Samstag, März 15

Die Hindu-Nationalisten wollen in Indien Englisch als Amts- und Verkehrssprache komplett durch Hindi ersetzen. Bei den anderen Sprachgruppen kommt das nicht gut an.

Narendra Modi ist ein begabter Redner und gewiefter Kommunikator. Auf der Bühne versteht es der indische Premierminister, sein Publikum in den Bann zu ziehen. Modi ist sich bei Auftritten der Wirkung seiner Worte sicher – so sicher, dass er kürzlich im Wahlkampf in Karnataka auf einen lokalen Übersetzer verzichtete. «Sprache war nie eine Barriere zwischen uns, weil wir im Herzen verbunden sind», sagte Modi bei der Kundgebung in Südindien. «Ich weiss, dass ihr so viel Liebe für mich habt, dass ihr keine Worte braucht, um mich zu verstehen.»

Allerdings dürfte ein Grossteil des Publikums Modi tatsächlich nicht verstanden haben. Denn der indische Premierminister sprach in Hindi, in Karnataka jedoch spricht man Kannada. Wie in anderen Teilstaaten Südindiens beherrscht dort nur eine Minderheit Hindi. Zwar ist Hindi seit der Unabhängigkeit 1947 neben Englisch die Amtssprache Indiens. Doch gibt es Hunderte weitere Sprachen. Ausserhalb des sogenannten Hindi-Gürtels im Norden spielt Hindi nur eine Nebenrolle.

Die Hindu-Nationalisten wollen dies ändern. Unter dem Slogan «Hindi, Hindu, Hindutva» propagieren sie seit Jahrzehnten Hindi als Nationalsprache Indiens. Aus Sicht ihrer Gegner wollen sie aus dem Vielvölkerstaat mit seiner Vielzahl an Sprach- und Religionsgruppen eine Nation mit einer Sprache, einer Religion und einer Ideologie machen – dem Hindu-Nationalismus (Hindutva). Bei den anderen Sprachgruppen stösst diese Politik auf Widerstand.

Gandhi wirft der BJP einen Angriff auf die Diversität vor

Bei den Parlamentswahlen, die Mitte April begonnen haben und noch bis Anfang Juni dauern, nutzte der indische Oppositionsführer Rahul Gandhi das Thema für einen Angriff auf die Regierung. Modis Bharatiya Janata Party (BJP) verfolge eine Politik von «eine Nation, eine Sprache» und wolle Hindi als alleinige Landessprache durchsetzen, kritisierte der Spitzenkandidat der Kongresspartei Ende April im südindischen Tamil Nadu, wo die Vorbehalte gegen Hindi besonders gross sind. Die Kongresspartei dagegen respektiere die sprachliche Vielfalt Indiens.

Für Modis Partei ist der Vorwurf heikel. Sie hat es bei Wahlen ohnehin schwer, im Süden zu punkten. BJP-Vertreter wiesen den Vorwurf denn auch zurück und warfen Gandhi Lügen vor. Tatsächlich ist die Politik der BJP nicht ganz so klar, wie Gandhi behauptet. BJP-Hardliner wie Innenminister Amit Shah forderten zwar schon wiederholt die Annahme von Hindi als indischer Nationalsprache. Bei Auftritten in Südindien betont Modi aber stets seinen Respekt für die Sprachen der Region.

«Für die BJP ist Hindi eng verbunden mit der Hindu-Identität», sagt der indische Politologe Amit Ranjan vom Institute of South Asian Studies in Singapur. Die Propagierung von Hindi als Nationalsprache werde sie daher niemals aufgeben. Angesichts des verbreiteten Widerstands gegen Hindi betone die BJP aber, dass es ihr nicht darum gehe, die Regionalsprachen zu ersetzen. Ihre Politik richte sich vor allem gegen Englisch, das ihr als Sprache der früheren Kolonialmacht verhasst sei.

Englisch bleibt eine wichtige Verkehrssprache

Auch 77 Jahre nach dem Abzug der Briten spielt Englisch eine zentrale Rolle in Indien. Da es neben Hindi offizielle Amtssprache ist, werden alle Dokumente der Zentralregierung auf Englisch veröffentlicht, zudem ist es neben Hindi eine der zwei Sprachen im Unterhaus in Delhi. Die wichtigsten Zeitungen und Fernsehsender sind auf Englisch ebenso wie die Studiengänge an den besten Universitäten. Gerade in der international vernetzten Wirtschaft und Wissenschaft ist Englisch kaum mehr wegzudenken.

Allerdings gaben im letzten Zensus 2011 lediglich 260 000 Inder Englisch als Muttersprache an, nur 10 Prozent beherrschen es als Zweitsprache. Hindi nannten dagegen 44 Prozent als Muttersprache. Es ist damit die am weitesten verbreitete Sprache Indiens. Laut Ranjan wurden allerdings auch viele Dialekte zu Hindi gezählt, die ebenso gut als eigene Sprache gelten könnten. Ohne diese Dialekte liege der Anteil der Hindi sprechenden Personen in Indien bei rund 25 Prozent.

