In Grossbritannien macht sich strafbar, wer einen schwerkranken Angehörigen in den Suizid begleitet. Eine Mehrheit der Bevölkerung will die Sterbehilfe nun legalisieren – aber Politiker und Experten tun sich schwer.
«Going to Switzerland» ist in Grossbritannien eine mehrdeutige Aussage. Man hört sie als unverfängliche Bemerkung aus dem Mund von Touristen, die in den Alpen ihre Skiferien verbringen. Gebraucht wird die Redewendung aber auch von Britinnen und Briten, die in der Schweiz die Dienste der Organisation Dignitas in Anspruch nehmen.
Gemäss Schätzungen fährt jede Woche eine Person von Grossbritannien in die Schweiz, um sich dort das Leben zu nehmen. Anders als in vielen europäischen Ländern, wo der assistierte Suizid nur für Einheimische zulässig ist, können in der Schweiz finanzkräftige Ausländer relativ einfach Sterbehilfe erhalten. In Grossbritannien hingegen ist die Sterbehilfe ganz verboten und kann mit einer Maximalstrafe von 14 Jahren Gefängnis geahndet werden.
Verfahren gegen Angehörige
Eine neue Gesetzesvorlage, die am Freitag erstmals im Unterhaus beraten wird, soll nun dafür sorgen, dass unheilbar kranke Briten unter strengen Bedingungen auch im eigenen Land legal in den Freitod begleitet werden können. Das Thema dominiert die innenpolitische Berichterstattung in den Medien seit Wochen. Ärzte, Geistliche und Patienten haben sich in die moralisch aufgeladene Debatte eingeschaltet. Sowohl die Labour-Regierung wie auch die konservative Opposition haben Stimmfreigabe erklärt, was das Resultat der Abstimmung im Unterhaus schwer vorhersehbar macht.
Trevor Moore kämpft schon seit Jahren für eine Legalisierung der Sterbehilfe. Der Anwalt ist Vorsitzender der Organisation My death, my decision. Im Gespräch erzählt er von seiner Schwiegermutter, die an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt sei und an spinaler Stenose gelitten habe. Sie sei für die Fahrt in die Schweiz zu krank gewesen. Daher habe sie sich zu Tode hungern müssen, um ihr Leiden zu beenden.
Bis 1961 war in Grossbritannien der Suizid ein Delikt, weshalb im Gefängnis landete, wer einen Selbstmordversuch überlebte. Dann wurde der Freitod entkriminalisiert, aber dafür die Beihilfe dazu unter Strafe gestellt. Laut Moore sind Verurteilungen wegen Sterbehilfe heute zwar sehr selten geworden. Wer aber einen Angehörigen zum Freitod in die Schweiz begleite, müsse sich nach seiner Rückkehr oft Fragen der Polizei stellen oder sich gar mit einer strafrechtlichen Untersuchung herumschlagen.
Für Aufsehen sorgte unlängst der Fall einer Anthropologin, die nach ihrer Rückreise nach Grossbritannien elf Stunden in einer Zelle festgehalten wurde und eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen musste. Sie hatte eine am ganzen Körper gelähmte Frau in die Schweiz zum Freitod begleitet.
Enge Schranken
Das Gesetzesprojekt, das nun im Unterhaus zur Debatte steht, soll den Angehörigen solche Erlebnisse und den Sterbenskranken die Fahrt in die Schweiz ersparen. Die Vorlage wurde von der Labour-Hinterbänklerin Kim Leadbeater im Rahmen einer parlamentarischen Initiative eingebracht. Da 2015 der letzte Versuch zur Legalisierung der Sterbehilfe gescheitert war, hat sie die Kriterien ihres Gesetzesentwurfs sehr eng gefasst.
Legalisiert würde die Sterbehilfe nur für unheilbar kranke Personen, deren Lebenserwartung weniger als sechs Monate beträgt. Erforderlich wäre, dass zwei Ärzte dies bescheinigen und feststellen, dass die Person einen klaren und freien Willen zum Suizid bekundet – ohne äusseren Druck und Zwang. Darüber hinaus soll ein Richter am High Court begutachten, ob der Sterbewunsch dem freien Willen der Person entspringt – was allerdings die Engpässe in der britischen Justiz zu verstärken droht.
Trotz diesen Schutzklauseln äussern die Gegner der Vorlage Befürchtungen von Missbrauch. Gesundheitsminister Wes Streeting erklärte, Aufgabe des Staates sei es, die Palliativmedizin innerhalb des Nationalen Gesundheitsdienstes auszubauen, und nicht, alte Leute in den Tod zu treiben. Auch Justizministerin Shabana Mahmood, die ranghöchste Muslimin in der britischen Politik, stellt sich aus moralischen Gründen gegen die Sterbehilfe – ganz ähnlich wie strenggläubige Christen aufseiten der Konservativen.
Justin Welby, der Erzbischof von Canterbury und das spirituelle Oberhaupt der anglikanischen Kirche, warnte eindringlich vor den Folgen einer Legalisierung. So könnten sich alte Menschen zum Suizid gedrängt fühlen, da sie ihren Angehörigen und dem Gesundheitswesen nicht zur Last fallen wollten. Zudem drohe später eine Ausweitung der Gesetzgebung auf Personen, die nicht unheilbar krank seien. Oder gar auf Kinder, wie dies teilweise in anderen europäischen Ländern zu beobachten gewesen sei.
Tabuisierung des Tods
In Europa, Nordamerika, Australien oder Neuseeland gibt es viele Regelungen zur legalen Sterbehilfe. Gemäss Umfragen befürworten auch zwei Drittel der britischen Bevölkerung eine Legalisierung. Dennoch tut sich Grossbritannien seit Jahren schwer mit der Debatte. In den letzten Wochen schienen in den Medien eher die Gegner der Vorlage die Oberhand zu haben.
Grossbritannien gilt in gesellschaftspolitischen Fragen nicht als besonders konservativ. Die Ehe für Homosexuelle ging 2013 geräuschlos über die Bühne. In der Drogenpolitik aber verfolgt Grossbritannien einen sehr restriktiven Ansatz. Die anglikanische Kirche spielt in der Politik bis heute eine aktive Rolle. Darüber hinaus konstatiert Trevor Moore eine gesellschaftliche Tabuisierung des Todes, welche die Ängste vor der Sterbehilfe verstärke.
Einen wenig entschlossenen Eindruck hinterliess Premierminister Keir Starmer. Er verpflichtete seine Labour-Regierung zur Neutralität und drückte sich um eine Stellungnahme, liess aber zu, dass manche seiner Minister für die Vorlage Partei ergriffen und manche dagegen. Bei der politischen Frage, die im Land derzeit die höchsten emotionalen Wellen wirft, wirkte Starmer daher nicht wie ein Steuermann, sondern wie ein Getriebener der Ereignisse.