Erlebnisse im Alltag können uns auf den Magen schlagen. Doch es geht auch umgekehrt: Die Bakterien des Darms können das Erleben beeinflussen. Sie nehmen uns die Angst und machen uns zufrieden.
«Wie stark das Gehirn den Magen beeinflusst, wird mir klar, wenn ich die Beurteilung meiner Forschungsanträge abwarte.» Das soll sinngemäss der Forscher Michael Gershon gesagt haben. Für ihn war das flaue Gefühl im Magen, wenn er nervös wurde, auch gleich Forschungsthema. Und er prägte den Ausdruck «das zweite Gehirn» für unseren Darm.
Dabei war damals, in den neunziger Jahren, ein wichtiger Teil dieses zweiten Gehirns noch gänzlich unbekannt, die nützlichen Bakterien, die unseren Darm besiedeln. Heute wissen wir: Nicht nur beeinflusst das Gehirn unseren Darm, es geht auch umgekehrt. Und dabei spielt das sogenannte Mikrobiom – die Bakterien und Viren in unserem Darm – eine wichtige Rolle.
99 Prozent der DNA im Stuhl stammen von Mikroben
Dass Mikroben nicht nur krank machend, sondern auch nützlich sein könnten, vermutete schon Louis Pasteur, einer der Pioniere der modernen Medizin im 19. Jahrhundert. Dabei konnte er nicht ahnen, wie viele Mikroben sich in unserem Körper tummeln. Denn Mikrobiologen untersuchten nur Bakterien, die in der Petrischale überleben. Die Bakterien in unserem Darm aber sterben, sobald sie mit Sauerstoff in Berührung kommen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mischte eine technologische Entwicklung die Methoden der Mikrobiologen auf. Erstmals konnte die Erbinformation in Zellen, die sogenannte DNA, umfassend und schnell analysiert werden. Und so begannen Biologen, auch die DNA im menschlichen Kot zu untersuchen, und waren verblüfft: 99 Prozent des genetischen Materials im menschlichen Stuhl stammen nicht etwa vom Menschen oder von Nahrungsmitteln, sondern von Mikroben! Das warf ein neues Licht auf das «zweite Gehirn» in unserem Körper und war der Beginn einer neuen Ära in der biologischen Forschung.
Das Mikrobiom ist so individuell wie der menschliche Fingerabdruck
Heute wissen wir, 2 bis 3 Kilogramm Mikroben leben allein in unserem Darm, darunter über 1000 verschiedene Bakterienarten. Dabei ist deren Zusammensetzung fast so individuell wie der Fingerabdruck des Menschen. Nur etwa 50 Bakterienarten unseres Mikrobioms teilen wir mit unseren Mitmenschen.
Auch weil das Mikrobiom so unterschiedlich ist, untersuchen Wissenschafter heute kaum mehr die einzelnen Bakterien im Mikrobiom. «Heute konzentrieren wir uns darauf, wie die Verdauungsprodukte der Bakterien auf den Organismus wirken», sagt John Cryan. Er untersucht am University College Cork in Irland die Wirkung des Mikrobioms auf das Gehirn und die Psyche.
«Sterile» Tiere liefern Beweis für Wirkung des Mikrobioms
Für den Neurowissenschafter Cryan ist klar: Ohne die Mikroben geht es uns schlecht. Darauf lassen mindestens Studien an Mäusen schliessen. Anders als beim Menschen kann Cryan hier den Einfluss der Mikroben auf das Gehirn direkt manipulieren. Er verwendet dafür sterile, also keimfreie Tiere.
Diese Tiere werden per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht, damit sie nicht mit den Bakterien im Geburtskanal in Kontakt kommen. Später werden sie dann in einer komplett keimfreien Umgebung gehalten. Ihr Körper ist dadurch frei von Mikroorganismen, und auch der Darm der Tiere ist komplett steril. Was sauber klingt, führt zu grossen Problemen.
Die Tiere verhalten sich auffällig. Sie meiden ihre Artgenossen und werden nervös. Ob ihnen auch flau im Magen wird, das wissen wir zwar nicht. Doch klar messbar ist, dass die Tiere in Experimenten schneller Angst bekommen und langsamer lernen als andere Mäuse.
Füttert man die sterilen Tiere mit Bakterien, sogenannten Probiotika, so werden sie mutiger und lernfähig. Mehr noch: Wird bei diesen Tieren die Signalübertragung zwischen den Nerven in der Darmwand und dem Gehirn unterbrochen, so werden die Tiere wieder so ängstlich wie zuvor. Es ist der Beweis, dass die Mikroben über das Nervensystem im Darm einen Einfluss auf das Gehirn und damit auf das Verhalten der Tiere nehmen.