Hindi ist in acht nordindischen Teilstaaten die dominierende Sprache, darunter Delhi, Bihar, Rajasthan und Uttar Pradesh – mit über 240 Millionen Einwohnern Indiens grösster Teilstaat. Ausserhalb dieses Hindi-Gürtels liegt der Anteil der Hindi sprechenden Bevölkerung bei nur 15 Prozent. Insgesamt werden in Indien Hunderte Sprachen und Dialekte gesprochen, die verschiedenen Sprachfamilien angehören und in einer Vielzahl von Schriftarten geschrieben werden. Nach Hindi sind die wichtigsten Sprachen Bengali, Marathi, Telugu und Tamil.

Heute haben neben Hindi 21 Regionalsprachen einen offiziellen Status. Diese Sprachen sind in den Teilstaaten, wo sie mehrheitlich gesprochen werden, neben Englisch und Hindi als dritte Amtssprache anerkannt. Auch sind sie im Oberhaus, der Vertretung der Teilstaaten, zugelassen.

Schon im 19. Jahrhundert wurde über Hindi gestritten

Der Streit um die Stellung von Hindi reicht weit zurück. Schon in den 1860er Jahren entwickelte sich in den britischen Kolonien in Nordindien eine Debatte darüber, ob Hindi oder Urdu die Amts- und Landessprache sein sollte. Hindi und Urdu sind eng verwandt, da beide aus einem Dialekt in der Region von Delhi entstanden sind. Urdu ist aber stark beeinflusst von Persisch und wird in einer Variante der arabisch-persischen Schrift geschrieben, Hindi dagegen in der Devanagiri-Schrift. Auch enthält Hindi viele Lehnwörter aus dem Sanskrit.

Für die Verfechter von Hindi war sie die Sprache der Hindus, Urdu dagegen die Sprache der muslimischen Herrscher, welche die Hindus und ihre Kultur über Jahrhunderte unterdrückt hätten. Urdu galt den Hindi-Verfechtern wegen der erotischen Dichtkunst als moralisch zweifelhaft und wegen der Nähe zu Arabisch und Persisch als fremd. Hindi wurde dagegen in die Tradition von Sanskrit gestellt und als die ursprüngliche Sprache Indiens präsentiert.

Die Hindu-Urdu-Kontroverse führte im 19. Jahrhundert zu einer starken Polarisierung zwischen Hindus und Muslimen und gilt als Beginn der Spaltung in zwei Nationen, die nach dem Ende der Kolonialzeit zur Teilung in Indien und Pakistan führte. Seit der Unabhängigkeit 1947 ist Urdu die Amtssprache in Pakistan. In Indien gilt Urdu heute als eigene Sprache, obwohl es sich grammatikalisch kaum von Hindi unterscheidet und sich Hindi- und Urdu-Sprecher mühelos verständigen können.

Im Süden sind die Vorbehalte gegen Hindi gross

In Indien wurden Hindi und Englisch in der Verfassung von 1947 nach langer Debatte als gleichberechtigte Amtssprachen festgelegt. Der Status der beiden Sprachen sollte nach 15 Jahren erneut zur Debatte gestellt werden. Als es 1965 so weit war, gab es jedoch in Tamil Nadu und anderen Teilen Südindiens heftige Proteste gegen die Einführung von Hindi als alleiniger Landessprache. Angesichts des zum Teil gewaltsamen Widerstands blieb es bei der geltenden Regelung – bis heute.

Wie brisant die Sprachenfrage ist, zeigte das Beispiel Pakistans 1971, wo der Streit um Urdu ein Grund für die Abspaltung von Bangladesh war. Die Bevölkerung des damaligen Ostpakistans, die vorwiegend Bengali sprach, fühlte sich benachteiligt von der Urdu-sprachigen Elite im Westen. Die bengalischen Nationalisten kritisierten die Diskriminierung ihrer Sprache und Kultur und sagten sich nach einem blutigen Unabhängigkeitskrieg von Pakistan los.

So weit dürfte es in Indien kaum kommen, doch birgt der Sprachenstreit auch politischen Zündstoff. Viele Sprachen wie Tamil, Bengali und Kannada haben eine lange literarische Tradition, weshalb die Personen, die diese sprechen, sie als mindestens gleichwertig mit Hindi sehen. Sie empfinden es als Provokation, wenn die Hindu-Nationalisten Hindi mit Indien gleichsetzen, da dies ihre eigene Sprachen abwertet. Auch fürchten sie praktische Nachteile gegenüber Hindi-Muttersprachlern, sollte Hindi als alleinige Landessprache eingeführt werden.

