ein paar Jahren drängte ihn seine Mutter Louise, zurückzukehren und mit dem Bruder das Geschäft zu übernehmen. Monika Villiger erinnert sich: «Vater hat der Zeit in Amerika sein Leben lang nachgetrauert.»

Max Villiger aber schickte sich in seine neue Aufgabe. Er sei ein sozialer Patron gewesen, der zu den Leuten geschaut habe, und einer mit Bürgersinn, berichten seine Kinder. Sein Bruder Hans stieg schliesslich aus der Firma aus und widmete sich fortan vermehrt der Politik. Auch diese Geschichte sollte sich wiederholen.

Heinrich Villigers Leben war vorgespurt

Vor dem Tabakmuseum steht der graue VW Golf Plus von Monika Villiger. Sie seien streng und sparsam erzogen worden, sagt sie. «Vielleicht waren wir fast ein wenig geizig.» Geld hätten sie zu Hause nie bekommen, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Was zählte, war Leistung. Für den Vater stand fest: Seine Söhne würden dereinst ins Geschäft einsteigen. Für die beiden Söhne aber war das weniger klar.

Sechs Jahre trennen den Ältesten, Heinrich, von seiner Schwester Monika und elf von seinem Bruder Kaspar. Wirklich zusammen aufgewachsen seien sie nicht. Als Heinrich Villiger die Oberstufe beendet hatte, schickte der Vater ihn für die Matura in die Romandie, um sein Französisch aufzubessern.

«Ich hätte schon gerne studiert», räumt der Patron ein. Aber der Vater hatte andere Pläne für ihn. «Mein Leben war vorgespurt», sagt Villiger. Er sollte das Geschäft mit dem Tabak von Grund auf erlernen. Heinrich Villiger reiste in die USA, arbeitete dort auf Tabakbörsen, dann ging er nach Kuba, Santo Domingo und Puerto Rico. Er lernte, was guten Tabak ausmacht, und studierte das Handwerk der Zigarren, ein ganzes Jahr lang. «Dann kam ich zurück und wurde ins Geschäft ‹inegheit›.»

Gemeinsam mit dem Vater leitete der Zwanzigjährige fortan den Familienbetrieb, sein Vater übergab ihm den deutschen Zweig der Firma. Die beiden teilten nicht nur die Liebe zum Tabak, sondern auch zu den Pferden. Am Sonntag wurde ausgeritten. Wäre es nach dem Vater gegangen, hätte Heinrich Villiger im Militär zur Kavallerie gehen sollen, doch er scheiterte an einem zu hohen Puls. Er wurde zum HD degradiert, zum Hilfssoldaten. «Wir waren das Gespött der gewöhnlichen Soldaten», sagt Villiger.

Beim Reiten lernte Heinrich Villiger auch seine spätere Frau kennen: Martina Burger, eine Tochter des Konkurrenzfabrikanten. «Ich habe sie nicht deswegen geheiratet», sagt Heinrich Villiger ganz ernst. Sein Vater habe sich sehr gefreut über die Verbindung, erzählt er, «die Burgers hingegen schätzten es damals weniger, dass jemand aus ihrem Stamm einen Villiger heiratet».

Während Heinrich Villiger seinem vorgesehenen Weg folgte, gestand der Vater den beiden anderen Geschwistern mehr Freiheiten zu. Die Schwester Monika wollte gleich nach der Handelsschule auswandern, ein Studium interessierte sie nicht. Ihr Vater bestärkte sie darin. «Auswandern ist das Beste, was du tun kannst», habe er ihr gesagt.

So kam es, dass die damals Zwanzigjährige zuerst in Nashville bei ausgewanderten Wynentalern zu arbeiten begann und dann mehrere Jahre quer durch den südamerikanischen Kontinent reiste. Um sich die Weiterreise zu finanzieren, arbeitete sie, wo immer sie gerade war. «Ich wollte unabhängig sein.» Denn Monika Villiger ist ein Freigeist. Sie hat auch nie geheiratet. Mit einem Schmunzeln sagt sie: «Ich führte immer ein weniger bünzliges Leben als meine beiden Brüder.»

