Mittwoch, Oktober 9

Ravioli und Dosengemüse sind schon lange weg. Bald schliesst der Hersteller auch die letzte Produktion im Aargau. Was bleibt von der Traditionsfirma zurück?

Es gab eine Zeit, da kriegte die Bevölkerung von Lenzburg mit, was bei Hero gerade produziert wurde. Da roch es nach Konfitüre. Oder die Dreschmaschine lärmte Tag und Nacht. «Dann wussten wir: Jetzt gibt es Erbsli», sagt Urs Meier.

Der 82-Jährige ist in der Kleinstadt aufgewachsen und hat miterlebt, wie die Nahrungsmittelfabrik im Alltag der Bewohner präsent war. Das Werksgelände lag direkt beim Bahnhof. Hero war nicht nur riech-, hör- und sichtbar. Hero war ein Teil des gesellschaftlichen Lebens.

Hausfrauen und Schüler konnten noch bis in die 1970er Jahre bei der Beeren- oder «Trübeli»-Ernte ein Taschengeld verdienen. «Die Kesseli mussten gestrichen voll sein», erzählt Meier und macht eine Handbewegung, als würde er über einen mit Johannisbeeren gefüllten Eimer wischen.

Ursprünglich kamen Obst und Gemüse für die Hero-Konservendosen oder -Konfitüren aus Lenzburg und den angrenzenden Ortschaften. Die Gründer sollen sich für ihre Firma 1886 auch darum hier niedergelassen haben, weil das Gebiet wenig von Unwettern und Hagelfällen betroffen war.

Für Schullager spendierte Hero Lebensmittel – und es gab wenig, was die Firma nicht produzierte.

Lenzburg ohne Hero, das war lange Zeit unvorstellbar.

Doch mit der Internationalisierung und dem Umbau des Geschäfts sind andere Standorte wichtiger geworden. Von den weltweit 4100 Angestellten des Konzerns arbeiten heute weniger als fünf Prozent in Lenzburg. Jetzt sollen es noch weniger werden.

Denn im vergangenen Herbst hat das Unternehmen angekündigt, bis Ende 2024 die Produktion von Konfitürenportionen in Lenzburg einzustellen. Geschlossen wird auch der Fabrikladen. Einzig der Hauptsitz und die Schweizer Ländergesellschaft mit insgesamt rund 160 Mitarbeitern sollen bleiben. Ungefähr 40 Leute aus der Produktion müssen sich einen neuen Job suchen.

Schnaps am Morgen und Warten auf die Italienerinnen

Damit endet die Ära, in der Hero in Lenzburg selber Lebensmittel produziert und Fabrikarbeiter beschäftigt hat. Unter ihnen waren stets auch viele Arbeiterinnen. Zum Jahresrhythmus gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg jeweils die Ankunft der Saisonnier-Frauen, meist Italienerinnen.

Sie kamen zu Beginn der Erntesaison, um beim Entsteinen und Verarbeiten der Früchte zu helfen. Vor ihren Wohnhäusern seien «die Herren angestanden», wie der Lokalhistoriker Meier sagt. Viele der Frauen blieben länger als nur ein paar Monate und haben einen Lenzburger geheiratet.

Romantisieren möchte er den harten Alltag nicht. Kein Wunder, hätten die Arbeiter früher auf dem Weg in die Fabrik bei der Bäckerei Haller in der Aavorstadt haltgemacht, um sich mit einem Gläschen Schnaps zu stärken. Der Alkohol sei dort am Morgen «batterieweise» auf der Theke bereitgestanden.

Viel oder eben zu viel konsumiert wurde jeweils an der Hero-Generalversammlung. Der Anlass für die Aktionäre war so beliebt, dass die Firma handeln musste. Weil «mit dem umfangreichen Menu gewisse Missbräuche festgestellt wurden» und der Platz in den Lokalitäten der «Krone» knapp war, diskutierte der Verwaltungsrat darüber, wie man den Anlass weniger attraktiv machen könnte.

Ein Protokoll aus dem Jahr 1964 skizziert Massnahmen: Verlegung der GV vom Samstag auf einen Wochentag, vereinfachtes Menu oder gar Ersatz durch ein Musterpaket. «Im Hinblick auf die gute alte Tradition und auf die PR-Wirkung» des Anlasses müsse man diese Neuerungen aber vorsichtig kommunizieren, so das Dokument.

Wegzug aus dem Stadtzentrum

Die Geschichte von Hero hat es Meier angetan. Eigentlich ist er Innendekorateur und führte während Jahrzehnten ein Geschäft in der Altstadt. Als Präsident des Stiftungsrats des Lenzburger Museums Burghalde sorgte er dafür, dass das Haus das Hero-Archiv übernehmen konnte.

