Samstag, Oktober 5

Der Corona-Aufbaufonds soll zur Vorlage für die Kohäsionspolitik werden. Nun zeigt sich aber: Die Staaten holen die Mittel nur zögerlich ab. Warum?

Geht es in der Europäischen Union um Geld, sind die Dimensionen automatisch gigantisch: 648 Milliarden Euro stecken im Fonds, mit dem die EU die wirtschaftlichen Nachwirkungen der Corona-Pandemie – und nunmehr auch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – abfedern will. Gar 1,2 Billionen Euro beträgt das Budget, das die Union jeweils für eine Sieben-Jahres-Periode beschliesst. Die beiden Töpfe sind voneinander unabhängig, werden sich künftig aber stärker wechselseitig beeinflussen, als es sich die Erfinder ausgemalt hatten.

Beim 2021 beschlossenen Corona-Aufbaufonds – technisch Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) genannt – heisst das Zauberwort «zukunftsfähig». Dank dem gigantischen Konjunkturprogramm sollen die europäischen Volkswirtschaften umweltfreundlicher, digitaler und wettbewerbsfähiger werden, so das Ziel.

Dafür nahm die EU zu verhältnismässig günstigen Konditionen Kredite an den Kapitalmärkten auf und gibt diese nun Stück für Stück an die Mitgliedsstaaten weiter. Um an den Honigtopf zu gelangen, müssen die Länder «Meilensteine» und «Zielwerte» erreichen – also beispielsweise politische Reformen auf nationaler Ebene beschliessen. Etwas mehr als die Hälfte der 650 Milliarden Euro sind Darlehen, der Rest Zuschüsse, die nicht zurückbezahlt werden müssen.

Hochgradig verschuldet

Es war ein Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Integration – und je nach Standpunkt der Anfang einer unheilvollen Entwicklung. Nie zuvor hatte der Staatenbund gemeinsame Schulden aufgenommen. Er stellte damit zwar seine Reaktionsfähigkeit unter Beweis. Aber zu welchem Preis? Längst gibt es Bestrebungen, die Schuldenunion auch auf weitere Bereiche, notabene die Rüstungsausgaben, auszuweiten. Die Büchse der Pandora lässt sich so schnell nicht wieder schliessen. Mit jedem Engagement aber steigt das finanzielle Risiko für die EU, zumal grosse Mitgliedsstaaten wie Italien und Frankreich hochgradig defizitär wirtschaften.

Nun hat der Europäische Rechnungshof die Verteilung der ARF-Gelder unter die Lupe genommen und festgestellt, dass das Tempo nicht mit den Ambitionen Schritt hält. Bis Ende 2023 haben die Mitgliedsländer weniger als ein Drittel der bereitgestellten Mittel in Anspruch genommen. Die Prüfer sehen die Gefahr, dass bis 2026 – dem vereinbarten Ende der Laufzeit – nicht alle Projekte abgeschlossen sein werden.

Die Gründe für die Verzögerungen sind vielfältig: Oftmals fehlen in den Ländern schlicht die administrativen Kapazitäten, um mit dem vielen Geld umzugehen. Teilweise verzögern sich die erforderlichen Reformen. Und die Inflation macht einen Strich durch die Rechnung, weil Projekte plötzlich teurer werden.

Vermuteter Betrug

Betrugsaufdeckung gehört nicht zum Mandat des Rechnungshofs. Das heisst freilich nicht, dass es Unregelmässigkeiten nicht gibt: 2023 hat die Europäische Staatsanwaltschaft (Eppo) über 230 Ermittlungen eingeleitet. Im April nahm die Polizei in verschiedenen Ländern mehr als zwanzig Verdächtige fest, die über Scheinfirmen Hunderte Millionen Euro aus dem Aufbaufonds erschlichen haben sollen.

Vor diesem Hintergrund kann man die Kritik des Rechnungshofs auch positiv deuten. Im Sinne von: Ist doch gut, wenn die EU-Gelder nur teilweise abgeholt werden – es beweist, dass die Kontrollmechanismen grösstenteils funktionieren, zudem werden so Gelder immerhin nicht verschwendet.