Heinrich Villiger durfte nicht studieren, seinem jüngeren Bruder Kaspar jedoch war eine akademische Ausbildung vergönnt. Im Gegensatz zu Heinrich durfte dieser die Matura im nahe gelegenen Aarau statt in der Romandie abschliessen. Anschliessend wollte er studieren, am liebsten Mathematik oder Physik. Doch mit solchen abstrakten Fächern konnte der Vater nichts anfangen, schliesslich würde das Familienunternehmen nicht davon profitieren. Wirtschaft wäre ihm lieber gewesen.

Die beiden schlossen einen Kompromiss: ein Maschinenbaustudium an der ETH Zürich. So könnte er dereinst immerhin die Automatisierung der Fabrik vorantreiben. Im Gegensatz zu seinem Bruder hielt sich Kaspar Villiger schon als Kind lieber in der Werkstatt auf als bei den Tabakballen.

Kaspar Villiger, das stand für den grossen Bruder und den Vater fest, würde nach dem Studium ins Familienunternehmen eintreten. Er aber hatte andere Pläne. Kaspar Villiger träumte von einer Karriere in der Forschung, setzte im Studium mathematische Schwerpunkte, wo es nur möglich war. Doch kaum hielt er das Diplom in Nukleartechnik in der Hand, starb sein Vater.

Nun holte auch den jüngeren Sohn die Pflicht ein. Der Bruder beorderte ihn umgehend in die Firma – er solle nun das Schweizer Geschäft übernehmen. «Das fiel mir nicht leicht», sagt Kaspar Villiger heute. «Aber wir wurden so erzogen, dass die Firma immer Priorität hat.» Er gehorchte.

Zwei Brüder, die das Familienunternehmen führen, gab es bereits in der Generation zuvor: Auch der Vater Max und sein Bruder Hans teilten sich die Aufgaben im Geschäft. Nicht immer lief das reibungslos. Wohl auch deshalb hielten es die Brüder Heinrich und Kaspar für sinnvoll, die Firma aufzuteilen: Heinrich leitete das deutsche, Kaspar das Schweizer Geschäft. Denn die zwei Brüder sind grundverschieden: Heinrich gilt als spontan und ideenreich, als Mensch, der aus dem Bauch heraus entscheidet. Kaspar hingegen ist ein Systematiker, der sich klare Ziele setzt und auf diese hinarbeitet.

Was es heisst, ein Patron zu sein, hat Heinrich Villiger bei seinem Vater gelernt. Auch der Vater Max habe vor Ideen gesprudelt, erzählt Monika Villiger. Am Abend habe er sie jeweils am Familientisch mit seiner Frau besprochen. «Er legte grossen Wert auf die Meinung unserer Mutter», sagt Monika Villiger. Max Villiger war innovativ, er war es, der erstmals flache Stumpenpackungen verkaufte, die bequem in der Westentasche lagen. Davor wurden sie in Bündeln verkauft. «Innovativ zu sein, hat er in Amerika gelernt», sagt seine Tochter.

«Heiri», wie Monika Villiger ihren Bruder nennt, sei seinem Vater nicht in vielem ähnlich gewesen. Sie sagt: «Heiri präsentiert sich gerne, dem Vater war das egal. Er war ein Bodenständiger.»

Heinrich Villiger wird nachgesagt, dass seine Frau grossen Einfluss auf ihn habe. Er habe Themen aus der Firma jedoch nie am Familientisch besprochen, sagt seine Tochter, Corina Villiger. «Wenn er zum Mittagessen nach Hause kam, habe ich ihm trotzdem immer angesehen, ob er gerade Sorgen hatte.»

