Giovanni di Lorenzo ist seit zwanzig Jahren Chefredaktor der tonangebenden linksliberalen Wochenzeitung in Deutschland. Er will aber nicht nur die eigene Blase bedienen. Was Journalisten ganz wichtig sei, sagt er im Gespräch, beschäftige die Leute oft gar nicht.
Herr di Lorenzo, Sie sind in Schweden, Deutschland, später in Rimini und Rom aufgewachsen, als Sie elf waren, ist Ihre Familie nach Hannover gezogen. Welche frühen Erinnerungen haben Sie an Deutschland?
Ehrlicherweise nicht die besten. Ich möchte mich nicht als Opferlamm darstellen, aber ich erzähle Ihnen eine Geschichte: Ich war Schülersprecher am Ratsgymnasium in Hannover geworden, und am Tag meiner Wahl stellte sich ein furchtbarer Oberstudienrat vor die Klasse und sagte: «Di Lorenzo, diesen Itaker, müsste man aufhängen.» Ich hatte ihm nichts getan, wir kannten uns bis dahin gar nicht. Als ich mich beschwerte, war die einzige Reaktion des Schulleiters: Wollen Sie den guten Ruf dieser Schule beschmutzen? Ich habe mich nicht getraut, das zu Hause zu erzählen, um meine Mutter nicht zu bekümmern. So war das damals, es war eine demütigende Erfahrung, nicht die einzige dieser Art.
Das heisst, die Fremdenfeindlichkeit, der Nazismus waren noch sehr präsent.
Ja. Wenn meine deutsche Grossmutter, die immer eine Nazi-Gegnerin gewesen war, über Politik sprach, hat sie die Stimme gesenkt. Wissen Sie, warum? Weil die ganzen alten Nazis, die Blockwarte von damals, immer noch ihre Nachbarn waren. Der Reflex war: bloss nicht auffallen.
Wann hatten Sie das Gefühl, in Deutschland angekommen zu sein?
Als ich merkte, dass ich aus der Sprache meinen Beruf machen konnte. Das kam mit den ersten journalistischen Erfahrungen bei der «Neuen Presse» in Hannover. Das war der Kipppunkt. Aber geblieben ist ein tiefes Misstrauen gegenüber Konformismus. Und natürlich die lebenslange Frage: Wohin gehörst du?
Und wohin gehören Sie?
In Italien waren wir immer die Tedeschini, die kleinen Deutschen. Aber da war keine Aggression. In Deutschland waren wir Ausländer. Heute stellt sich für mich die Frage nach der Zugehörigkeit nicht mehr: die Widersprüche, die Neurosen, die man von früher mitschleppt, das Gefühl der Fremdheit – all diese Dinge sind irgendwann auch bereichernd. Ich bin diesem Land inzwischen sehr verbunden und dankbar. Gerade meine schlechten Erfahrungen mit Deutschland zeigen, wie sehr sich dieses Land in mancher Hinsicht zum Guten verändert hat.
Können Sie anhand Ihrer Persönlichkeit sagen: Da tendiere ich eher zum Italienischen, da zum Deutschen?
Die Frage hat mich schon früher wahnsinnig genervt.
Warum?
Ich kann sie nicht beantworten. Es gibt nicht nur einen Faktor, der dich prägt. Die frühe Trennung meiner Eltern und der Verlust des italienischen Familienverbandes waren mindestens so prägend wie meine Erfahrungen in der Schule. Die Religion prägt dich, die Bildung, die einem zuteilwird. Hinzu kommen Erfahrungen, die jeder von uns unbewusst mitschleppt, die Generationen zurückliegen, gerade wenn nicht offen darüber gesprochen worden ist. Ich kann Ihnen etwas erzählen, was nicht besonders schmeichelhaft für mich ist.
Bitte.
Ich war mal in die Talkshow von Markus Lanz eingeladen, und da waren nur zwei Gäste, Klaus von Dohnanyi und ich. Die meiste Zeit ging es um politische Themen, bei denen wir nie einer Meinung waren. Und dann kamen wir auf unsere Mütter zu sprechen. Ich hatte erst ein paar Tage zuvor die Lebenserinnerungen meiner Mutter gelesen, in denen sie beschreibt, wie sie als ganz kleines Mädchen die Nazis erlebt hat, die hinter ihrem Vater her waren. Sie war vier, als die Gestapo ihn abholte, sie war alleine mit ihm in der Wohnung. Dazu kamen die Erfahrungen im Krieg und auf der Flucht. Und dann sagte ich in der Sendung, dass ihre Generation nie eine Chance hatte, damit umzugehen, das zu thematisieren.
