Sonntag, Dezember 29

Warum Ozempic und ähnlichen Medikamenten fast schon Superkräfte zugeschrieben werden, und wie sie auf Körper wirken.

Bislang hat dieses Medikament noch alle Erwartungen übertroffen. Das erfolgreiche Diabetesmittel Ozempic wurde zu Wegovy weiterentwickelt – und ist heute ein noch viel grösserer Kassenschlager. Und kaum war Wegovy auf dem Markt, berichteten Patienten, dass sie plötzlich sogar ihre Lust auf Alkohol verloren hätten. Inzwischen wird das Medikament als Therapeutikum für Suchtkranke getestet.

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Wegovy hat bewiesen, dass es Schlaganfälle und Herzinfarkte verhindern kann – jedenfalls gilt das für Menschen, die zu viel Körpergewicht mit sich herumtragen. Bei verschlissenen Kniegelenken kann es ihnen ebenfalls Linderung verschaffen. «Derzeit werden diese Wirkstoffe als Heilmittel für so ziemlich jede Krankheit unter der Sonne gehandelt», meint der Adipositas-Forscher Randy Seeley von der University of Michigan in der Fachzeitung «Nature». Sogenannte GLP-1-Rezeptor-Agonisten, wie Fachleute Ozempic und seine Verwandten nennen, werden als Medikamente gegen Unfruchtbarkeit, Nierenschäden und Depressionen getestet. Ihnen wird sogar zugetraut, gegen bislang unbesiegbare Leiden wie Parkinson und Alzheimer zu helfen.

«Ich habe noch nie erlebt, dass einem Medikament so viele günstige Effekte auf den Körper zugeschrieben werden», sagt Martin Heni, der Leiter der Diabetologie des Universitätsklinikums Ulm. Optimisten führen das darauf zurück, dass man inzwischen gefühlt überall im Körper Rezeptoren für das GLP-1-Hormon entdeckt hat, dessen Wirkung die Agonisten nachahmen. Im Immunsystem, in Gefässen, am Herz, ja sogar im Knochen.

Wirkung sogar tief im Gehirn

Die Theorie: Im Gegensatz zu dem Botenstoff, der im Darm nach dem Essen gebildet wird, erreicht die Kopie Rezeptoren an Stellen, die sonst nur sehr selten mit GLP-1 in Kontakt kommen. Das liegt zum einen an ihrem viel längeren Effekt: Das Hormon wirkt nur wenige Minuten, Wegovy rund eine Woche. Aber auch an der Menge: Eine Spritze erhält die fünffache Dosis, die der Körper auf einen Extremreiz wie ein üppiges Festtagsmenu bildet – das bedeutet, er wird mit dem Mittel geradezu geflutet.

Dieser Umstand soll auch erklären, warum GLP-1-Rezeptor-Agonisten sogar tief im Gehirn zu wirken scheinen – in den Gedächtnisarealen, die beim Morbus Alzheimer Schäden erleiden. Und das, obwohl Wegovy nicht die Blut-Hirn-Schranke durchdringt, die das zentrale Nervensystem gegen schädliche äussere Einflüsse abdichtet. Ein möglicher Erklärungsmechanismus: Es gibt einige wenige Bereiche wie die Area postrema, in denen die Blut-Hirn-Schranke porös ist. Und diese Regionen, so der Diabetologe Martin Heni, seien wiederum mit den Gedächtniszentren verschaltet.

Es gibt aber noch eine weitere Erklärung: Vielleicht beruht die umfassende Wirkung der Medikamente eher auf einem indirekten Mechanismus. Laut dieser These sind sie in der Lage, über ein paar wenige Stellschrauben ein System zu beeinflussen, das so mächtig ist, dass sich die Auswirkungen überall im Körper zeigen.

Denn wer sich wöchentlich eine Wegovy-Spritze setzt, reduziert nicht nur massiv seine Kalorienaufnahme. Die Mittel beeinflussen auch die Nahrungsauswahl und -verwertung. Sie sorgen dafür, dass gesünder und weniger süss und fettig gegessen wird. «Das führt zu einer systemischen Verbesserung des Stoffwechsels. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese Veränderungen positiv auf viele Krankheiten auswirken», sagt Matthias Tschöp, der Leiter des Forschungsbereichs Gesundheit der deutschen Helmholtz-Gemeinschaft. Tschöp war massgeblich an der Entwicklung der noch besser wirkenden Wegovy-Nachfolger mit dem Wirkstoff Tirzepatid beteiligt.

Eine Art «pharmakologischer Schutzwall»

Für diese These spricht: Kaloriensparen ist lebensverlängernd und gesundheitsfördernd. Und: Zu viel Zucker und Fett lösen im Körper Entzündungen aus, die, wenn sie lange schwelen, Organe wie Herz oder Nieren schädigen können – und das Gedächtnis. Besonders ausgeprägt ist das bei Adipösen, weil üppige Fettpolster am Bauch die Entzündung zusätzlich anheizen. Das könnte nicht nur erklären helfen, warum Übergewichtige besonders häufig an Herzinfarkt, Schlaganfall und Alzheimer erkranken, sondern auch, warum GLP-1-Rezeptor-Agonisten bei ihnen besonders gut wirken.

Die Medikamente wären damit vor allem zu verstehen als eine Art «pharmakologischer Schutzwall» – wie ihn Tschöp nennt – gegen unsere eigenen kulinarischen Sünden. «Ich glaube allerdings, dass man niemals eindeutig definieren kann: Was ist jetzt eine direkte und was eine indirekte Folge dieser Medikamente?», sagt der Geschäftsführer des Helmholtz-Zentrums München. Dafür seien die Prozesse zu komplex und zu stark miteinander verflochten.

Es gibt noch zwei weitere grosse Unbekannte. Erstens: «Wir wissen bis jetzt nicht, was passiert, wenn man diese Rezeptoren fünfzehn, zwanzig Jahre am Stück daueraktiviert», sagt Martin Heni. «Ich denke, da sollte man schon kritisch sein.»

Die Unbekannte Nummer zwei ist die Antwort auf die Frage: Wirken die Mittel auch bei schlanken, augenscheinlich stoffwechselgesunden Menschen? Bislang wurden sie fast nur bei Übergewichtigen und Menschen mit Diabetes getestet.

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