Der Physiker Peter Higgs ist tot. Das von ihm postulierte Teilchen wird die Teilchenphysik noch Jahrzehnte beschäftigen. Ohne neue Beschleuniger wird man es vermutlich nie ganz verstehen.

«Als Laie würde ich sagen: Ich denke, wir haben es. Stimmen Sie mir zu?» Mit diesen Worten kündigte der damalige Generaldirektor des Cern, Rolf-Dieter Heuer, am 4. Juli 2012 eine teilchenphysikalische Entdeckung von grosser Tragweite an. In dem bis auf den letzten Platz gefüllten Auditorium am Cern war jedem klar, was Heuer mit «es» meinte. Und wem es nicht klar war, der musste nur einen Blick in die erste Reihe der Zuhörer werfen.

Dort sass der britische Physiker Peter Higgs und wischte sich mit einem Taschentuch verlegen ein paar Tränen aus dem Gesicht. Dem bescheidenen Physiker ging es offensichtlich nahe, dass man am Cern ein Teilchen nachgewiesen hatte, dessen Existenz er fast fünfzig Jahre zuvor postuliert hatte.

Peter Higgs ist diese Woche im Alter von 94 Jahren gestorben. Aber das nach ihm benannte Teilchen wird die Teilchenphysik noch lange beschäftigen. Zwar hat man in den vergangenen zwölf Jahren viel über das Higgs-Teilchen gelernt. Aber es gibt immer noch viele Dinge, die man nicht weiss. So ist bis heute unklar, ob das Higgs-Teilchen ein Einzelgänger ist oder ob es weitere Higgs-Teilchen gibt, die darauf warten, entdeckt zu werden.

Ohne Higgs-Teilchen gäbe es keine Masse

Dass Rolf-Dieter Heuer damals kurzzeitig in die Rolle des Laien schlüpfte, war ein geschickter Schachzug. Denn als Fachmann hätte er eingestehen müssen, dass man noch nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob das entdeckte Teilchen tatsächlich das Higgs-Teilchen ist.

Das Teilchen, das Higgs im Jahr 1964 postuliert hatte, erfüllt im Standardmodell der Teilchenphysik eine besondere Rolle. Das mit ihm assoziierte Feld verleiht anderen Teilchen, die sonst masselos wären, eine Masse. Diese ist umso grösser, je stärker diese Teilchen an das Higgs-Feld koppeln. Dass ein Myon massereicher ist als ein Elektron, liegt bildlich gesprochen daran, dass das zähflüssige Higgs-Feld seine Bewegung stärker hemmt und es damit träger macht.

Das Standardmodell der Teilchenphysik

Damit dieser sogenannte Higgs-Mechanismus zur Massenerzeugung funktioniert, muss das Higgs-Teilchen bestimmte Eigenschaften haben. Das Higgs-Teilchen des Standardmodells ist ein Spin-0-Teilchen mit gerader Parität. Das bedeutet, dass es keinen Eigendrehimpuls (Spin) besitzt und im Spiegel betrachtet genauso zerfällt wie in der realen Welt.

Als die Entdeckung bekanntgegeben wurde, kannte man weder den Spin noch die Parität des neuen Teilchens. Aus den beobachteten Zerfällen konnte man lediglich ableiten, dass der Spin ganzzahlig sein muss und das neue Teilchen damit zur Klasse der sogenannten Bosonen gehört. In der Pressemitteilung, die das Cern damals verbreitete, war deshalb folgerichtig von einem Teilchen die Rede, das konsistent mit dem lange gesuchten Higgs-Boson sei. Erst ein Jahr später machten weitergehende Messungen am Cern aus der Vermutung eine Gewissheit.

Damit ist allerdings immer noch nicht klar, ob es sich um das Higgs-Teilchen des Standardmodells handelt. In teilchenphysikalischen Modellen, die über das Standardmodell hinausgehen, gibt es ebenfalls einen Mechanismus, der den Teilchen eine Masse verleiht. Allerdings kann dieser Mechanismus komplizierter sein als im Standardmodell.

So sagt eines der am häufigsten diskutierten Modelle voraus, dass es statt einem fünf Higgs-Bosonen geben sollte, von denen eines deutlich leichter ist als die anderen. Das am Cern entdeckte Higgs-Teilchen könnte also das leichteste Mitglied dieses Multipletts sein. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass das Higgs-Teilchen gar nicht elementar ist, sondern aus kleineren Bausteinen zusammengesetzt ist.

«Keine dieser Möglichkeiten lässt sich derzeit ausschliessen», sagt der theoretische Physiker Thomas Gehrmann von der Universität Zürich. «Mit seiner Masse von 125 Gigaelektronenvolt ist das Higgs-Teilchen mit vielen Szenarien kompatibel.»