Kinderpsychologie, Traumaforschung, das waren für die meisten Fremdwörter. Und ich merkte, wie ich plötzlich zu weinen begann. Das war für mich furchtbar, beschämend. Und da packte mich dieser harte Knochen Klaus von Dohnanyi plötzlich am Arm und erzählte, wie das mit seiner Mutter war, am Tag nachdem sein Vater von den Nazis ermordet worden war. Und fing auch an zu weinen. Da sassen wir also beide heulend bei Lanz. Aber im Studio standen die Leute plötzlich auf und klatschten.
Warum ist diese Geschichte nicht schmeichelhaft für Sie?
Es ist nicht schön, vor anderen Leuten zu weinen. Und als Fernsehzuschauer hat man doch immer ein bisschen den Verdacht: Da drückt gerade einer auf die Tränendrüse. Aber so war es nicht. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle.
Was denken Sie, wenn Sie der Interviewer sind und ein Gast zu weinen beginnt: toll, grosse Emotionen am Fernsehen? Oder machen Sie sich Vorwürfe, weil Sie zu tief gebohrt haben?
Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl dafür, bei welcher Frage der Gesprächspartner anfangen könnte zu weinen. Ich versuche kurz davor aufzuhören, um den anderen zu schützen. Es hat etwas Ausbeuterisches, bewusst auf diesen Punkt zu zielen.
Leben Ihre Eltern noch?
Mein Vater lebt in Rom, er ist mit 85 auch noch sehr fit. Meine Mami ist leider vor kurzem gestorben.
Haben Sie mit Ihren Eltern all das besprechen können, was so noch subkutan an nicht erzählten Geschichten in der Familie da war? Ist alles geklärt?
Nein, eben nicht. Sonst hätte es auch diesen Gefühlsausbruch bei Lanz nicht gegeben. Das ist die Erfahrung, die fast jeder macht, der die Eltern verliert: Es ist nie genug gewesen. Ich will jetzt in diesem Sommer meinen Vater bitten, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Denn wenn er einmal nicht mehr ist, gibt es Lücken, die keiner mehr füllen kann.
Sie haben 2014 in einer Talkshow erklärt, dass Sie bei der Europawahl zweimal abgestimmt hätten – einmal in Italien, einmal in Deutschland. Darauf wurden Sie von Politikern und Journalisten mit Häme eingedeckt. Hatten Sie damals Angst, dies könnte Sie Ihre Karriere kosten?
Natürlich war das einfach furchtbar, wie jeder grosse Shitstorm. Das ist jetzt lange her, und ich habe mich dazu oft und deutlich erklärt. Es gibt ja Leute, die behaupten: Man darf doch alles sagen, man darf sich nur nicht wundern, wenn es mal ein bisschen Kritik gibt. Denen sage ich: Erlebt das mal!
Hat Sie diese Erfahrung als Journalist verändert, sind Sie sensibler geworden?
Ich will mich nicht besser darstellen, als ich bin, auch ich habe viele Fehler gemacht. Aber ich habe schon lange vor diesem Erlebnis angefangen, mir und meinen Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion die Frage zu stellen: «Möchten Sie diesen Satz über sich lesen?» Wir versuchen bei der «Zeit», andere nicht mit Häme zu überschütten, einfach fair zu sein. Aber es gelingt uns nicht immer.
Zu Ihrem 65. Geburtstag gab es im öffentlichrechtlichen Rundfunk ein liebevolles Fernsehporträt von Ihnen mit der Überschrift: «Meister der Zwischentöne». Fanden Sie das eine zutreffende Beschreibung?
Ich weiss nicht, vielleicht bei Interviews, die ich führe. Sonst empfinde ich mich beruflich eher als outspoken. Ich glaube, es passiert selten, dass jemand aus meinem Büro geht und denkt: Was wollte der mir eigentlich sagen? Wenn du führen willst, dann musst du in der Lage sein, Menschen auch zu sagen, was ist.