Als Villiger nicht mehr für Stumpen stand

Bevor Kaspar Villiger in die Politik ging, führte er das Familienunternehmen in Pfeffikon. Die beiden Brüder liessen einander gewähren. Es war die einzige Doppelführung in Heinrich Villigers Karriere, die über Jahre funktioniert hat. Wie sein älterer Bruder hatte auch Kaspar gelernt, in Dinge zu investieren, die ihn begeisterten. In seinem Fall waren es keine Formel-1-Autos, sondern Fahrräder. 1980 kaufte die Villiger-Gruppe eine Velofirma. Nebst Stumpen stellte Villiger fortan auch Renn- und Tourenbikes her. Kaspar Villiger baute das Fahrradgeschäft stark aus, zeitweise war die Firma auch im Radsport vertreten. Über zwanzig Jahre später, als Heinrich Villiger alleiniger Patron der Gruppe war, verkaufte er den Zweig mit den Velos wieder. Doch die Villiger-Fahrräder haben bis heute Kultcharakter.

Es war nicht Heinrich Villiger, sondern Kaspar, der Monika Villiger ins Familienunternehmen holte. Sie kehrte – im Gegensatz zu ihren Brüdern – nicht aus Pflichtgefühl zurück, sondern weil sie sich gut mit ihrem Bruder Kaspar verstand. Wenn sie von ihrer Zeit bei Villiger erzählt, sagt sie oft: «Kaspar und ich». Zunächst arbeitete sie als seine Sekretärin. «Bald schon fand ich: Diese Briefe und Protokolle kann auch jemand anderes schreiben.»

Monika Villiger geht nicht gerne auf vorgespurten Pfaden. Ihr schwebte etwas anderes vor: Sie wollte das Exportgeschäft der Villiger-Gruppe aufbauen. Deshalb reiste sie in den 1970er Jahren in arabische Länder, nach China, in die USA. «Das war oftmals schwierig als Frau.» Bei ihrer ersten Reise nach Dubai wollte man sie nicht einmal ins Land lassen. «Die Tabakbranche ist eine Männerwelt», sagt sie. Doch Monika Villigers Beharrlichkeit zahlte sich aus: Unter ihr wurde Villiger zu einem internationalen Player im Tabakgeschäft.

So geschäftete Heinrich Villiger für sich in Deutschland, während die beiden jüngeren Geschwister in der Schweiz taten, was sie interessierte. Vielleicht war dies der Grund, weshalb das Trio so gut harmonierte.

Dass sie in all der Zeit weitaus weniger in der Öffentlichkeit wahrgenommen worden sei als ihre Brüder, mache ihr nichts aus, im Gegenteil. «Ich wollte nie berühmt werden. Wenn in der Zeitung über meine Brüder geschrieben wurde, war ich nicht neidisch», sagt Monika Villiger. Dann sagt sie: «Vielleicht wurde ich in der Familie manchmal schon unterschätzt. Aber mir war das wurscht.»

Die Zeitungen schrieben vor allem über einen ihrer Brüder: Kaspar Villiger. Denn dieser blieb nicht Unternehmer. Schon bald lancierte er eine Karriere in der Politik. Nicht etwa weil er den Erwartungen der Familie entkommen wollte, sondern weil ihn die Ortspartei zur Kandidatur für den Luzerner Grossrat drängte. Kaspar Villiger liess sich überreden und stellte bald fest: Die Politik liegt ihm. Es folgte erst ein Sitz im Nationalrat, dann einer im Ständerat. 1989 gelang ihm der Coup: Er wurde in den Bundesrat gewählt – als Nachfolger von Bundesrätin Elisabeth Kopp, die nach einem Skandal hatte zurücktreten müssen.

«Wir hätten nie gedacht, dass Kaspar einmal Bundesrat würde», sagt Monika Villiger. Seine politische Karriere sei vielen Zufällen zu verdanken, sagt sie. «Obwohl Mutter und ich manchmal darüber gewitzelt haben, wenn er wieder einmal aus Spass nach dem Ausgang angeheitert zu Hause eine Rede gehalten hat. Er stand dafür jeweils auf die Treppe, als wäre sie ein Rednerpult.»

