Freitag, August 22

1941 griff Deutschland die Sowjetunion an. Für den Historiker Jochen Hellbeck begann damit Hitlers eigentlicher Krieg: der Kampf gegen den «jüdischen Bolschewismus».

Wladimir Putin bemüht immer wieder den «Grossen Vaterländischen Krieg» der Sowjetunion gegen das nationalsozialistische Deutschland als patriotisches Vorbild. Es dient ihm als Rechtfertigung für den imperialen Krieg, den er führt. Jochen Hellbeck nimmt in seinem Buch «Ein Krieg wie kein anderer» das Gedenken an den Krieg gegen Hitler-Deutschland und dessen Instrumentalisierung auf. Mit dem Anspruch, es in einem entscheidenden Punkt zurechtrücken.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Er kritisiert, dass die entscheidende Rolle nicht gewürdigt werde, welche die Sowjetunion beim Sieg über den Nationalsozialismus spielte. Dabei versäumt er allerdings zu sagen, welchen Anteil an diesem Sieg die heutige Ukraine als Teil der ehemaligen Sowjetunion für sich verbuchen darf. Und lässt unerwähnt, wie Putins Versuch, die nationale Eigenständigkeit der Ukraine zu unterdrücken, damit in Zusammenhang steht.

Der deutsche Osteuropahistoriker fordert zu einer Revision des Geschichtsbilds auf. Seiner Ansicht nach haben sich die Historiker bei der Erklärung des Vernichtungsdrangs der Nationalsozialisten zu sehr auf die Vorgeschichte des Antisemitismus in Deutschland konzentriert. Die Fokussierung auf den Aufstieg Hitlers und der NSDAP und auf die schrittweise Radikalisierung der Herrschaft bis zum Massenmord an den Juden verschleiere die zentrale Bedeutung der sowjetischen Juden in der Vorstellungswelt der Nationalsozialisten.

«Vorsätzliche Verdrängung»

Hellbeck möchte «der herrschenden Amnesie und der vorsätzlichen Verdrängung entgegenwirken und der UdSSR den ihr gebührenden Platz in der Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs und im Kampf gegen den Nationalsozialismus zurückgeben». Nicht der Antisemitismus, sondern der «Kreuzzug gegen den ‹jüdischen Bolschewismus›» wird in seiner Darstellung zur treibenden Kraft des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges.

Dies stellt die bisher in der Holocaust-Forschung konsensfähige Grundthese infrage, dass die Nationalsozialisten ihren Hass von Anfang an gegen die Juden gerichtet hätten. Von dieser Argumentation aus ist es nicht weit zur Auffassung, dass «der enge Zusammenhang, den die Deutschen zwischen den Juden, Russland und Asien hergestellt hatten, [. . .] nach dem Überfall auf die Sowjetunion bis zur Ununterscheidbarkeit» verschmolzen sei.

Hellbecks Analyse besticht durch eine souveräne Beherrschung der Quellen. Zu seinen grossen Stärken zählt, dass er in russischen Archiven eine Vielzahl bisher unbekannter Quellen erschlossen hat, zu Zeiten, als dies noch möglich war. Er verfügt zudem über die Gabe, diese Zeugnisse erzählerisch stringent in eine bestechende Analyse einzuordnen. Das Buch ist über weite Strecken ein Lesevergnügen. Doch seinen Anspruch, das Geschichtsbild zu revidieren, kann der Autor nicht einlösen.

«Brutalität, Greuel, Tod»

Unser Wissen über das Ausmass der Verbrechen, von denen auch der russische Schriftsteller und Kriegskorrespondent Ilja Ehrenburg berichtet hat, ist in den vergangenen Jahren stark erweitert worden. Ehrenburgs Formulierung, die Faschisten hätten in ihrem Gepäck «den Kult der Gewalt, Brutalität, Greuel, Tod» geführt, hat sich auf beklemmende Weise bestätigt.

Beim Vormarsch durch die verwüsteten Gebiete Weissrusslands und Ostpolens stiessen die sowjetischen Truppen im Juli 1944 zum ersten Mal auf ein Vernichtungslager. In Majdanek fanden sie Tausende völlig entkräftete Häftlinge vor. Die Speicher des Lagers waren voll von Handtaschen und Kinderspielzeug, mit detaillierten Bestelllisten von Kinderkleidung für die ausgebombte Bevölkerung in Deutschland. Die Asche der getöteten Menschen wurde verwendet, um die Felder zu düngen.