Ist das die wichtigste Eigenschaft eines Chefs?
Es ist eine wichtige Sache. Eine weitere ist: Sie dürfen keine Angst vor guten Mitarbeitern haben. Im Gegenteil: Sie müssen bereit sein, auch Leute zu fördern, die vieles besser können als Sie selbst. Die Mitarbeiter sollten auch merken, dass Sie ihre Arbeit schätzen. In unserem Fall heisst das: lesen, was sie schreiben, und darüber sprechen. Das klingt wie eine Banalität, aber es ist nicht selbstverständlich.
Ärgern Sie sich dabei oft?
Klar. Vieles entspricht nicht meiner Meinung, aber das macht nichts. Wichtig ist nur: Der Autor muss sich bemühen, mich als Leser überzeugen zu wollen. Wir haben als erstes Blatt im ganzen deutschsprachigen Raum ein Streitressort eingeführt. Da gibt es nur eine Spielregel: Wer streitet, muss bereit sein, sich auf das Argument des anderen einzulassen und nicht einfach nur zu etikettieren. Du bist links, rechts, woke, Nazi, homophob – das ist keine Argumentation. Das empfinde ich als eine unglaubliche Verarmung des Diskurses.
Und diese Etikettierungen betreibt die «Zeit» nicht?
Auch da sind wir nicht frei von Fehlern. Aber im Streitressort machen wir das gut.
Das Streitressort haben Sie 2019 eingeführt, auch gegen interne Widerstände. Hatte sich die «Zeit» davor in eine ideologische Sackgasse manövriert?
Ideologische Sackgasse gefällt mir gar nicht. Wozu wir alle hin und wieder neigen, ist: die Blase zu bedienen, in der wir selbst leben. Während der Corona-Zeit ist unsere Auflage noch einmal stark gestiegen, was uns dazu veranlasst hat, die grösste Leserbefragung in unserer Geschichte zu machen. 5000 Menschen haben sich beteiligt, und die haben nennen müssen, wofür die «Zeit» in ihren Augen steht. Natürlich haben wir gleich unsere wichtigsten Konkurrenten mit untersucht.
Welche sind das?
«FAZ»/«FAS», «Süddeutsche», «Spiegel». Es gab zwei Merkmale, die nur bei uns genannt wurden. Erstens: Unsere Leser sehen uns als Stimme der Vernunft. Und Vernunft verträgt sich nun mal nicht mit Ideologie. Zweitens: Wir stehen für Meinungsvielfalt. Beides freut mich sehr.
Glauben Sie, dass die «Zeit» heute pluralistisch genug ist?
Ja, aber für diese Offenheit muss man immer kämpfen und auch dafür, dass wir uns Themen widmen, die in Redaktionen nicht immer sehr beliebt sind.
Um welche Themen macht die «Zeit» einen Bogen?
Wir machen keinen Bogen. Aber wir bilden zu wenig den Alltag der Menschen ab, die uns lesen, besonders wenn sie nicht in grossen Städten leben. Und wir haben manchmal eine gewisse Scheu, uns zum Beispiel mit den problematischen Seiten der Migration auseinanderzusetzen – aus der Angst heraus, dass man dafür Applaus von der falschen Seite bekommen könnte, also rechte Narrative bedient. Da bin ich absolut gegenteiliger Meinung. Gefährlich ist es, wenn man diese Themen nicht behandelt.
In unserer Wahrnehmung steht die «Zeit» den Grünen nahe. Stimmt das?
Mein Eindruck ist das nicht, und gute Medien sollten auch keiner Partei nahestehen. Aber Journalisten haben generell vielleicht eine grössere Neigung zu den Grünen als andere Berufsgruppen, was aber nicht heisst, dass sie über Grüne nicht kritisch schreiben können.
Wie erklären Sie sich diese Nähe?