Die Rechnungsprüferin Ivana Maletic widerspricht nicht, sie sagt aber, dass man sich damit vom eigentlichen Ziel des Fonds entferne. Er sollte den europäischen Volkswirtschaften ja rasch neue Impulse geben. Zudem bestehe die Gefahr, dass es gegen Ende der Laufzeit – trotz erreichten Etappenzielen – zu Engpässen bei der Umsetzung von Projekten komme und damit das Risiko von ineffizienter Mittelverteilung steige. Sind die Gelder einmal ausbezahlt, gibt es für die EU-Kommission keine Möglichkeit, diese zurückzufordern.

Damit bleibt die Frage, wie notwendig der grösste Hilfsfonds in der Geschichte der EU tatsächlich ist. Die Wirtschaftsleistung ist im Euro-Raum zwar gestiegen, aber zu welchem Anteil der Stimulus über die Verschuldung dafür verantwortlich war, wird sich nie trennscharf beurteilen lassen. Johannes Lindner, Co-Direktor des Jacques Delors Centre in Berlin, sieht das Glas halb voll: «Unter dem Strich ist die ARF ein Erfolg. Dass wir, anders als nach der Finanz- oder der Euro-Krise, keine massiven Verwerfungen erlebt haben, ist wesentlich dem Fonds zu verdanken», sagt er.

«Geld gegen Reformen»

Wie auch immer eines Tages über den Aufbaufonds geurteilt werden wird: Seine Machart inspiriert die Kommission nun zu neuen Ansätzen. «Geld gegen Reformen» lautet der Grundsatz der ARF – und dieser soll nun auch stärker den EU-Budgetprozess beeinflussen. «Wir werden vom Aufbaufonds lernen. Er hat uns gezeigt, dass der Haushaltsplan mit Reformen verknüpft werden kann, die den Rechtsstaat stärken», sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen anlässlich ihrer programmatischen Rede im Juli.

Das Budget der EU beläuft sich auf rund 1,2 Billionen Euro über sieben Jahre. Grob ein Drittel davon wird für die Landwirtschaft ausgegeben, ein weiteres Drittel für Struktur- und Kohäsionsgelder, welche die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede innerhalb der Union glätten sollen. Auch jene Mittel werden nur ausbezahlt, wenn sie für gewisse Themenfelder verwendet werden, beispielsweise Forschung, Klimaschutz oder Digitalisierung. Zudem müssen die Empfängerstaaten, welche die Programme stets mitfinanzieren, rechtsstaatliche und makroökonomische Bedingungen erfüllen.

Im Unterschied zu den Aufbaufonds-Geldern, die von den nationalen Regierungen verwaltet werden, setzen die Struktur- und Kohäsionsprogramme stark auf regionale und lokale Akteure. Diese kennen das Terrain am besten. «Die Verknüpfung von Auszahlungen an nationale Reformen birgt auch Gefahren. Regionale Regierungen, wie etwa die deutschen Bundesländer, könnten darin eine Zentralisierung sehen, die nicht in ihrem Interesse wäre», sagt Lindner.

Mehr Bedürfnisse bei knapperen Mitteln

Klar ist: Die Verhandlungen für die Finanzierungsperiode von 2028 bis 2035 dürften so schwierig werden wie seit Jahrzehnten nicht. Der Verteilkampf ums Geld spitzt sich zu. Einerseits braucht die EU deutlich mehr Mittel, um die multiplen Herausforderungen – Verteidigung, Klimawandel, Digitalisierung – einigermassen meistern zu können. Andererseits ist die Finanzlage mancher Mitgliedsstaaten schon jetzt äusserst prekär. Dass 2028 die Schuldenrückzahlungen für den Corona-Hilfsfonds einsetzen, verschlimmert die Lage nur noch.

Formell muss die Kommission bis Anfang Juli 2025 einen ersten Budgetvorschlag unterbreiten. Doch die Vorbereitungsgespräche sind längst im Gang. Dabei geht es auch darum, die Kohäsionsgelder leistungsorientierter zu gestalten. Insbesondere die ostmitteleuropäischen Netto-Empfänger haben naturgemäss wenig Interesse, am Status quo zu rütteln. Für Stimmung am Verhandlungstisch ist gesorgt – gerade weil am Ende Einstimmigkeit herrschen muss.

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