Dienstag, Oktober 8

Kent Nagano dirigiert «Die Walküre» am Lucerne Festival erstmals im aufwendig rekonstruierten Originalklang der Wagner-Zeit – ein Meilenstein, der sogar die fehlende Inszenierung vergessen macht.

Wenn Opern konzertant – ohne Inszenierung – aufgeführt werden, hört man anschliessend im Publikum regelmässig einen Satz; er lautet sinngemäss: «Ach, eigentlich brauche ich das ganze Theater auf der Bühne gar nicht, so konzertant, bloss die Musik – das reicht mir.» Zustimmung von vielen Seiten scheint gewiss, nur regelmässige Opernbesucher schauen skeptisch. Denn sie wissen aus eigener Anschauung, dass die ungebrochene Wirkung der Oper seit ihrer Erfindung um 1600 gerade darauf beruht, dass diese Kunstform immer schon ein Multimediaspektakel war – auch wenn man das am Ausgang der Renaissance noch anders nannte.

Wer auf diese szenisch-visuelle Komponente verzichtet, müsste beim Fernsehen oder Streamen auch einmal das Bild ausschalten – als Experiment vielleicht reizvoll, aber doch weniger als die halbe Miete. In Wahrheit steckt hinter dem bewussten Verzicht auf alle Szenerie meist ein Unbehagen angesichts mancher Auswüchse des zeitgenössischen Regietheaters – oder die Empfindung, dass in der Musik tatsächlich alles andere aufgehoben sei.

In der Regel stellt sich dieser Eindruck freilich nur bei Werken ein, in denen schon die Musik durch und durch szenisch konzipiert und obendrein so fesselnd ist, dass sie einen mehrstündigen Abend alleine tragen kann. Bei der konzertanten Wiedergabe der «Walküre» von Richard Wagner am Lucerne Festival war dies jetzt der Fall. Wegen einer Besonderheit der Interpretation wirkte die Musik hier überdies doppelt beredt.

Wagner im Originalklang

Das Lucerne Festival setzte mit diesem zweiten Teil des vierteiligen Opernzyklus «Der Ring des Nibelungen» eine geplante Gesamtaufführung der Tetralogie im KKL fort, die Wagners «Ring»-Musik erstmals seit der Uraufführung 1876 wieder vollständig auf Instrumenten aus der Entstehungszeit und im seinerzeit üblichen Musizier- und Gesangsstil präsentieren will.

Die Produktion ist ein aufwendiges, auch wissenschaftlich begleitetes Projekt der Dresdner Musikfestspiele, die damit an mehreren Orten in Europa gastieren und schon seit dem eröffnenden «Rheingold» für erhebliches Aufsehen sorgen. Denn erstmals bemächtigt sich die anfangs in der Barockmusik beheimatete, aber seit Jahrzehnten immer weiter vordringende Originalklang-Bewegung nun also des umfangreichsten und anspruchsvollsten Bühnenwerks des 19. Jahrhunderts.

Der Aufwand, um einer historisch korrekten Aufführungspraxis und damit hypothetisch auch dem ursprünglichen Klang dieser rund sechzehn Stunden Musik nahezukommen, ist immens: Es müssen Teile und Sonderformen früher gebräuchlicher Instrumente rekonstruiert werden; vor allem aber müssen fast alle Parameter des eigentlichen Musizierens neu durchdacht werden: von der Höhe der Stimmung, dem Material der Saiten und Blasinstrumente über Tempo, Lautstärke und Artikulation bis zur richtigen Deklamation des Textes. Überall hat es da während der zurückliegenden anderthalb Jahrhunderte schleichende Veränderungen und auch Verfälschungen gegeben, die wiederum unsere heutigen Hörgewohnheiten beeinflussen.

Hier einmal eine Art Tiefenreinigung durchzuführen, ist schon aufregend genug – eine zusätzliche Inszenierung hätte in diesem Fall, in dem es auf jede Einzelheit der Musik ankam, tatsächlich zum sinnlich-medialen Overkill führen können. Umso mehr, als der Dirigent Kent Nagano und die vereinigten Ensembles von Concerto Köln und Dresdner Festspielorchester vom ersten Moment an auf Tempo und musikalische Hochspannung setzen. Mit einer Spieldauer von klar unter dreieinhalb Stunden ohne Pausen dürfte dies am Ende eine der zügigsten «Walküren» der Geschichte gewesen sein. Und man spürte die innere Spannung, die nur im dritten Aufzug für wenige Augenblicke durchhing, in jedem Detail.

Schon die eröffnende Sturm-Musik drückt die Hörer im KKL in die Sitze. Die Musik klingt viel rauer, ungeschlachter, wilder als gewohnt, es rumpelt, knarzt und ächzt im buchstäblich historischen Gebälk – bei heutigen, immer noch auf einen philharmonisch abgerundeten Ton getrimmten Orchestern hört man solche urwüchsige Unmittelbarkeit selten.

Das Klangbild ist generell weniger höhenbetont und geschlossen, dafür erdiger, dunkler, archaischer. Und obwohl sich die einzelnen Instrumentengruppen viel weniger homogen mischen, kommt es zwischen ihnen nicht zu jenen Überbietungswettbewerben, bei denen der von Wagner charakteristisch erweiterte Blechbläser-Apparat alle anderen dominiert. Die historischen Trompeten und Tuben erinnern vielmehr noch an ihren Ursprung in der Militärmusik, als Signalgeber – entsprechend plastisch heben sich die zahlreichen Leitmotive ab.

Power-Stimmen

Das Sängerensemble ist diesmal traditioneller als beim «Rheingold» besetzt, mit üppigen, zum Teil raumsprengenden Wagner-Stimmen – einigen könnte man alsbald in Bayreuth wiederbegegnen, allen voran Sarah Wegener mit einer tief berührenden Darstellung der Sieglinde und Åsa Jäger als selbstbewusst strahlender Brünnhilde. Neben diesen Power-Stimmen wirkt der erfahrene Oratorientenor Maximilian Schmitt als Siegmund zu leicht; denkbar ist eine solche lyrische Besetzung des tragischen Helden durchaus, zumal vor diesem transparenteren orchestralen Hintergrund.

Auch der grandios bösartige Patrick Zielke als Hunding und Simon Bailey als strauchelnder Göttervater Wotan setzen nicht allein auf Lautstärke. Sie nutzen die von Wagner gewünschten, in der Opernpraxis jedoch kaum mehr bewusst eingesetzten Übergangsformen zwischen Sprechen und Singen für psychologisch klug vertiefte Rollenporträts. Hier wird wirklich ein neues Kapitel der Wagner-Interpretation aufgeschlagen.

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