Das liegt daran, dass wir vor allem Geisteswissenschafter beschäftigen. Das Bewusstsein ist ein bisschen verlorengegangen, dass wir auch Journalistinnen und Journalisten mit ganz anderen Backgrounds einstellen könnten. Als ich bei der «Süddeutschen Zeitung» arbeitete, haben wir einmal eine Krankenschwester eingestellt, nachdem diese uns brillante Texte geschickt hatte. Früher haben wir auch mehr in die Lokalberichterstattung anderer Zeitungen geschaut, um Talente zu entdecken. Da sitzen oft Leute mit viel Lebenserfahrung und einem guten Gespür dafür, was die Menschen bewegt. Wir haben bei Journalisten heute oft auch eine zu grosse Homogenität beim sozialen Background.
Sie haben vorhin vom Phänomen der Blasen gesprochen. Bewegen Sie sich in derselben Blase wie Ihre Redaktoren?
Auch ich bewege mich in Blasen. Aber ich bin sehr froh, dass ich immer wieder auch andere Begegnungen habe. Und das verdanke ich zum Teil dem Fernsehen: Wo du hinkommst, erkennen dich die Leute und fangen an, mit dir zu reden, und zwar ohne Filter. Manchmal spürt man da einen grossen Unterschied: Was uns Journalisten ganz, ganz wichtig ist, beschäftigt die Leute oft gar nicht.
Das heisst, wenn Sie in der Öffentlichkeit sind, werden Sie gleich angequatscht.
Auf der Strasse, auf dem Markt, im Geschäft.
Sie vermitteln das als sehr positiv. Es kann aber auch auf die Nerven gehen, nicht?
Wenn es jemanden in die Öffentlichkeit drängt und er sich dann über die Resonanz beschwert: Das finde ich so ungefähr das Larmoyanteste, was es gibt.
Das müssen Sie jetzt sagen.
Warum sollte ich? Ich schätze diese Gespräche sehr. In der Redaktion habe ich kürzlich von einem Mann erzählt, der mir im Garten hilft. Der ist schon älter und war immer ein treuer CDU-Wähler und «Zeit»-Leser. Seit einiger Zeit driftet er immer mehr nach rechts ab, und ich kann das an ihm beobachten wie in einem Laboratorium. Das ist aufschlussreich und auch schmerzhaft.
Werden die deutschen Medien der Aufgabe gerecht, die Realität abzubilden?
Ich sehe jedenfalls die Gleichförmigkeit nicht, die die NZZ hin und wieder moniert. Das Feuilleton der «Süddeutschen Zeitung» zum Beispiel ist vielstimmig, fast jeden Tag lese ich da einen interessanten, manchmal auch verstörenden Artikel. Es gibt die «Bild»-Zeitung, die nun wirklich nach jedem Aufreger greift. Es gibt die «FAZ», die ich als pluralistisch empfinde. Ich habe seinerzeit selbst auf die Gefahr einer zu gleichförmigen Kommentierung der Flüchtlingspolitik Ende 2015 hingewiesen. Viele, die das damals kritikwürdig fanden, würden mir heute Recht geben.
Wenn wir Sie jetzt so hören, überrascht es, dass sich die «Zeit» an der aktivistischen «Zusammenland»-Kampagne deutscher Unternehmen beteiligt hat.
Verlag und Redaktion sind bei uns zwei unterschiedliche Dinge, so wie es sich gehört. Wir haben hier über diese Kampagne mehrmals offen und kontrovers diskutiert. Ich glaube, dass ein grosser Teil der Redaktion diese Kampagne kritisch gesehen hat. Aber wir haben einen Verlag, der dieses Zeichen setzen wollte und dazu auch das Recht hat. In aller Freundschaft stellen wir fest, dass wir da unterschiedliche Auffassungen haben.
Das klingt sehr diplomatisch.
Persönlich finde ich es immer besser, wenn wir durch unsere Berichte und Kommentare überzeugen, nicht durch Aktionen.
Haben Sie offen über die «Zusammenland»-Kampagne diskutiert, bevor Ihr Geschäftsführer den Entscheid getroffen hat oder erst danach?
Danach. Aber, wie gesagt, dazu hat er jedes Recht. Und zur Wahrheit gehört auch, dass unser Geschäftsführer dafür von aussen vor allem Lob bekommen hat.
Ärgern Sie sich, wenn Sie sich bei solchen Entscheidungen nicht durchsetzen?