Mit seiner Wahl zum Bundesrat wollte Kaspar Villiger fortan die grösstmögliche Unabhängigkeit wahren. Also trennte er sich von den Firmenanteilen und überliess das Geschäft seinem Bruder. Diese Trennung sei fair und friedlich abgelaufen, berichten beide. Überhaupt sprechen beide mit grossem Respekt übereinander. Sie hätten nicht einmal einen Anwalt gebraucht, um die rechtlichen Dinge zu regeln.

Kaspar Villiger kehrte auch nicht zurück, als er 2003 sein Amt als Bundesrat niederlegte. Stattdessen nahm er den nächsten prestigeträchtigen Posten an: Er führte die UBS als Präsident aus ihrer grössten Krise.

Der Name Villiger steht in der Schweiz schon lange nicht mehr nur für Stumpen, sondern für einen Bundesrat und eine grosse Figur des Schweizer Freisinns. Die örtliche Bäckerei in Pfeffikon verkauft bis heute eine «Bundesrat-Villiger-Torte».

Der Versuch, die Führung abzugeben, scheiterte – mehrmals

Als die beiden Brüder das Geschäft übernommen hatten, soll Heinrich Villiger einmal gesagt haben, er mache diesen Job mit 50 nicht mehr. Als sein Bruder die Firma verliess, war Heinrich Villiger 59 Jahre alt und dachte noch lange nicht ans Aufhören. «Er und das Unternehmen sind eins», sagt seine Tochter. «Dass es ihm schwerfällt loszulassen, wäre eine Untertreibung.»

Heute, fast 35 Jahre später, führt Heinrich Villiger das Unternehmen noch immer. «Was soll ich denn sonst machen?», sagt er. Er liebte es zu jagen, aber auf den Hochsitz könne er heute nicht mehr klettern. Er ging gerne biken, aber nach einem Sturz ist ihm auch das untersagt. Seit einem Herzstillstand vor ein paar Jahren trägt er einen Herzschrittmacher. «Für meine Hobbys bin ich körperlich nicht mehr fit genug.» Und er könne ja nicht den ganzen Tag lesen. Also arbeitet er weiter.

Inzwischen stehen seine Kinder vor der Pensionierung. Die Führung an sie weiterzugeben, wäre auf der Hand gelegen. Fragt man ihn, weshalb es keinen Nachfolger in der Familie gegeben habe, verweist er auf die Berufe seiner Kinder: Aus seinen drei Töchtern wurden eine Ärztin, eine Professorin und eine Pflegefachfrau. Seinen Sohn bezeichnet er als «Privatier»: Er ist aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeitsfähig. Mehr will Villiger dazu nicht sagen.

Der Patron gibt zu: «Ich war schon ein wenig enttäuscht, dass keines meiner Kinder ins Geschäft einsteigen wollte», sagt Villiger. Immerhin sitzen eine seiner Töchter und ein Enkel inzwischen im Verwaltungsrat.

Es ist seine älteste Tochter, Corina Villiger, die als Verwaltungsrätin der Villiger-Gruppe amtet. Sie arbeitet als Hausärztin in Pfeffikon, unweit der Fabrik. «Mein Vater hat mir die Freude an Leistung weitergegeben», sagt sie. «Und den Mut, nicht aufzugeben, wenn es schwierig wird.»

Drei seiner vier Kinder waren Mädchen. Laut Corina Villiger dürfte dies ein entscheidender Punkt gewesen sein, weshalb Heinrich Villiger die Führung behalten hat: «Ich spürte schon als Kind, dass er sich eine Frau nicht in der Geschäftsführung vorstellen konnte.»