Der Sprachenstreit hat auch eine soziale Dimension

Modi und seine Partei sind sich der Brisanz des Themas bewusst. «Die BJP weiss, dass es negative Folgen haben wird, wenn sie gewisse rote Linien überschreitet», sagt der Forscher Amit Ranjan. So versucht Modi, Ängste vor einer Dominanz von Hindi zu entkräften, fördert aber zugleich mit Nachdruck die Verbreitung der Sprache. Seit Modis Amtsantritt 2014 wird der Welt-Hindi-Tag am 10. Januar gross begangen. Auch meidet Modi Englisch und spricht vor der Uno, bei Staatsbesuchen und an internationalen Konferenzen konsequent Hindi.

Für Modi, der aus einfachen Verhältnissen stammt, ist Englisch nicht nur die Sprache der Kolonialherren, sondern auch der etablierten Oberschicht. Englisch spricht er nur ungern. Seine Muttersprache ist Gujarati, Hindi hat er nach eigener Auskunft als Teeverkäufer auf der Strasse gelernt. Für ihn ist der Kampf gegen Englisch auch ein Kampf gegen die in Oxford und Cambridge ausgebildeten Eliten. Insofern hat der Streit um Hindi und Englisch auch eine soziale Dimension.

Allerdings gilt Hindi vielen Angehörigen der unteren Kasten selbst als Sprache der Oberschicht. Denn wegen der Nähe zu Sanskrit sehen sie es als Sprache der Brahmanen – der obersten Kaste, die in der BJP und anderen Parteien dominant ist. Gerade im südindischen Tamil Nadu gibt es eine starke Anti-Kasten-Bewegung, welche die Dominanz der Brahmanen kritisiert. Verbunden mit dem Stolz auf die tamilische Kultur erklärt dies die starke Ablehnung von Hindi.

Die Bollywood-Filme wirken als Sprachschule

In Südindien sei die Furcht vor der Dominanz des bevölkerungsreicheren Nordens gross, sagt der Forscher Amit Ranjan. Entsprechend habe es in Tamil Nadu Widerstand gegeben, als die Regierung die Strassenschilder von Englisch auf Hindi geändert habe. Auch die Einführung eines Medizinstudiums auf Hindi führte zu Kritik. Die Regierung wollte damit Studierenden den Zugang erleichtern, die kein Englisch sprechen, doch gab es gar nicht die nötige Fachliteratur auf Hindi.

In den vergangenen Jahrzehnten hätten zwar die Nord-Süd-Migration und die Bollywood-Filme zur Verbreitung von Hindi in Indien geführt, sagt Ranjan. Selbst in Afghanistan verstehen heute viele Leute wegen der Hindi-Filme die Sprache. Aktiv sprechen können sie aber die wenigsten – selbst in Südindien, wo die Vorbehalte dagegen gross bleiben. «Viele sind stolz auf die eigene Sprache und lehnen es ab, Hindi zu sprechen, aus Angst, ihre eigene Identität zu verlieren», sagt Ranjan.

Hindi breite sich aus ökonomischen Gründen sowie durch Filme, Bücher und andere Medien von alleine aus. «Sobald aber die Politik versucht, es den Leuten aufzuzwingen, wird sie auf Widerstand stossen», sagt Ranjan. Dies erklärt auch, warum die BJP in Tamil Nadu so sensibel auf den Vorwurf von Rahul Gandhi reagierte, eine Politik von «eine Nation, eine Sprache» zu verfolgen. Auf den Vorwurf angesprochen, versicherte Modi, ihm sei «jede Sprache in diesem Land heilig».

Modi bemüht sich verstärkt um die Wähler in Südindien

Um auch die Wähler in Südindien zu erreichen, hat die BJP in den letzten Jahren in den sozialen Netzwerken ihre Präsenz auf Regionalsprachen wie Tamil und Kannada ausgebaut. Bei Wahlkampfauftritten bemüht sich Modi, jeweils ein paar Sätze in der jeweiligen Regionalsprache zu sagen. So sprach er sein Publikum in West Bengal auf Bengali an, in Kerala auf Malayalam und in Odisha auf Odia. In Tamil Nadu verwies er seine Zuhörer bei einer Kundgebung zudem auf eine KI-App, die seine Rede von Hindi auf Tamil übersetzte.

Dennoch bleibt die BJP eng verbunden mit Hindi: Es ist ihre bevorzugte Sprache der Kommunikation, und ihre zentralen Wahlkampfslogans sind auf Hindi. Die Hochburgen der BJP liegen im Hindi-Gürtel im Norden, während sie im Süden marginal bleibt. Dass sich bei den jetzigen Wahlen daran etwas ändert, ist nicht zu erwarten. Die BJP mag Hindi noch so oft als Sprache der Einheit propagieren. Für ihre Gegner bleibt die «Hindi, Hindu, Hindutva»-Politik der BJP ein Angriff auf die kulturelle Vielfalt Indiens und die föderale Struktur des Staates.

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