In diesem Fall nicht, aber ich bin jemand, der sehr starke Emotionen kennt. Ich bemühe mich allerdings immer um Impulskontrolle.
Gelingt das mit zunehmendem Alter besser?
Impulskontrolle? Nein, das wird schlimmer!
Wirklich?
Ja, da kann ich Ihnen leider keine Hoffnung machen. Was immer hilft, ist Schreiben, weil man sich dabei auch von seinen Gefühlen distanziert.
Die «Zeit» hat heute eine Auflage von über 600 000 und nähert sich dem «Spiegel». Zur Jahrtausendwende war der noch doppelt so gross. Warum legen Sie zu, und warum baut Ihr Konkurrent ab? Sind es die häufigen Wechsel in der Chefredaktion beim «Spiegel»?
Unabhängig vom «Spiegel» sage ich: Es ist gut, wenn Verleger ihren Führungsleuten Zeit geben. Auch ich brauchte diese Zeit. Ich habe am Anfang in den Konferenzen noch vier meiner Vorgänger gehabt, alles ehrenwerte und reizende Kollegen. Aber stellen Sie sich mal vor, Sie müssten sich bei der Arbeit an vier Vorgängern messen lassen, die permanent Ihre Arbeit beobachten.
Wäre das nicht ein Grund gewesen, den Job dankend abzulehnen?
Ich war vielleicht ein Stück weit naiv und habe gedacht, das macht mir gar nichts aus.
Lassen Sie uns noch über den öffentlichrechtlichen Rundfunk in Deutschland sprechen, den Sie aus Ihrer Talkshow «3 nach 9» sehr gut kennen. Wie sieht es da mit der politischen Vielfalt aus?
Da verändert sich auch etwas, das weiss ich aus vielen Gesprächen. Ich war mehrmals sowohl beim ZDF als auch bei der ARD eingeladen zu Sendungs- oder Programmkritiken. Ein Unternehmen, das von allen bezahlt wird, muss Pluralität abbilden. Als ich in der Oberstufe war, haben wir uns manchmal verabredet, nur um uns über bestimmte Programme aufzuregen. Über den früheren ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal gab es ein Lied und darin die Strophe: «Die Milch wird sauer, das Bier wird schal, im Fernsehen spricht der Löwenthal.» Wir haben das angeschaut, weil es unsere Meinung geschärft hat. Das Öffentlichrechtliche braucht auf beiden Seiten Figuren, die auch Widerspruch provozieren.
Wer fällt Ihnen da heute ein?
Mir fällt immer noch kein dezidiert Konservativer auf. Wir können ja schlecht sagen, die Farbe für das Konservative ist Dieter Nuhr. Die Last wäre ein bisschen zu gross für ihn.
Sie haben den früheren Bundeskanzler und späteren «Zeit»-Herausgeber Helmut Schmidt oft interviewt und nach seinem Tod gesagt, er fehle Ihnen sehr. Stellen Sie sich heute manchmal die Frage: Was würde Schmidt jetzt sagen?
Natürlich, etwa angesichts des Ukraine-Kriegs. Er ist ja 2015 gestorben, als der grosse Flüchtlingszuzug stattfand. Wahrscheinlich wäre er heute selbst oft ratlos: Wie soll jetzt eine Zweistaatenlösung in Israel funktionieren? Wie kann man den Klimawandel aufhalten? Selbst Schmidt würde mit seiner Weisheit an seine Grenzen stossen. Aber Figuren wie er sind wichtig, wahnsinnig wichtig – weil sie den Menschen ein Gefühl von Sicherheit und Orientierung geben. Schmidt war ja als Politiker ein Intellektueller. Aber er hatte die Fähigkeit, so zu sprechen, dass die Leute ihn verstanden haben. Und wenn sie ihn mal nicht verstanden haben, hatten sie das Gefühl, gerade etwas besonders Schlaues gehört zu haben.
Die Annexion der Krim durch Russland hat Schmidt 2014 verteidigt. Er sagte damals, es sei ein Irrtum, zu glauben, dass es ein Volk der Ukrainer mit einer eigenen Identität gebe. Was sagen Sie zu dieser Einschätzung?
