Dienstag, September 9

Vor den Nazis floh der Architekt Ossip Klarwein nach Palästina und prägte das Bild des Staates Israel mit. Sein grösster Erfolg war zugleich ein herber Rückschlag. Jetzt wird Klarweins lange vergessenes Werk in einer Ausstellung wiederentdeckt.

Ein schlichter rechteckiger Bau, umgeben von imposanten Säulengängen. Als Ossip Klarwein knapp ein Jahrzehnt nach der Staatsgründung Israels den Parlamentssitz in Jerusalem entwarf, orientierte er sich an Modellen aus dem antiken Griechenland, der Wiege der westlichen Demokratie. Auch den erst von Babyloniern, dann von Römern zerstörten Jerusalemer Tempel und die alten Stadtmauern hatte er dabei im Sinn. Doch schon kurz nachdem Klarwein 1957 mit seinem Entwurf den ersten Preis bei einem offiziellen Wettbewerb gewonnen hatte, wurde er zur Zielscheibe ideologisch aufgeladener Proteste.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Prominente Mitglieder der israelischen Architektenvereinigung warfen Klarwein Rückständigkeit vor – und verglichen seine Formensprache mit der Monumentalarchitektur autoritärer Staaten. «Klarweins Plan folgt Vorbildern von Gebäuden, die von Hitler und Mussolini errichtet wurden», erklärte der Architekt Shlomo Shaag, «. . . all diese schrecklichen Säulen . . . das allein ist ein Affront für unser Nationalgefühl.»

Schweres verbales Geschütz fuhr auch Mordechai Ben Horin auf, der bei dem Wettbewerb hinter Klarwein den dritten Platz belegt hatte. «Tyrannen und Despoten, die Macht über das Volk erlangen wollen, wählen den pseudoklassizistischen Stil (. . .). Ein Knesset-Gebäude in diesem Stil ist uns und dem Geist der Demokratie fremd», schrieb er in der Zeitung «Haaretz».

Klarwein, der nach der Machtergreifung Hitlers nach Palästina geflohen war, betrachtete seinen schlichten, geradlinigen Entwurf als zeitlos – gewissermassen als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Angriffe seiner Kollegen, deren strikter Modernismus den Ideen des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit folgte, trafen ihn tief: «Lachhaft. Das letzte Gebäude, das ich in Berlin gemacht habe, 1933, ist eine evangelische Kirche. An der Eröffnung konnte ich nicht teilnehmen, weil Göring da war. (. . .) Und hier wirft man mir vor, die Knesset sei faschistoid!»

Bekennender Atheist

Die Kirche am Hohenzollernplatz in Berlin-Wilmersdorf, eines der prägnantesten Beispiele für expressionistische Backsteinarchitektur, wurde offiziell von seinem Chef Fritz Höger geplant. Viele Skizzen tragen aber unverkennbar Klarweins Handschrift. Bisher wies nur eine Schautafel im Seiteneingang darauf hin, dass er massgeblich zur Entstehung des Baus beigetragen hat.

Eine Ausstellung in der Kirche, die ab November auch in Hamburg gezeigt wird, gibt erstmals einen umfassenden Überblick über Leben und Wirken des lange vergessenen Architekten. Die Historikerin und Journalistin Jacqueline Hénard, die die Schau kuratiert, hat gemeinsam mit Wissenschaftern aus Israel und Deutschland den weit verstreuten Nachlass aufgearbeitet.

1893 in Warschau geboren, verlor Ossip Klarwein, der sich auch «Joseph» oder «Josef» nannte, gleich zwei Mal seine Heimat. Als die Familie wegen antisemitischer Pogrome aus dem damaligen Russisch-Polen nach Deutschland floh, war er zwölf Jahre alt. In Berlin trat er später aus dem Judentum aus und wurde zu einem bekennenden Atheisten. Die Zusammenarbeit mit dem «Klinkerfürsten» Höger, der das bekannte Chilehaus in Hamburg gebaut hatte, konnte seine Karriere in Deutschland wesentlich fördern.