Meier weiss, wie rasch Erinnerungen verblassen. Eine grosse Zäsur in der Beziehung zwischen Lenzburg und Hero kam 2011. Damals verliess das Unternehmen das historische Areal im Zentrum und zog an die Peripherie. Die Stadt sorgte dafür, dass Land für einen Neubau des Hauptsitzes eingezont wurde.

Von der ganzen Produktion installierte man aber am Stadtrand nurmehr die Anlagen für die kleinen Konfi-Portionen.

Die übrigen Bereiche hat Hero schon vorher schrittweise aufgegeben, verkauft oder ins Ausland verlagert. Rösti, Ravioli oder Erbsli und Rüebli mit dem Hero-Logo werden längst von Drittfirmen hergestellt. Die Fleisch- und Wurstwarenfabrik in Lenzburg wurde zur Traitafina.

Seit dem Umzug an den Ortsrand ist die Firma in der Stadt nicht mehr riech- und sichtbar. Das alte Fabrikareal beim Bahnhof ist längst mit Wohnungen überbaut. «Hero ist ein Stück weit aus dem Bewusstsein der Bewohner verschwunden», sagt Meier.

Mit der angekündigten Schliessung der Konfi-Portionen-Produktion braucht es auch die erst vor dreizehn Jahren dafür erbaute Fabrik direkt am Autobahnzubringer bald nicht mehr.

Darum muss auch Axel Dathe sein Fachwissen künftig woanders einbringen. Der Ingenieur ist Produktionsleiter in Lenzburg. «Es tut schon weh», sagt er in der Fabrikhalle, in der es nach den eingekochten Früchten riecht und der Boden klebt. Gerührt wird die süsse Masse automatisch in geschlossenen Kochern und nicht mehr von Hand in riesigen dampfenden Kesseln wie früher.

Körperliche Arbeit braucht es aber immer noch, etwa beim Auspacken der Kartons mit den Früchten. Da diese tiefgekühlt angeliefert werden, muss sich der Produktionszyklus längst nicht mehr an der Erntesaison ausrichten. Die Herstellung kann gleichmässiger über das ganze Jahr und am Bedarf ausgerichtet werden.

Achten auf die Konfitürenverordnung

Dathe ist auch Lebensmitteltechnologe und muss dafür sorgen, dass im Werk die Konfitürenverordnung eingehalten wird. Dass es genügend Trockensubstanz hat und der Zuckergehalt stimmt. «Konfitüre extra» darf sich nur ein Produkt nennen, das mindestens 45 Prozent Früchte enthält. Für die Bezeichnung Konfitüre sind es 35 Prozent, darunter ist es nur noch Fruchtaufstrich.

Ein Display an der Wand informiert die Mitarbeitenden über «Wow-Momente» in der Produktionsleistung («Mega Mega gute» Gesamtanlageneffektivität auf Linie 65) und darüber, was besser sein könnte («Ausbeute Poker Kirsche»).

Mit Ausnahme einer kleinen Menge an Glaskonfitüren landet sämtliche in Lenzburg gekochte Marmelade in den kleinen Portionen zu 25 Gramm.

Beim Abfüllen muss das Personal darauf achten, dass es nicht zu Füllgewichtsverletzungen kommt. «Auch eine Abweichung von 0,2 Gramm kann sich spürbar auswirken», sagt Dathe. «Hat es zu wenig Konfitüre im Aluschälchen, darf man es nicht verkaufen, hat es zu viel, ist es ein Geschenk an den Verbraucher.»

Rund 750 000 Portionen stellt das Lenzburger Werk pro Tag im Zweischichtbetrieb her. Möglich wäre mit den bestehenden Anlagen das Doppelte. Doch die tiefe Auslastung ist mit ein Grund, warum die Produktion verlagert wird.

Einst waren die Lenzburger stolz darauf, dass mit jeder Konfitürenportion ein wenig Lenzburger Luft hinaus in die Welt getragen wurde. Sei es in Hotels an fernen Destinationen oder an Bord von Swissair-Flugzeugen.

Diese Luft für den Frühstückstisch kommt künftig aus Murcia in Südspanien, wo Hero ein grosses Konfitürenwerk betreibt und ab 2025 die Portionen abfüllen wird.

Preisdruck bei den Portionen

Rob Versloot sieht das Ganze nüchtern. «Produktionsanlagen in Lenzburg zu schliessen, ist nichts Neues für Hero, sondern etwas, das die Firma über viele Jahre getan hat», sagt der CEO der Gruppe.

Und er rechnet vor: «Der Markt für die kleinen Konfitürenportionen ist extrem stark umkämpft.» In der Belieferung der Gastronomie, aber auch von Spitälern, Altersheimen oder Gefängnissen zähle vor allem der Preis. «Darum verschieben wir die Produktion an einen günstigeren Standort.» Die Verlagerung bedeute «substanzielle Einsparungen bei den Kosten für unsere Versorgungskette».