Darüber haben wir uns auch gestritten. Aber man muss ihn im Kontext seiner Zeit verstehen. Und man muss ihn auf der Grundlage seiner Lebenserfahrung beurteilen. Helmut Schmidt war Soldat der Wehrmacht. Ganz spät erst habe ich mich getraut, ihn zu fragen, ob er im Krieg getötet habe. Seine Antwort war: Ja. In Russland. Und die Toten waren nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten. Er ist aus dem Krieg gekommen mit dem unbedingten Primat, dass sich so etwas nie wiederholen dürfe.
Sie werden vor allem mit Interviews in Verbindung gebracht. Macht Ihnen dieses journalistische Genre am meisten Freude?
Ich war ja viele Jahre ein glücklicher Reporter, und das musste ich mir komplett abschminken. Da fehlt heute die Zeit, und mit Sicherheit ist auch irgendein Muskel erlahmt. Meine Ersatzdroge sind tatsächlich die Interviews – und die Leitartikel, die mir auch viel Freude machen.
Stimmt unsere Wahrnehmung, dass Sie in Ihren Leitartikeln ein bisschen konservativer geworden sind?
Nein. Ich bin mit den Jahren nicht konservativer, aber misstrauischer geworden gegenüber Schwarz-Weiss-Darstellungen. Es gibt eine Erfahrung, die mich stark geprägt hat. Ich habe etwas gemacht, was man als Journalist eigentlich lieber nicht machen sollte: Vor vielen Jahrzehnten war ich mal für ein paar Monate Aktivist. Ich habe in München die erste Lichterkette gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit mitorganisiert. Und nach dieser Lichterkette kontaktierte mich ein deutschtürkisches Paar und sagte: Bei uns in der Wohnung ist ein Brandsatz gelegt worden. Ich bin sofort hingefahren. Bei der Polizei haben sie mir gesagt, es gebe keinen Anhaltspunkt für eine politische Tat. Und ich habe gedacht: Ja, weil ihr ihn nicht sehen wollt! Mein Artikel erschien, und ein paar Monate später kam die Meldung: Das Paar hatte den Brandsatz selbst gelegt, es ging um einen Streit mit dem Vermieter.
Heute würden Sie keine Lichterkette mehr initiieren?
Auf keinen Fall, weil es mich in einen unerträglichen Rollenkonflikt bringen würde: Wie sollen die Kolleginnen und Kollegen über etwas schreiben, wenn der Redaktionsleiter an vorderster Front aktiv ist?
Kein deutscher Artikel hat in diesem Jahr solche Wellen geschlagen wie diese Geschichte von Correctiv über das angebliche Geheimtreffen von Rechten in Potsdam. Es gab wochenlang Demos, auf denen vor einer Rückkehr des Faschismus gewarnt wurde. Teilen Sie diese Sorge?
Nein, wir haben in Deutschland gottlob noch keine Weimarer Verhältnisse. Aber die Ohnmacht und die Hilflosigkeit gegenüber den wöchentlichen Meldungen von steigenden Zustimmungswerten für die AfD haben mich an die Zeit unserer Lichterkette erinnert. Und insofern waren diese neuen Demonstrationen ein gutes Zeichen.
Finden Sie es richtig, wenn Politiker der Union von einer «Nazi-Partei» sprechen und eine «Brandmauer» zwischen sich und der AfD hochziehen?
Diese Frage kann man politisch, strategisch und moralisch beantworten. In allen drei Fällen fährt die CDU im Moment die richtige Strategie, die Brandmauer steht also. Ich glaube nicht, wie die NZZ kommentiert hat, dass sich die AfD in der Regierung entzaubern würde. Ich habe als abschreckendes Beispiel Italien vor Augen. Wenn Frau Meloni so weitermacht wie bisher, dann wird sie noch zwanzig Jahre lang an der Macht bleiben und sich eben nicht entzaubern.
Italien ist unter Frau Meloni kein faschistisches Land geworden.
Das habe ich auch nicht behauptet, ich halte nichts von einer Dämonisierung. Ich glaube auch nicht daran, dass durch das Ignorieren dieser Leute ihr Wähleranteil kleiner wird. Im Gegenteil, es entsteht der Eindruck, als ob sie unbesiegbar wären. Deshalb fand ich auch das Fernsehduell zwischen dem thüringischen AfD-Chef Björn Höcke und seinem CDU-Kontrahenten Mario Voigt richtig.