Anfangs habe sie dies bedauert. «Irgendwann habe ich realisiert, dass mir das viele Freiheiten eröffnet.» Sie entschied sich, stattdessen ihrem «Herzenswunsch», wie sie sagt, nachzugehen und Medizin zu studieren. Doch das Familienunternehmen liess sie nicht los. Als sie 35 Jahre alt war, bat sie ihren Vater um Einsitz im Verwaltungsrat. Er gewährte es ihr.

Es überrascht daher kaum, dass sie ihre Urgrossmutter, die Unternehmerin Louise Villiger, und ihre Tante, Monika Villiger, als Vorbilder bezeichnet. Es sind jene Frauen, die eigentlich nie als Teil des Familienunternehmens vorgesehen waren, die sich ihren Platz jedoch erkämpft haben.

Hätte Heinrich Villiger die Führung abgegeben, wäre sein Sohn in der Lage gewesen, sein Nachfolger zu werden? Corina Villiger bezweifelt dies. Ihr sei immer klar gewesen, dass Heinrich Villiger sich nie von seinem Unternehmen trennen würde: «Mein Vater identifiziert sich und seine ganze Person mit der Firma.» Sie sagt, es habe nie ernsthafte Bemühungen seinerseits gegeben, die Kinder in die operative Führung einzubinden. «Das war stets ihm selbst vorbehalten.»

Ein einziges Mal liess Heinrich Villiger einen Teil seiner Macht los. Sechs oder sieben Mal – eine genaue Zahl kann niemand nennen – unternahm er den Versuch, eine Nachfolge aufzugleisen, einen CEO einzustellen, der die Aufgabe als Geschäftsführer der Gruppe übernehmen sollte. Die meisten von ihnen blieben nur wenige Wochen. Dem Patron die Führung abzunehmen, schien zum Scheitern verurteilt.

Dann kam Robert Suter. Der Unternehmer war zuvor Geschäftsführer von Conzzeta, jenem Konzern, zu dem unter anderem Mammut gehört. Im Frühjahr 2016 wurde er den Medien als Nachfolger Heinrich Villigers präsentiert – so weit schaffte es keiner vor ihm. Diese besondere Herausforderung habe ihn gereizt, sagte Suter damals der Presse. Heinrich Villiger trat zwar als Geschäftsführer ab, blieb aber Verwaltungsratspräsident. Nach eineinhalb Jahren beendeten sie die Zusammenarbeit.

Was ist passiert? Robert Suter wählt seine Worte behutsam. «Heinrich Villiger ist ein komplexer Mensch», sagt er. Einer, der alle Entscheidungen am liebsten allein treffe und gerne selbst im Zentrum stehe und selbst in Details eingreife. «Er duldet keine starken Menschen neben sich.» Etwas, das dessen Schwester Monika unterschreiben würde: «Mein Bruder schart gerne Leute um sich, die nach seiner Pfeife tanzen.» Corina Villiger sagt, Robert Suter und ihr Vater hätten Prioritäten und Herangehensweisen vertreten, «die unterschiedlicher nicht sein konnten».

Robert Suter sagt: «Heinrich Villiger hat es nicht goutiert, wenn ich in der Firma zu viele neue Dinge angestossen habe.» Etwa als er eine Zusammenarbeit mit einem Pizza-Lieferdienst aufgleisen und mit einer neuen Zigarrensorte ein jüngeres Publikum ansprechen wollte. Oder als er den Preis der Cigarillos anhob. «Villiger ist deutscher Marktführer bei Cigarillos, da muss man den Preis diktieren.»

Einmal habe Villiger zu ihm gesagt, er würde gerne der älteste CEO der Schweiz sein – am liebsten, bis er 100 sei. Vielleicht, spekuliert Robert Suter, habe sein Verhalten etwas mit der Bruderbeziehung zu Kaspar Villiger zu tun. «Sein Bruder durfte studieren, war erfolgreich – und viel weiter als zum Bundespräsidenten und UBS-Präsidenten kann man es nicht bringen», sagt Suter. Heinrich Villiger dagegen ist der langjährige Patron und Tabak-Connaisseur. «Darin kann er seinen Bruder übertreffen», sagt Suter.

