Sonntag, März 16

Die Schweiz zeichnet sich durch hohe gesellschaftliche Durchlässigkeit aus. Faktoren wie die Nationalität oder der Zivilstand der Eltern haben nur einen geringen Einfluss auf den eigenen Erfolg.

Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat sich per Bundesverfassung unter anderem der Aufgabe verschrieben, möglichst grosse Chancengleichheit für ihre Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Doch was bedeutet Chancengleichheit eigentlich, und wie lässt sie sich messen?

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Chancengleichheit meint, dass jeder Mensch das Recht und die Möglichkeit hat, sein Potenzial zu entfalten – unabhängig von den eigenen Ausgangsbedingungen. Anders ausgedrückt: Erfolg sollte durch Anstrengung und Talent und nicht nur durch ererbte Ressourcen oder Beziehungen erreicht werden können. Um das Ausmass der Chancengleichheit in einer Gesellschaft zu bestimmen, wird daher die soziale Mobilität gemessen. Sie zeigt, wie stark der familiäre Hintergrund den eigenen Erfolg prägt.

Wie die Schwester, so der Bruder?

Die meisten Untersuchungen zur sozialen Mobilität konzentrieren sich auf den Zusammenhang zwischen Eltern und Kindern. Ein starker Zusammenhang deutet darauf hin, dass die Gesellschaft wenig durchlässig ist und der eigene Erfolg stark durch das Elternhaus geprägt wird. Ist der Zusammenhang hingegen schwach, gilt die Gesellschaft als durchlässig.

Möchte man jedoch den Einfluss der gesamten familiären Umgebung auf den eigenen Erfolg erfassen, lohnt es sich, neben den Eltern-Kind-Beziehungen auch Geschwisteranalysen durchzuführen. Diese erweitern das Verständnis des familiären Einflusses. Geschwister teilen sich nicht nur die Eltern und deren finanzielle Ressourcen, sondern auch die Nachbarschaft, in der sie aufwachsen, die Schule, die sie besuchen, gemeinsame soziale Netzwerke und vieles mehr – kurzum: alle Faktoren, die im weitesten Sinn als familiäre Einflüsse betrachtet werden können.

Wer die Geschwisteranalysen für die Schweiz auswertet und sie mit denen aus anderen Ländern vergleicht, stellt fest: Der familiäre Einfluss ist hierzulande vergleichsweise gering. So erklärt der gesamte familiäre Hintergrund lediglich 15 Prozent der totalen Einkommensunterschiede.

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass 85 Prozent des eigenen Einkommens auf externe, also ausserhalb der Familie liegende Faktoren zurückzuführen sind. Dazu zählen zum Beispiel die eigenen Fähigkeiten, der eigene Einsatz und auch eine Portion Glück. Zum Vergleich: Bei unserem nördlichen Nachbarn Deutschland beträgt der Anteil des familiären Effekts 43 Prozent, in den USA sogar 49 Prozent und selbst in dem als besonders durchlässig geltenden Dänemark 20 Prozent. Diese Zahlen deuten auf eine intakte gesellschaftliche Durchlässigkeit in der Schweiz hin.

Die Nationalität ist nicht entscheidend

Neben der Bestimmung des familiären Einflusses ist es entscheidend, die Faktoren zu identifizieren, die die gesellschaftliche Durchlässigkeit fördern oder hemmen. Die Forschung hat bereits gezeigt, dass das duale Bildungssystem und die frühkindliche Förderung zu einer Erhöhung der gesellschaftlichen Durchlässigkeit beitragen können.

Unklar bleibt jedoch, welche Faktoren für die verbleibenden 15 Prozent des familiären Einflusses verantwortlich sind. Der renommierte amerikanische Ökonom Gary Solon bezeichnete bereits Ende der 1990er Jahre die Ursachen für die Ähnlichkeiten im sozialen Status von Geschwistern als ein «Geheimnis», das es zu entschlüsseln gelte. Gemeinsam mit Jonas Bühler und Christoph Schaltegger habe ich in einer wissenschaftlichen Untersuchung versucht, diesem Geheimnis für die Schweizer Gesellschaft auf die Spur zu kommen.

Konkret haben wir untersucht, welcher Anteil des familiären Einflusses auf das elterliche Einkommen, die Nationalität, den Wohnort oder den Zivilstand der Eltern zurückzuführen ist – also auf jene Faktoren, die als deterministische Treiber betrachtet werden können.

Wenn ein Grossteil des familiären Einflusses auf diese Elemente zurückzuführen wäre, würde dies das Bild einer chancengerechten Schweiz trüben. Denn wenn beispielsweise vor allem die Nationalität einer Familie ausschlaggebend für den Erfolg ihrer Mitglieder wäre, würde dies auf eine klare Chancenungleichheit hindeuten.

Unsere Analyse zeigt jedoch: Diese Faktoren erklären gemeinsam weniger als 10 Prozent des familiären Effekts. Das bedeutet, dass mehr als 90 Prozent des familiären Einflusses nicht durch die häufig diskutierten deterministischen Faktoren bestimmt werden.

Diese Erkenntnis ist zentral für die Beurteilung der Chancengerechtigkeit in der Schweiz. Der familiäre Einfluss ist nicht nur vergleichsweise gering, sondern auch kaum von diskriminierenden Faktoren geprägt. Es scheint also kein einfaches Patentrezept für den Erfolg von Familien zu geben – und das ist mit Blick auf die Chancengleichheit gut so!

Melanie Häner-Müller leitet den Bereich Sozialpolitik am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.

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