Im Prozess um die Veruntreuung öffentlicher Gelder hat die Staatsanwaltschaft fünf Jahre Haft und ein Politikverbot für Marine Le Pen gefordert. Ihre Anhänger sind überzeugt, dass sie kaltgestellt werden soll.
Marine Le Pen gab sich am 30. September noch aufgeräumt. Da hatte der Prozess wegen des Verdachts auf Veruntreuung öffentlicher Gelder gerade begonnen, und die langjährige Chefin des Rassemblement national (RN) wirkte so, als sei das Verfahren vor dem Pariser Strafgericht eine lästige, aber vorübergehende Lappalie.
Sechs Wochen später erlebte man eine andere Le Pen vor dem Pariser Strafgericht: Nachdem die Staatsanwaltschaft am Mittwoch eine Haftstrafe von fünf Jahren, ein Verbot politischer Betätigung von fünf Jahren sowie eine Geldstrafe in Höhe von 300 000 Euro gegen Le Pen beantragt hatte, trat die 56-Jährige sichtlich aufgewühlt und mit geröteten Augen vor die Mikrofone.
Das EU-Parlament als «Cashcow» genutzt
Die Forderungen der Staatsanwältin seien «unverschämt» und «extrem übertrieben», sagte sie. In Wahrheit wolle man den Bürgern in Frankreich die Möglichkeit nehmen, zu wählen, wen sie wählen wollten. Der RN-Abgeordnete Philippe Tanguy ging noch weiter: Mit «fanatischen» Methoden versuche das «System» eine Politikerin kaltzustellen, die für viele im Land eine «Stimme der Hoffnung und des Bruchs» sei.
Bei dem Prozess geht es um die mögliche Scheinbeschäftigung von Mitarbeitern im Europaparlament. Le Pen und 24 weiteren, teilweise ehemaligen Kadern der Partei wird vorgeworfen, in den Jahren zwischen 2004 und 2016 rund sieben Millionen Euro aus EU-Mitteln veruntreut zu haben. Die Partei, die damals noch Front national hiess, steckte in finanziellen Nöten und behalf sich offenbar damit, parlamentarische Assistenten, die ihren EU-Abgeordneten zustanden und mit Geldern aus Brüssel bezahlt wurden, für die Arbeit in Paris abzustellen.
Vor Gericht mussten die Angeklagten den Vorwurf der Verschleierung entkräften und nachweisen, dass es sich bei ihrer Beschäftigung für das EU-Parlament um keine Fiktion handelte – was ihnen in den Augen der zuständigen Staatsanwältin Louise Neyton nicht gelang: «Sie haben das Europäische Parlament, um es prosaisch auszudrücken, zu ihrer Cashcow gemacht, und sie hatten beabsichtigt, das auch weiterhin zu tun», sagte Neyton. Der Demokratie in Europa und in Frankreich sei so «schwerer und dauerhafter Schaden» zugefügt worden. Das EU-Parlament tritt im Verfahren als Nebenklägerin auf.
Für Le Pen und ihre Anwälte sind die Vorwürfe haltlos. Man habe weder gegen politische Regeln noch gegen Vorschriften des EU-Parlaments verstossen, lautete bisher die Strategie der Verteidigung; so genau sei die Arbeit der Assistenten in den Regularien auch gar nicht vorgeschrieben, argumentiert Le Pen.
Kandidatur für die Präsidentschaft in Gefahr
Angeklagt ist wegen der Schaffung eines «organisierten Systems» der Veruntreuung auch die Partei als juristische Person, wobei die Fäden wohl letztlich bei Le Pen zusammenliefen. Für alle angeklagten Kader und Ex-Kader der Partei fordert die Staatsanwaltschaft ein politisches Betätigungsverbot von zwischen drei und fünf Jahren sowie mehrjährige Haftstrafen. Betroffen davon wäre beispielsweise auch die Nummer zwei des RN, Louis Aliot, oder der greise Gründer des Front national, Jean-Marie Le Pen, der aus Gesundheitsgründen dem Prozess fernblieb.
Am meisten zu reden aber gibt der drohende Entzug des passiven Wahlrechts für Marine Le Pen. Bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2027 will sie ein viertes Mal antreten. Seit Monaten zählt sie zu den beliebtesten Politikern Frankreichs, aber der Widerstand gegen sie bleibt gross und führt im Zweifel immer noch dazu, dass sich verfeindete Lager verbünden. Nun könnte ihr auch die Justiz noch einen Strich durch die Rechnung machen. Aber vorerst wird Le Pen im Fall einer Verurteilung in Berufung gehen. Ein Urteil wird für Anfang 2025 erwartet.