Dass Höger im Oktober 1932 – wahrscheinlich aus Opportunismus – der NSDAP beitrat, tat ihrem guten Verhältnis keinen Abbruch. Ende Jahr kündigte Klarwein von sich aus, da sein Chef zunehmend unter politischen Druck geriet. Höger beschäftigte ihn aber heimlich weiter und verschaffte ihm schliesslich ein Visum für die Ausreise.

Stadtarchitekt von Jerusalem

Im November 1933 kam Klarwein in das britische Mandatsgebiet Palästina – wieder ein Neuanfang in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht verstand. Dennoch konnte er sich rasch grössere Aufträge sichern. Im Seebad Nahariya, wo viele deutschsprachige Emigranten lebten, baute er unter anderem ein Kino mit mehr als tausend Plätzen.

Nach der Gründung Israels stieg er zum Stadtarchitekten für Jerusalem auf und gestaltete unter anderem das Grabmal für den Zionisten Theodor Herzl. In Tel Aviv plante er den Zentralbahnhof und in Haifa das grosse Dagon-Getreidesilo, das die Silhouette der Stadt bis heute prägt. Seine Arbeit war so überzeugend, dass die Wettbewerbsjury den Entwurf für die Knesset einstimmig annahm und keinen zweiten Platz vergab.

Die daraufhin entbrannte Kontroverse machte allerdings deutlich, wie erbittert in dem noch jungen Staat um die Deutungshoheit gerungen wurde. Zu Klarweins Gegnern zählte auch der renommierte Architekt Arieh Sharon, der am Bauhaus in Dessau bei Walter Gropius und Hannes Meyer studiert hatte. Wie seine Mitstreiter trat Sharon für einen radikal neuen Stil ein, der zum Spiegel der nationalen Identität werden sollte. Im Namen des Fortschritts wollte man auf historische Rückbezüge, selbst auf das kulturelle Erbe des Nahen Ostens, verzichten.

Kritik an der Regierung

Klarwein wurde durch den Entwurf für das Knesset-Gebäude weltbekannt. Bei der weiteren Planung musste er jedoch auf Druck seiner Gegner viele Kompromisse eingehen. Ihm wurden weitere Architekten zur Seite gestellt, die das ursprüngliche Konzept stark veränderten. Das auf einem Hügel im Stadtteil Givat Ram errichtete Gebäude erhielt ein weit hervorspringendes Flachdach aus Beton, die Stützpfeiler rückten näher an die Fassade heran. Klarwein, der danach keine grösseren Arbeiten mehr übernahm, starb 1970 in Jerusalem.

In einem brillanten Essay im Ausstellungskatalog zieht die in Tel Aviv lehrende Architekturprofessorin Talia Margalit Parallelen zwischen dem Streit um die Knesset und dem Zustand der Demokratie im heutigen Israel. Ihre Worte sind als deutliche Kritik an der Regierung von Benjamin Netanyahu zu verstehen: «In einer Zeit, in der die Meinungsfreiheit in Israel bedroht ist und autokratische Kräfte bestrebt sind, die Demokratie zu beschneiden und die Gewaltenteilung abzuschaffen, spielt die hier vorgestellte Geschichte auf die Schwierigkeiten an, die dem hegemonialen demokratischen Diskurs in Israel von Anfang an innewohnen.»

Dieser Diskurs fördere einen einzigen, einheitlichen Stil, so Margalit – und damit sei damals der Grundstein für tief verwurzelte Konflikte gelegt worden.

«Ossip Klarwein. Vom ‹Kraftwerk Gottes› zur Knesset», Kirche am Hohenzollernplatz, Berlin, bis 16. Oktober. Vom 16. November bis zum 8. Februar 2026 im Ernst-Barlach-Haus in Hamburg.

Exit mobile version