Was würden Sie sagen, wenn jemand aus Ihrer Redaktion jetzt ein Interview mit Höcke in der «Zeit» vorschlagen würde?
Höcke interviewen? Das würde ich im Moment sehr skeptisch sehen. Aber wir haben eben erst ein Interview mit Gloria von Thurn und Taxis veröffentlicht. Die wird ja von manchen Rechten als eine Art . . .
. . . eine Art Höcke des Hochadels gesehen? Ist das Ihr Vergleich?
. . . als Glamour-Frau der rechten Bewegung gesehen. Natürlich kann man völlig zu Recht die Frage stellen, ob diese Bühne richtig ist an so prominenter Stelle. Aber meine Kollegin hat das gut gemacht.
Stimmt es eigentlich, dass Sie jede Veranstaltung spätestens um 21 Uhr verlassen? Sie lachen schon.
In groben Zügen stimmt das. Ich würde bei Partys gerne all das machen, was die anderen auch machen: einen über den Durst trinken, einen Spruch raushauen, auch mal einen dummen Witz erzählen. Doch das sind alles Dinge, die die Kolleginnen und Kollegen nicht so gerne sehen, und ich kann das gut verstehen. Es gab mal bei einer grossen Zeitung ein Redaktionsfest in Berlin. Spät in der Nacht sind ein paar Kollegen mit dem damaligen Chefredakteur ins Hotel zurück. Sie stiegen im sechsten Stock aus dem Fahrstuhl aus, der Chefredakteur fuhr weiter. Und dann hörten sie, wie jemand im Fahrstuhl umfiel. Das war natürlich superlustig, aber die Redaktion hat sich darüber dann wochenlang das Maul zerrissen. Das will man selber nicht.
Das heisst, so richtig gelöst sind Sie erst nach 21 Uhr?
Ja, vorher ist sehr viel Impulskontrolle.
Sie sind jetzt 65 Jahre alt. Haben Sie Angst vor dem Alter?
Ich habe mir vorgenommen, dass ich diese Frage nie jemandem stelle. Hoffentlich habe ich mich immer daran gehalten.
Finden Sie die Frage übergriffig?
Sie verführt zu Plattitüden.
Nach dem Tod fragen Sie Leute aber schon.
Wenn der Regisseur Helmut Dietl anruft und sagt: Ich habe Krebs und bin unheilbar krank, dann kommen Sie an dieser Frage nun wirklich nicht vorbei.
Judith Rakers, Ihre Co-Moderatorin bei «3 nach 9», sagt, Sie hätten immer einen Koffer dabei mit Medikamenten für jede erdenkliche Erkrankung. Sind Sie selbst ein Hypochonder?
Hundertprozentig. Aber ich habe mich durch Corona gebessert, ich war damals auch jeden Tag im Büro.
Und gibt es diesen Koffer?
Nein, aber ein beachtliches Sortiment.
Sie sind spät Vater geworden. Waren Sie präsent, als Ihre Tochter klein war?
Ich bilde mir ein, dass ich einigermassen präsent war. Aber wahrscheinlich habe ich doch vieles versäumt. Und das eigene Kind wird immer sagen: Da hast du gefehlt. Aber ich bemühe mich sehr, sehr, sehr.
Ihr Vertrag läuft noch bis 2028.
Sind Sie sicher?
So liest man es. Die Frage, die wir uns stellen: Können Sie nicht loslassen?
Es ist interessant, dass diese Journalistenfrage kommt, seitdem die Zahlen so gut sind. Im Umkehrschluss hiesse es: Wenn etwas gut läuft, muss man zwangsläufig aufhören. Die Fragen, die ich mir immer stellen muss, lauten: Wollen dich deine Verleger noch? Ist deine wunderbare Mannschaft bei der «Zeit» noch bereit, dir zu folgen? Hast du die Kraft? Hast du selbst Freude an der Arbeit?
Was ist Ihre Antwort?
Die Freude ist immer noch riesengross! Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich jemals etwas anderes tun möchte, als journalistisch zu arbeiten, in welcher Form auch immer. Das soll jetzt aber bitte nicht wie eine Drohung klingen.