Hält sich das Higgs-Teilchen ans Standardmodell?

Das Higgs-Teilchen ist äusserst kurzlebig. Mit dem Standardmodell lässt sich sehr präzise berechnen, wie häufig es in verschiedene Kombinationen von Teilchen zerfällt. Bisher bestätigen die Messungen die Vorhersagen. Allerdings seien die Messungen bei weitem noch nicht präzise genug, sagt Hans Peter Beck von der Universität Bern, der zur Atlas-Arbeitsgruppe am Cern gehört. Ausserdem habe man bisher nur Zerfälle in relativ schwere Teilchen wie das Bottom-Quark, das Z- und das W-Boson oder das Tau untersuchen können. Diese seien ungleich häufiger als Zerfälle in leichte Teilchen wie das Elektron, das Up- oder das Down-Quark.

Die Hauptaufgabe der Teilchenphysiker wird in den nächsten Jahren darin bestehen, möglichst viele Zerfälle des Higgs-Teilchens so genau wie möglich zu vermessen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die sich aber lohnt. Selbst eine kleine Abweichung von den Vorhersagen des Standardmodells oder ein Zerfall in bisher unbekannte Teilchen wäre ein starkes Indiz für neue Physik, so Beck. Danach suchen Teilchenphysiker schon lange. Sie sind überzeugt, dass es eine umfassende Theorie geben muss, die zum Beispiel erklären kann, woraus die dunkle Materie besteht, die unsere Milchstrasse und andere Galaxien zusammenhält.

Um die Erfolgschancen zu erhöhen, soll der Large Hadron Collider (LHC) umgerüstet werden. Ab dem Jahr 2029 sollen pro Sekunde zehnmal so viele Protonen miteinander zur Kollision gebracht werden wie heute. Das verspricht eine reiche Ausbeute an Daten. Damit sollten sich dann auch seltenere Zerfälle des Higgs-Teilchens untersuchen lassen.

Mit dem High-Luminosity LHC, so die Bezeichnung für die nächste Ausbaustufe des Large Hadron Colliders, will man auch erstmals untersuchen, wie stark das Higgs-Teilchen an sich selbst koppelt. Diese Selbstwechselwirkung sei zentral für das Verständnis des Higgs-Mechanismus zur Massenerzeugung, sagt Gehrmann.

Um die Wechselwirkung des Higgs-Teilchens mit sich selbst untersuchen zu können, müssen bei den Proton-Proton-Kollisionen im LHC gleichzeitig zwei Higgs-Teilchen erzeugt werden. Das passiert extrem selten. Laut Standardmodell ist die Wahrscheinlichkeit dafür weniger als ein Tausendstel Mal so gross wie die Erzeugung eines einzelnen Higgs-Teilchens.

Die Rufe nach einer Higgs-Fabrik werden lauter

Auch mit dem High-Luminosity LHC werde man diesen Prozess nur ansatzweise untersuchen können, so Beck. Langfristig brauche man deshalb eine sogenannte Higgs-Fabrik. So bezeichnen Teilchenphysiker einen Beschleuniger, der Higgs-Teilchen quasi wie am Fliessband produziert.

Konzepte für zukünftige Teilchenbeschleuniger im Vergleich

Derzeit gibt es mehrere Ideen, welcher Beschleuniger nach 2040 das Erbe des Large Hadron Collider (LHC) am Cern antreten könnte.

Konzepte für zukünftige Teilchenbeschleuniger im Vergleich - Derzeit gibt es mehrere Ideen, welcher Beschleuniger nach 2040 das Erbe des Large Hadron Collider (LHC) am Cern antreten könnte.

Am Cern werden derzeit Pläne für einen solchen Beschleuniger entwickelt, der nach 2040 auf den High-Luminosity LHC folgen könnte. Zu den diskutierten Konzepten zählt ein ringförmiger Future Circular Collider mit einem Umfang von knapp hundert Kilometern, der in einer ersten Phase Positronen und Elektronen beschleunigen soll. Ob dieser Beschleuniger der Superlative tatsächlich gebaut wird, entscheidet sich in den nächsten Jahren.

Peter Higgs betrachtete die Entwicklung, die er angestossen hatte, übrigens mit einem gewissen Unbehagen. Bei einem Besuch des gerade fertiggestellten Large Hadron Collider sagte er im Jahr 2008 sinngemäss: Wenn er gewusst hätte, was seine Arbeit aus dem Jahr 1964 auslöst, hätte er sich überlegt, sie nicht zu veröffentlichen.

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