Montag, November 25

Männer entwickeln wegen Stress im Job eher Herz-Kreislauf-Krankheiten als Frauen. Warum es aber nicht reicht, nur am Arbeitsplatz den Stress zu reduzieren.

Arbeiten ist für Männer offenbar gefährlicher als für Frauen. Sind Männer am Arbeitsplatz gestresst, so eine Studie aus Quebec mit 6465 Büroangestellten, haben sie ein höheres Risiko für eine koronare Herzkrankheit und Herzinfarkte. Und dies unabhängig davon, ob sie rauchen, zu hohen Blutdruck oder Fettstoffwechselstörungen haben oder zu wenig Sport treiben – alles bekannte Risikofaktoren. Stress bedeutete in der Studie: hohe Anforderungen mit wenig Entscheidungsspielraum und kaum Lob für die erbrachte Leistung.

«Stress als Risikofaktor wird zu wenig beachtet», sagt Christian Schmied, leitender Kardiologe am Unispital Zürich und Spezialist für Präventive Kardiologie. Das Wort habe immer noch eine positive Konnotation, findet er. «Wenn jemand sagt, er habe Stress im Job, heisst das auch, er hat viel zu tun und ist erfolgreich. Wenn jemand dagegen raucht oder keinen Sport macht, ist das gesellschaftlich verpönt.» Abgesehen davon könne man Stress nicht objektiv messen wie den Blutdruck oder Cholesterinwerte. «Hätten die Menschen einen Grenzwert vor Augen, ab wann Stress gesundheitsschädlich ist, würden sie vielleicht eher darauf achten.»

Beschleunigte Arteriosklerose

Durch Stress werden unter anderem Stresshormone ausgeschüttet, was eine chronische Entzündungsreaktion auslöst, die dann zu einer beschleunigten Arteriosklerose führt. Die Stoffwechselwerte verändern sich ungünstig, und im Gehirn arbeitet der Mandelkern aktiver. Das ist der Bereich, der zuständig ist, um Emotionen zu verarbeiten und mit Stress umzugehen. Die Aktivierung des Mandelkerns soll ebenfalls zur Entzündung beitragen.

Die neue Studie stamme zwar aus Kanada, sei aber auf die Schweiz und auf Deutschland durchaus übertragbar, sagt Nora Dietrich, Psychotherapeutin in Berlin. «Alle drei Länder haben westlich geprägte Arbeitsphilosophien.» Dietrich berät unter anderem grosse Unternehmen wie Mercedes Benz oder Ikea, wie sie die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter verbessern können, und coacht deren Mitarbeiter. «Der gesellschaftliche Druck, ‹seinen Mann zu stehen›, führt dazu, dass der Mann Frühwarnzeichen für Stress ignoriert», sagt sie.

Stress am Arbeitsplatz entsteht gemäss zwei soziologischen Modellen entweder durch ein Ungleichgewicht zwischen Leistung und Belohnung oder durch viel berufliche Belastung mit zu wenigen Entscheidungsmöglichkeiten. Die Forscher aus Quebec haben nun gezeigt, dass sich die beiden Faktoren addieren: Männer, die nur «Ungleichgewicht» oder nur «Belastung ohne Entscheidungsmöglichkeiten» ausgesetzt waren, hatten jeweils ein anderthalb Mal so grosses Risiko für koronare Herzkrankheit und Herzinfarkt. Hingegen hatten die, die unter beiden Umständen litten, ein doppelt so hohes. «Es ist offenbar die Kombination, die sich besonders negativ auswirkt», sagt Johannes Siegrist, emeritierter Professor für Medizinsoziologie der Uni Düsseldorf, der das «Ungleichgewicht-Modell» im Jahr 1996 aufgestellt hat.

In der Studie aus Quebec war das Risiko für Frauen im Schnitt nicht erhöht. Dies könnte daran liegen, dass einige Frauen Hormone wegen Wechseljahrbeschwerden genommen haben – diese bieten einen gewissen Schutz. Hierzu passt, dass in der Studie halb so viele Herz-Kreislauf-Krankheiten bei Frauen auftraten. Hätte die Studie bis nach den Wechseljahren gedauert, hätten sie vielleicht auch öfter Herzinfarkte oder Schlaganfälle bekommen. Möglicherweise seien die Männer auch mehr Stressoren ausgesetzt gewesen, sagt Siegrist, etwa weil mehr von ihnen Vollzeit arbeiteten. «Oder es liegt am Charakter», spekuliert er. «Vielleicht stresst es Männer mehr, wenn sie kein Lob bekommen oder nichts entscheiden dürfen.»

«Vielleicht stresst es Männer mehr, wenn sie kein Lob bekommen oder nichts entscheiden dürfen.»

Arbeitgeber müssen für ein möglichst stressfreies Arbeitsumfeld ihrer Mitarbeiter sorgen. «Wer sich im Job extrem gestresst fühlt und dann einen Herzinfarkt bekommt, kann aber nicht automatisch den Arbeitgeber dafür verantwortlich machen», sagt Alfred Blesi, Rechtsanwalt in Zürich. Es müsse erst bewiesen werden, dass der Arbeitgeber seine Pflichten verletzt habe und dass der Herzinfarkt deshalb entstanden sei. Da es aber noch andere Ursachen gebe, dürfte dies äusserst schwierig sein. Blesi rät jedem Arbeitnehmer, stressbedingte Überlastung zu melden. «Die übermässige Belastung muss für den Arbeitgeber erkennbar oder vorhersehbar sein. So kann man gemeinsam Massnahmen zur Stressreduktion treffen.»

Fünf Minuten aus dem Fenster starren

Forscher aus Melbourne haben kürzlich 80 Studien zur Stressreduktion am Arbeitsplatz ausgewertet. Ihr Fazit: Achtsamkeitstraining, Aufklärung und Information der Mitarbeiter sowie individuelle psychologische Behandlungen – etwa kognitive Verhaltenstherapie – können etwas bewirken. Eine andere Arbeitsgruppe aus Quebec zeigte kürzlich, dass nach einem individuell auf die Firma zugeschnittenen Stressreduktionsprogramm, das gezielt die bekannten Belastungsfaktoren anging, der durchschnittliche Blutdruck der Mitarbeiter sank und weniger von ihnen Bluthochdruck hatten – ein wichtiger Risikofaktor für Herzinfarkt und Schlaganfall.

Jeder könne zudem selbst etwas tun, sagt die Psychotherapeutin Dietrich. Möglichkeiten im Job gebe es viele: «Ein achtsam getrunkener Kaffee, fünf Minuten aus dem Fenster starren und die Gedanken vorbeiziehen lassen, tiefe Bauchatmung oder ein Spaziergang, um die Anspannung zu reduzieren – was uns guttut und regeneriert, ist sehr individuell.» Stressreduktion allein bringt aber wenig, wenn man weiterhin raucht, keinen Sport treibt und sich nicht um Blutdruck und Cholesterin kümmert.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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