Hat Heinrich Villiger womöglich jene Rolle, die ihn von seinem Bruder abhebt, einfach konsequent zu Ende gespielt?

Suter blickt ohne Groll auf jene Zeit zurück. Er habe viel gelernt. Und er sagt: «Heinrich Villiger vereint auch die vielen positiven Seiten eines Patrons auf sich: Er ist nahe bei den Menschen, er hat eine Autorität und wagt Dinge, die andere nicht wagen würden.» Er habe beispielsweise nach der Kubakrise als einer der Ersten wieder Geschäftsbeziehungen zu dem Inselstaat aufgenommen. Villiger sei ein Lebemann, der tue, was ihm Spass bereite. Suter ist überzeugt: Heinrich Villiger wird es nie ohne seine Firma geben.

Eine Firma ohne Heinrich Villiger wird es dereinst sehr wohl geben. Und tatsächlich hat der Patron ein paar Vorbereitungen für jene Zeit getroffen. Derzeit hat Villiger vier Manager unter sich, die sich um das Tagesgeschäft in den verschiedenen Bereichen kümmern. Auch was die Familie betrifft, hat Villiger vorgesorgt. «Es gibt einen Vertrag, und der ist hieb- und stichfest», sagt er. Jedes seiner Kinder habe Anrecht auf einen Sitz im Verwaltungsrat. Entweder sie nehmen dieses Recht selbst wahr, oder sie delegieren es an jemand anderen.

Eine Tochter Villigers hat ihren Sitz an ihren Sohn übertragen. Mit Lucien Villiger, 33, ist heute auch die fünfte Generation im Unternehmen vertreten. Zu seinem Grossvater pflege er ein gutes Verhältnis, sagt er. Heinrich Villiger habe ihn als Kind oft auf die Jagd und auf Velotouren mitgenommen oder mit ihm im Garten gearbeitet. «Grossvater hat sich in den Ferien immer viel Zeit für uns genommen.» Ein feiner Zigarrengeruch sei im Haus der Grosseltern stets in der Luft gelegen, und nach dem Abendessen gehöre es noch heute dazu, mit dem Grossvater eine Zigarre zu paffen. «Grossvater war für mich immer ein Vorbild.»

So gegenwärtig der Tabak war – auch Lucien Villiger hat sich für eine Karriere abseits des Zigarrengeschäfts entschieden. Er studierte Architektur. Im Frühling 2018 habe sein Grossvater ihn angefragt, ob er dem Verwaltungsrat beitreten wolle. Er nahm an. Dereinst auch operativ einzusteigen, kann er sich zurzeit nicht vorstellen. «Das würde bedeuten, dass ich meinen erfüllenden Beruf als Architekt aufgeben müsste.» Auch der Enkel wird somit nicht zum direkten Nachfolger Heinrich Villigers. Und so dürfte die Geschäftsführung mit der dritten Generation enden.

Der Vertrag, den Heinrich Villiger mit der Familie abgeschlossen hat, besagt, dass der Verwaltungsratspräsident nach ihm niemand mehr aus der Familie sein dürfe. Heinrich Villiger sagt, er wolle auf diesem Weg jegliche Rivalität unter den Geschwistern verhindern. Das klingt fair. Man will Heinrich Villiger glauben, dass er das Beste für seine Firma will, dass er aus guten Absichten handelt.

Gleichzeitig treibt Villiger mit diesem Passus aber das Unternehmen aus der Familie: Er verunmöglicht, dass eine der wichtigsten Aufgaben der Firma in der Familie bleibt – im Wissen darum, dass auch die zweite zentrale Rolle, die Geschäftsführung, ausserhalb der Familie besetzt werden dürfte. Er macht sich damit selbst zum Letzten. Einen Patron wie ihn wird es nicht mehr geben.