Liegt Hellbeck mit seiner Sichtweise richtig, dass der Beweggrund dafür der Kampf gegen den Kommunismus gewesen sei? Bei Hitlers Entscheidung, im Juni 1941 die Sowjetunion anzugreifen, waren mehrere Motive ausschlaggebend, die alle aktenkundig sind: die Gewinnung von neuem Siedlungsraum für Deutschland, die «Unterwerfung der slawischen Masse», die «industriell-agrarische Absicherung eines kontinentaleuropäischen Grossraums». Das Hauptmotiv aber war, wie Hitler sich ausdrückte, die «Ausrottung der jüdisch-bolschewistischen Führungsschicht».

Der Weg zu Antibolschewismus

Die Vernichtung von Juden durch Spezialeinheiten der SS setzte unmittelbar nach dem 22. Juni 1941 ein. Der Rassenfanatismus war ein entscheidender Bestandteil von Hitlers aussenpolitischem Programm. Schon in «Mein Kampf», das 1925 erschienen war, hatte Hitler die «Entfernung der Juden» als politisches Ziel genannt. Und bereits 1919 hatte er in einem Brief künftige Pogrome gegen Juden angedeutet.

Hellbeck verkürzt Hitlers Weg zum Antibolschewismus auf unzulässige Weise, indem er die Geschichte des Antisemitismus vor 1933 auf den einen politischen Feind, den Kommunismus, zulaufen lässt. Schon vor Kriegsbeginn war Hitler auch auf den Zusammenhang zwischen Krieg und Judenvernichtung zu sprechen gekommen, etwa in der Reichstagsrede vom 30. Januar 1939.

Die durch den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 geschlossene vorübergehende Allianz zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der kommunistischen Sowjetunion thematisiert Hellbeck nicht in der grundlegenden Bedeutung, die sie sowohl für Stalin wie für Hitler hatte. Es waren das Münchner Abkommen von 1938 und die Interpretation der britischen Appeasementpolitik als Versuch, Hitler auf Kosten des Ostens zu kompensieren, die Stalin zu seinem aussenpolitischen Entgegenkommen motiviert haben.

Hitlers «allermerkwürdigster Ausspruch»

Das geheime Zusatzprotokoll zum Pakt und die zwischen den Aussenministern Molotow und Ribbentrop im November 1940 getroffenen Absprachen auf Kosten der Unabhängigkeit des Baltikums, Polens und Südosteuropas gehören wesentlich zur Vorgeschichte des Krieges im Osten. Hitlers Blitzkrieg-Strategie war letztlich ein System der Aushilfen, denn er hätte gerne den Waffengang gegen seinen Wunschpartner Britannien vermieden.

Hellbeck zitiert zu Recht Hitlers «allermerkwürdigsten Ausspruch» gegenüber dem Danziger Völkerbundshochkommissar Carl Jacob Burckhardt vom August 1939: «Alles, was ich unternehme, ist gegen Russland gerichtet», soll Hitler damals gesagt haben, und weiter: «Wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden».

Hellbeck versäumt es aber, die im Sommer 1940 getroffene Entscheidung zum Angriff auf die Sowjetunion in den Kontext von Hitlers Kriegsstrategie zu setzen, und auch das strategische Kalkül Stalins bleibt unterbelichtet. In seiner Fixierung auf den «Lebensraum im Osten» war der Ostkrieg schon früh ein eindeutiges Ziel Hitlers. Seinem italienischen Verbündeten Mussolini erteilte er deswegen im Dezember 1942 eine Absage auf den Vorschlag eines Brest-Litowsk-Friedens, und Stalins Avancen für einen separaten Friedensschluss liess er ohne Antwort.

Sowjetische Gründungslegende

Doch man kann den Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion nicht ganz losgelöst von den anderen Kriegsschauplätzen erzählen. Dies betrifft sowohl die Rolle der Verbündeten der Hitler-Koalition beim Ostfeldzug wie das Ringen innerhalb der Anti-Hitler-Koalition um die zweite Front zur Entlastung der Roten Armee. Dort war das gegenseitige Misstrauen der ungleichen Verbündeten so ausgeprägt, dass Stalin an der alliierten Kriegskonferenz zwischen Roosevelt und Churchill im Januar 1943 in Casablanca gar nicht teilnahm.

Die Instrumentalisierung des «Grossen Vaterländischen Krieges» als Gründungslegende für den modernen sowjetischen Staat hat Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion in einen Nebel getaucht. Hellbecks beeindruckende Recherchen erweitern das Wissen um dieses Zentralereignis des 20. Jahrhunderts in wesentlichen Punkten und lassen die historische Bedeutung dieses Krieges besser verstehen. Russlands Invasion in der Ukraine 2022 und Putins Versuch, mit dem Geschichtsdenken auch die ukrainische Nation zu tilgen, zeigen, wie wichtig diese Aufgabe ist.

Jochen Hellbeck: Ein Krieg wie kein anderer: Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Eine Revision. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2025. 688 S., Fr. 45.90.

Exit mobile version