Der Nachrichtendienst geht von einer erhöhten Gefahr durch Einzeltäter aus.
Nach dem brutalen Angriff auf einen orthodoxen Juden in Zürich ist ein Bekennervideo des Täters aufgetaucht. Der 15-Jährige spricht darauf direkt in die Kamera. Er hat ein knabenhaftes Gesicht, über seinen Kopf hat er eine Kapuze gezogen. In holprigem Hocharabisch schwört er dem Islamischen Staat seine Treue und kündigt seinen brutalen Angriff an: «Hier bin ich heute, Soldat des Kalifats, der dem Aufruf des Islamischen Staates an seine Soldaten folgt, die Juden und Christen und ihre kriminellen Verbündeten anzugreifen.»
Der Beginn des Angriffs werde, so Gott will, ein Überfall auf eine jüdische Synagoge sein, fährt der Jugendliche fort, «und ein Versuch, so viele Juden wie möglich zu töten.» Gegen Ende des verstörenden Videos ruft er andere Muslime dazu auf, Juden und Christen zu töten. Sie sollen dazu Messer, Kugeln und Brandsätze benutzen oder sie mit Autos und Lastwagen überfahren.
Seine Sätze spricht er mit ruhiger, aber bestimmter Stimme. Den Text scheint er abzulesen, ab und an stolpert er über eine Formulierung. Das zweiminütige Video ist an mehreren Stellen geschnitten. Aufgenommen hat er es draussen, im Hintergrund ist Verkehrslärm zu hören.
Die Behörden bestätigten am Montagnachmittag, dass das Bekennervideo echt ist.
Wann das Video entstanden ist, ist noch unklar. Sicher ist: Der 15-jährige Schweizer mit tunesischen Wurzeln setzt seine Drohungen in die Tat um. Am späten Samstagabend greift er im Zürcher Kreis 2 einen orthodoxen Juden an. Er sticht laut Zeugenangaben mehrfach auf einen 50-jährigen Mann ein. Das Opfer muss mit lebensbedrohlichen Verletzungen in ein Spital gebracht werden.
Die Polizei kann den Täter noch vor Ort festnehmen.
«Ein Angriff auf die freiheitliche, offene Schweiz»
Am Montagnachmittag informierten auch die Zürcher Behörden über die Attacke. Sicherheitsdirektor Mario Fehr sagte, dass er in der Tat einen Terroranschlag sehe. Das 50-jährige Opfer sei alleine aufgrund seiner Religionszugehörigkeit niedergestochen worden. «Der Täter wollte gezielt einen Juden töten, das war offensichtlich eine antisemitische Tat», sagte Fehr. Das Opfer sei nun aber ausser Lebensgefahr.
Der Täter sei 2011 eingebürgert worden und habe tunesische Wurzeln. Der junge Mann stamme aus dem Kanton Zürich, sei jedoch nicht in der Stadt wohnhaft gewesen. Genaueres wollte Fehr dazu nicht sagen.
Das publizierte Bekennervideo sei nun Teil der weiteren Ermittlungen. «Wir wissen, dass das Sicherheitsgefühl erschüttert ist bei der jüdischen Gemeinschaft», sagte Fehr. Die Polizei habe nun aber die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Dies bestätigten auch Vertreter von Kantons- und Stadtpolizei. Man stehe diesbezüglich in engem Austausch mit Sicherheitsleuten der jüdischen Organisationen in Zürich.
Die Sicherheitsvorsteherin der Stadt Zürich, Karin Rykart, sagte: «In der Nacht auf den Sonntag haben wir alles hochgefahren». So habe die Polizei die Taskforce «Naher Osten» reaktiviert, die wegen des Terrors vom 7. Oktober ins Leben gerufen worden war.
Bereits damals seien die Sicherheitsmassnahmen erhöht worden, nun sei man nochmals einen Schritt weiter gegangen, sagten Polizeivertreter vor den Medien. Konkret werden 17 jüdische Einrichtungen in Zürich verstärkt gesichert. Dies beinhaltet eine sichtbare Bewachung durch die Polizei sowie Patrouillen rund um die betroffenen Orte.
Der Zürcher Stadtrat unterstützt seit Anfang Jahr eine «Beratungsstelle für antisemitische Vorfälle» des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Zudem prüft die Stadt die Schaffung einer eigenen städtischen Stelle gegen Antisemitismus. Eine Forderung, die im letzten Dezember von allen Parteien im Stadtparlament gestellt wurde.
Die Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart sagte, der Stadtrat sei erschüttert und tief betroffen vom Angriff auf einen Zürcher Juden. Die Sicherheit der jüdischen Menschen in Zürich und das Engagement gegen Antisemitismus hätten für den Stadtrat höchste Priorität.
Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, sagte, dass mit der Tat vom Samstag der Hass auf jüdische Menschen ein völlig neues Niveau erreicht habe. «Das war aber nicht nur ein Angriff auf einen jüdischen Menschen, sondern auch ein Angriff auf die freiheitliche, offene Schweiz.» Die jüdische Gemeinschaft sei dankbar, dass die Behörden Massnahmen ergriffen haben.
«Für uns ist klar: wir müssen vorsichtig und wachsam sein, aber das jüdische Leben geht weiter», sagte Kreutner. Angst und Verunsicherung dürften nicht überhandnehmen. «Ich hoffe, wir werden gestärkt aus diesem Ereignis hervorgehen.»
Schwerster Angriff auf Juden in der Schweiz seit 20 Jahren
Es ist der erste derart schwerwiegende Angriff auf jüdische Personen in der Schweiz seit über zwanzig Jahren. Letztmals löste der bis heute ungeklärte Mord am Rabbiner Abraham Grünbaum im Juni 2001 in Zürich ähnliche Erschütterungen aus wie jetzt.
Auf den antisemitischen Hintergrund des Angriffs weisen auch Aussagen hin, die der Täter laut Zeugenangaben beim Angriff gemacht hatte. Der Jugendliche sagte Familienangehörigen des Opfers am Tatort, es sei seine muslimische Pflicht, zur Tat zu schreiten. Gegenüber dem jüdischen Magazin «Tachles» sagten Zeugen zudem, der Täter habe gerufen: «Ich bin Schweizer. Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten.» Laut «20 Minuten» soll er auch «Allahu akbar» und «Tod allen Juden» gerufen haben.
Zum 15-Jährigen ist bis anhin relativ wenig bekannt. Er ist vor der Tat jedoch nie wegen extremistischer Handlungen auf dem Radar der Strafverfolgungsbehörden erschienen.
Täter wie er bereiten den Sicherheitsbehörden am meisten Sorgen. Auch dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Auf Anfrage heisst es dort, die Terrorgefahr gehe von Personen aus, die mit dem «Islamischen Staat» sympathisieren würden oder die durch jihadistische Propaganda inspiriert worden seien. Da die Schweiz zur westlichen, von Jihadisten als islamfeindlich eingestuften Welt zähle, stelle sie aus deren Sicht ein legitimes Ziel für Terroranschläge dar.
Das plausibelste Terrorszenario stellt laut dem NDB derzeit eine Gewalttat dar, die von einer Einzelperson mit einfachem Modus operandi verübt wird. Nach Einschätzung des NDB würde sich dieser Angriff gegen schwach geschützte Ziele wie Menschenansammlungen richten und geringe logistische und organisatorische Mittel erfordern. Es ist genau das Szenario, das am vergangenen Samstagabend eingetroffen ist.