Ohne Mikrobiom reift das Gehirn der Mäuse nicht
Ganz wie die natürlich gehaltenen Artgenossen werden die sterilen Tiere allerdings nicht, wenn ihr Darm später im Leben mit Mikroben besiedelt wird. Denn ohne Mikroben aufzuwachsen, hat eine anhaltende Wirkung auf die Anatomie ihrer Gehirne.
Die Nervenzellen im Gehirn sehen anders aus, und es entstehen insgesamt weniger davon. Vor allem aber führt das Fehlen der Mikroben dazu, dass das Gehirn der Tiere weniger gut gegen schädliche Substanzen geschützt ist: Die Immunzellen des Gehirns, die sogenannten Mikroglia, sind nicht ausgereift.
Erst wenn die Tiere mit Fettsäuren gefüttert werden, die normalerweise durch die Bakterien im Darm entstehen, reifen die Mikroglia des Gehirns weiter heran. Doch die Nervenzellen erholen sich nicht.
Nun sind Mäuse keine Menschen, und kaum ein Mensch wächst in komplett steriler Umgebung auf. Ob auch beim Menschen ein Zusammenhang zwischen den Darmbakterien und unserer Psyche besteht, das untersuchte die Psychologin Elizabeth Phelps an der Harvard-Universität in den USA.
Wer zu Angst neigt, hat ein charakteristisches Mikrobiom
In ihren Experimenten mutete die Wissenschafterin den Versuchspersonen einiges zu: Sie sahen auf dem Bildschirm abwechselnd ängstliche und fröhliche Gesichter. Immer wenn ein ängstliches Gesicht erschien, erhielten die Versuchspersonen zusätzlich einen leichten Stromschlag am Handgelenk.
Mit der Zeit waren die Versuchspersonen schon alarmiert, sobald sie die ängstlichen Gesichter sahen. Sie begannen zu schwitzen, und die elektrische Leitfähigkeit der Haut veränderte sich.
Übrigens mussten die Wissenschafter die Wirkung dieser Angstkonditionierung nach dem Experiment wieder rückgängig machen. So sehen es die Regeln der Ethikkommission vor. Für die Dekonditionierung präsentierten die Forscher den Probanden die ängstlichen Gesichter mehrfach ohne Stromschlag.
Nicht alle Versuchspersonen belastete dieses Experiment gleich stark. Wer eher ängstlich veranlagt war, der lernte den Zusammenhang zwischen den Gesichtern und dem Stromschlag schneller und begann auch schneller zu schwitzen.
Diese ängstlichen Probanden hatten auch ein anderes Mikrobiom als die weniger ängstlichen Kollegen. An einzelnen Bakterien liess sich dies allerdings nicht festmachen. Dazu ist das Mikrobiom zu vielfältig.
Unklar bleibt in der Studie der Harvard University, ob die ängstlichen Menschen – aus was für Gründen auch immer – ein charakteristisches Mikrobiom hatten oder ob das charakteristische Mikrobiom die Probanden ängstlicher machte.
Psychobiotische Diät reduziert den Stress
Dass wir über die Veränderung des Mikrobioms unser Erleben beeinflussen können, das möchte der Neurowissenschafter Cryan zeigen. Er propagiert dafür die sogenannte «psychobiotische Diät»: Diese besteht aus viel Ballaststoffen, wenig raffiniertem Zucker, allenfalls aus fermentierten Nahrungsmitteln. Denn je mehr Ballaststoffe ein Mensch zu sich nimmt, desto vielfältiger wird sein Mikrobiom.
Dass dies eine gesunde Art der Ernährung sein kann, ist unbestritten. Die Ballaststoffe, auch Prebiotika genannt, ernähren die Bakterien im Darm, die sie in flüchtige Fettsäuren umwandeln. Die Fettsäuren regulieren wiederum den Blutzucker und sind entzündungshemmend. Auch schützen sie die Darmwand und dadurch den ganzen Körper vor Giftstoffen. Aber beeinflussen sie auch die Psyche?
Im letzten Jahr legten Cryan und sein Team eine neue Studie im Fachjournal «Nature Molecular Psychiatry» vor, die einen Effekt der psychobiotischen Diät auf die Psyche zeigt. Die Versuchspersonen mussten als Teil ihrer Ernährung vier Wochen lang viele Ballaststoffe zu sich nehmen.
Je strikter sich die Versuchspersonen an die Vorgaben hielten, desto weniger gestresst fühlten sie sich danach. Noch mahnen die Autoren selbst zu einer vorsichtigen Interpretation ihrer Ergebnisse. Die Studie war kurz und die Effekte gering. Doch wer sich häufig gestresst fühlt, für den könnte es einen Versuch wert sein. Mit etwas mehr Gemüse in der nächsten Mahlzeit könnte man nicht nur die nützlichen Mikroben im Darm ernähren, sondern auch seiner Psyche etwas Gutes tun.