Schweizer rauchen nicht weniger, aber anders

Anders als ihrem älteren Bruder fiel es Monika Villiger nicht schwer, mit 65 aus der Firma auszusteigen. Zur Pensionierung schaffte sie sich einen Computer an und arbeitete für den Export der Uhrenfirma von Bekannten. Sie werde schon ein wenig wehmütig beim Gedanken daran, dass bald niemand aus der Familie mehr die Geschäfte der Villiger-Gruppe führe, selbst wenn sie sich vom Familienunternehmen losgelöst habe. «Einen echten Patron wie mein Vater es war, wird es nicht mehr geben», sagt sie.

Die Fabrik der Villigers verblieb als letztes Relikt aus der Zeit des «Stumpenlandes». Dass alle anderen Fabriken schliessen mussten oder aufgekauft wurden, hat vor allem einen Grund: Die Art, wie Schweizerinnen und Schweizer rauchen, hat sich verändert.

Nach dem Krieg verschwanden Stumpen und die Tabakpfeife zunehmend, stattdessen verbreitete sich die weitaus günstigere Zigarette. Und die Zigarette schaffte, was Stumpen und Zigarren nie gelungen ist: die Frauen für das Rauchen zu begeistern. Villigers waren selbst einmal beteiligt an einer Zigarettenfirma, stiegen aber bald wieder aus dem Geschäft aus.

Heinrich Villiger hält wenig von Zigaretten: «Sie sind schädlich für die Gesundheit und haben nichts mit Genuss zu tun.» Er gibt zu, dass auch Zigarren nicht gesund seien, «aber die inhaliert man nicht». Auch deshalb kann sich Heinrich Villiger leidenschaftlich über die Antiraucherkampagnen aufregen, die «alle Tabakprodukte in den gleichen Topf werfen» und die auch Villiger in den vergangenen Jahrzehnten zu spüren bekam. Die metallenen Dosen der Stumpen müssen dieselben abschreckenden Bilder zeigen wie Zigarettenschachteln, und die Werbung wurde stark eingeschränkt.

Doch gerade die Generation Z, der eigentlich ein ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein nachgesagt wird, raucht mehr als die Generationen vor ihr, insbesondere die Frauen. Statt Stumpen und Zigaretten bevorzugen sie Vapes. Ob Villiger hier investieren will? Er winkt ab, damit kann er nichts anfangen.

So steht der Patron gewissermassen auch sinnbildlich für sein eigenes Produkt: Der Stumpen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum weiterentwickelt. Neben den neuen Produkten wirkt er aus der Zeit gefallen. Noch aber hat er seinen Platz.

Villigers Firma kann es sich leisten, Trends zu ignorieren. Zigarren gelten heute als Luxusprodukt, ihre Preise haben sich teilweise verdoppelt. Statt Bauern und Knechte, einst wichtige Konsumenten von Villigers Stumpen, rauchen heute Geschäftsleute in edlen Smoker-Lounges handgerollte Villiger-Zigarren.

Veränderungen umgeht Heinrich Villiger am liebsten. Doch manchmal zwingt sie einem das Leben auf. Weil sein Arbeitsweg immer beschwerlicher wird, arbeitet er häufig im Home-Office, wie er es selbst nennt. Entscheiden lässt sich schliesslich auch von zu Hause aus. Er beschränkt seine Firmenbesuche auf «Meetings», zwei- bis dreimal pro Woche, und lässt sich die übrigen Pendenzen nach Hause liefern.

Dann setzt sich Heinrich Villiger wieder an seine Schreibmaschine. Er hat nicht vergessen, was das Wichtigste im Leben ist.

Erst wenn auch der zweite Stapel durchgearbeitet ist, macht Heinrich Villiger Feierabend. Manchmal dauert das bis spät in die Nacht. Dann legt er die Korrespondenz zurück vor die Türe. Am nächsten Tag nimmt sie ein Kurier wieder mit.

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