Warum die frühere Hero-Führung die Portionenanlagen nicht bereits beim Rückzug aus dem alten Areal ins Ausland transferiert hat, weiss Versloot nicht. Der Niederländer leitet Hero seit 2012. Zunächst wohnte er in der Region, unterdessen ist er wieder nach Amsterdam gezogen.

Noch immer ist Konfitüre anteilsmässig die zweitstärkste Kategorie des Hero-Gesamtumsatzes von 1,2 Milliarden Franken. Das hat damit zu tun, dass die Schwartauer Werke zur Gruppe gehören. Deren Besitzer, der deutsche Industrielle Arend Oetker, hatte sich 1995 über diesen Konfitürenhersteller an der damals noch börsenkotierten Hero beteiligt.

2003 übernahm Oetker die Lenzburger Firma vollständig. Mit den Backpulver-Oetkers ist Arend Oetker zwar verwandt, doch zwischen den Firmen besteht keine Verbindung.

«Die Leute essen weniger Konfitüre», sagt Versloot, «darum sehen wir niedriges Wachstumspotenzial in dem Markt.» Aber noch könne man damit durchaus Geld verdienen.

Babynahrung und Getreideriegel heisst die Zukunft

Versloot hat Hero noch stärker fokussiert. Sein Ziel ist es, in einer Kategorie jeweils die Nummer eins oder zwei zu sein, um gegenüber Detailhändlern bei den Preisverhandlungen stärker auftreten zu können.

Für den 56-Jährigen ist klar, welchen Produktekategorien die Zukunft gehört: Baby- und Kleinkindernahrung (vor allem Früchtebrei und gesunde Snacks wie die Marke Freche Freunde) sowie Getreideriegel (Corny). Beide haben höhere Margen als Brotaufstriche und weniger Konkurrenz durch Eigenmarken.

Abspaltungspläne für das traditionsreiche Konfitürengeschäft gebe es derzeit nicht, sagt Versloot. Und ergänzt: «Hero existiert seit 1886, und über diese Zeit hat sich das Portfolio dramatisch verändert», sagt er. Der Schlüssel zum Überleben sei es, relevant für die Konsumenten zu bleiben. «Wenn dafür ein Verkauf nötig ist, werden wir das tun.»

Bei der Ankündigung der Produktionsschliessung hiess es seitens Hero, dass der Sitz der Gruppe in Lenzburg bleibe. Eine irgendwie offizielle, bindende Verpflichtung dazu gebe es nicht, sagt Versloot. «Aber ich sehe auch keinen Grund, warum wir wegziehen sollten.»

Wie bewahrt man die Erinnerung?

Dass das Wissen über Lenzburgs reiche Industrievergangenheit nicht verlorengeht, darum kümmert sich Marc Philip Seidel. Er ist Direktor des kulturhistorischen Museums Burghalde und staunt manchmal, wie wenig Hero jüngeren Generationen noch ein Begriff ist.

Aber es gibt auch Hoffnung. Während der Pandemie hätten viele Leute Keller und Estrich geräumt und seien mit Fundstücken aus der Hero-Geschichte ins Museum gekommen. «Wir sind ein Resonanzkörper für die Erinnerungen der Bevölkerung.»

Im Stadtbild hingegen hat Hero wenig Spuren hinterlassen. Auf dem alten Fabrikareal neben dem Bahnhof, wo der neue Stadtteil «Im Lenz» entstanden ist, erinnert ausser ein paar umgebauten Hero-Gebäuden nicht mehr viel an die Vergangenheit. Aus Seidels Sicht ist die Firmengeschichte am historischen Ort zu wenig sichtbar.

«Herolit» und ein übersäuerter Bach

Die Bewohner des neuen Quartiers wissen vermutlich nichts vom «Herolit», das im Boden lagert. So nannte man im Scherz die Berge von Kirschensteinen, die längst überwachsen sind.

Dass der Name Hero auf die beiden Unternehmer Gustav Henckell und Karl Roth zurückgeht, dürfte den wenigsten bekannt sein.

Bei der Kläranlage, die Hero einst bauen musste, damit die Unmengen an Fruchtsäften den Bach nicht übersäuerten, sind ein Spielplatz und eine Grillstelle entstanden. Doch die Belebung der Überbauung durch Kleingewerbe blieb unter den Erwartungen, Mietflächen standen lange leer.

Zu den Überbleibseln aus einer vergangenen Zeit gehört die Eisenbahn-Drehscheibe. Wo früher Waggons in das Areal rangiert wurden, haben sich eine Schönheitsklinik und ein Gourmetrestaurant eingerichtet. Gault-Millau statt Konserven.

Immerhin zeigt die Architektur des Hero-Sitzes am Stadtrand noch, was die Firma hier bald nicht mehr macht: Die Fassade des Rundbaus ist einer Rolle aus gestanztem Alublech nachempfunden – also dem Material, das nach der Herstellung der Konfitürenportionen übrig bleibt.

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