Mittwoch, März 12

Die meisten Schutzmassnahmen kommen potenziellen Opfern von Straftaten zugute. Sie können sich aber auch als falsch erweisen, wie ein Fall vor dem Zürcher Verwaltungsgericht zeigt.

Am 3. August 2024 erhält Christian Müller (Name geändert) einen Anruf, der ihn überrascht. Am Telefon ist jemand von einer Zürcher Beratungsstelle für gewalttätige Männer.

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Die Person sagt Müller am Telefon, dass gegen ihn ein Rayon- und Kontaktverbot ausgesprochen worden sei. In den folgenden zwei Wochen dürfe er sich weder seiner neunjährigen Tochter noch der früheren Partnerin noch deren Eltern nähern. Zudem müsse er sich vom Wohnort der früheren Partnerin und der Schule der Tochter fernhalten.

Müller ist fassungslos. Er fragt sich: Was geht hier vor?

Wenige Stunden zuvor hatte seine frühere Partnerin die Stadtpolizei Zürich um Hilfe gebeten. Sie habe von Müller zwei Drohbriefe erhalten, erzählte sie den Polizisten. Darin schreibe dieser, dass er sie hasse und sie und ihre Eltern sterben würden. Zudem fordere er das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter und Geld. Nur so werde sie die Tochter wiedersehen.

Die Polizei tut, was sie in solchen Fällen tun muss: Sie verhängt ein 14-tägiges Rayon- und Kontaktverbot gegen Müller. Vier Tage später beantragt die Ex-Partnerin eine Verlängerung der Schutzmassnahmen beim Zwangsmassnahmengericht. Das Gericht setzt sich nun genau mit dem Fall auseinander und merkt: Hier passt einiges nicht zusammen.

Wer hat den Drohbrief verfasst?

Die zusammengeklebten Drohbriefe sind nicht unterschrieben. Sie sind in fehlerhaftem Schweizerdeutsch verfasst, obwohl Müller Hochdeutsch spricht. Die Ex-Partnerin gab an, die Briefe am 30. Juli erhalten zu haben – doch bei der Polizei meldet sie sich erst vier Tage später. Zudem lebte die Tochter zum damaligen Zeitpunkt bei der Mutter. Müller konnte also gar nicht damit drohen, die Tochter nicht zurückzugeben.

Das Gericht hört Müller und die ehemalige Partnerin an. Müller betont, er habe vor kurzem nach sechsjährigem Verfahren die alleinige Obhut für die Tochter zugeteilt bekommen. Mit einem Drohbrief hätte er sich nur selbst geschadet. Er sei in einer neuen Beziehung, verheiratet und glücklich. Er denke, die Mutter der ehemaligen Partnerin oder jemand anders aus ihrer Familie habe die Drohbriefe zusammengeklebt. Die Familie der ehemaligen Partnerin habe schon einmal eine Urkunde gefälscht. Womöglich versuche die frühere Partnerin, mit dem Kontaktverbot die Herausgabe des Kindes zu umgehen.

Das Gericht sieht es ähnlich. Es sei lebensfremd, dass Müller der früheren Partnerin Drohbriefe habe zukommen lassen. Es sei offensichtlich, dass die frühere Partnerin ein sehr starkes Interesse daran habe, zu verhindern, dass die Tochter zum Vater ziehe. Die Schilderungen der Frau seien teilweise abenteuerlich gewesen. So habe sie etwa plötzlich von einem weiteren Drohbrief aus dem Jahr 2020 erzählt, den ihre Mutter im Bett des Kindes gefunden habe.

Eine Gefährdung der Familie sei nicht glaubhaft. Das Gesuch um Verlängerung der Schutzmassnahmen wird deshalb abgelehnt.

1341 Schutzmassnahmen in einem Jahr

Müllers Fall zeigt, wie schwierig solche Situationen für Polizei und Gericht sein können: Die Behörden müssen innert kürzester Zeit entscheiden, ob Schutzmassnahmen verhängt werden sollen oder nicht.

Wegen häuslicher Gewalt müssen Polizisten im Kanton Zürich rund 20-mal pro Tag ausrücken. Etwa in jedem sechsten Fall beantragen die Polizisten anschliessend Schutzmassnahmen. 2023 war dies 1341-mal der Fall.

Ziel solcher Massnahmen ist es, Personen vor Gewalt und Stalking durch Partner und Familienmitglieder zu schützen. Der Ablauf ist standardisiert: Zuerst wird der mutmassliche Täter von einer Beratungsstelle kontaktiert und über das Kontakt- oder Rayonverbot informiert: Wo darf er sich aufhalten? Und wo nicht?

Die Polizei kann ihm etwa verbieten, sich der Familienwohnung, dem Arbeitsort der Partnerin oder auch der Schule der Kinder zu nähern. Die No-go-Areas werden in einem Plan eingezeichnet. Zudem kann auch der Kontakt via Mail, Brief, Telefon oder soziale Netzwerke untersagt werden.

Ist die Bedrohung akut, können die Polizisten jemanden auch vorübergehend festnehmen. Nach 24 Stunden wird die Person aber spätestens wieder freigelassen.

Der oder die Beschuldigte hat dann fünf Tage Zeit, Einspruch einzulegen. Danach entscheidet das Zwangsmassnahmengericht, ob die Schutzmassnahme bestehen bleibt oder nicht.

Alle Schutzmassnahmen gelten für 14 Tage. Das Gericht kann die Massnahme um maximal drei Monate verlängern. Fühlt sich jemand danach immer noch bedroht, muss er oder sie einen anderen Weg gehen und ein Zivilverfahren einleiten.

«Täter» müssen Einsprache einlegen

In den meisten Fällen schützen diese Massnahmen potenzielle Opfer. In manchen wenigen Fällen sind Opfer- und Täterrollen jedoch vertauscht.

Patrick Strub, Mediensprecher des Bezirksgerichts Zürich, sagt dazu: «Im Gewaltschutzverfahren reicht ein blosses Glaubhaftmachen. Daher ist es möglich, dass in einem solchen Verfahren von einer Bedrohung ausgegangen wird, während dem Beschuldigten in einem späteren Strafverfahren kein strafrechtliches Verhalten nachgewiesen werden kann.»

Am Bezirksgericht Zürich habe es 2023 bei 250 Gewaltschutzverfahren etwa 30 Einsprachen gegeben. Erst nach der Einsprache würden die Parteien angehört, und manchmal könne es dann durchaus zu einer Andersbeurteilung kommen – so wie bei Herrn Müller.

Für ihn war der Fall mit dem Urteil des Zwangsmassnahmengerichts noch nicht abgeschlossen. Die frühere Partnerin zog das Urteil weiter – ans Verwaltungsgericht. Dieses hat dann entschieden: Die Beschwerde wird abgewiesen, die Massnahmen werden nicht verlängert. Und die Frau muss Müller eine Entschädigung von 1000 Franken bezahlen.

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