Mittwoch, Januar 15

Mit dem Einsatz von mehr als 200 Drohnen gleichzeitig haben die Truppen Kiews die gegnerische Flugabwehr überrumpelt. Eine Reihe von russischen Industrieanlagen gerieten in Brand.

Das ukrainische Militär hat in der Nacht auf Dienstag eine ungewöhnlich heftige Serie von Drohnen- und Raketenangriffen auf Ziele im russischen Hinterland ausgeführt. Zum Einsatz kam dabei nach Angaben russischer Militärblogger auch ein neuartiger Drohnentyp, den die Ukrainer erst im Dezember vorgestellt hatten. Er trägt den Namen Peklo, das ukrainische Wort für «Hölle». Der Generalstab in Kiew sprach vom bisher massivsten Schlag gegen militärische Objekte des Gegners.

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Nimmt man die Zahl der eingesetzten Flugkörper zum Massstab, trifft dies zu: Mit mehr als 200 Langstreckendrohnen – eine Zahl, die in russischen wie auch ukrainischen Quellen genannt wird – und mit Treffern in mindestens sieben russischen Provinzen handelt es sich um den bisher grössten Luftangriff der Ukrainer. Videos von den zerstörerischen Folgen verbreiteten sich sofort im Internet, unter anderem vom Brand einer Erdölraffinerie in der Stadt Saratow:

Die Russen selber haben bisher noch nie so viele Langstreckendrohnen aufs Mal eingesetzt. Sie stellten im November einen Rekord mit angeblich 188 Drohnen in einer Nacht auf. Allerdings hinkt ein solcher Vergleich, da Moskau die Angriffe mit den berüchtigten Shahed-Drohnen meist mit noch schlagkräftigeren Waffen kombiniert, vor allem ballistische Raketen und Marschflugkörper. Dabei haben die Drohnen die Aufgabe, die Flugabwehr abzulenken und so den nachfolgenden Raketen grössere Trefferchancen zu verschaffen – oftmals mit verheerenden Auswirkungen.

Mischung von westlichen und ukrainischen Waffen

Eine solche Kombination hat nun auch die Ukraine versucht. Laut russischen Angaben kamen in derselben Nacht mindestens sechs amerikanische Atacms-Raketen und mehrere Marschflugkörper des britischen Typs Storm Shadow zum Einsatz. Die Verwendung solcher weitreichender Waffen – die Atacms fliegen bis zu 300 Kilometer weit – gegen Ziele im Innern Russlands ist erst seit dem vergangenen November möglich. Damals hatte der amerikanische Präsident Joe Biden sein Veto gegen solche Einsätze zurückgezogen. Russland übte danach Vergeltung mit dem Ersteinsatz einer neuartigen Mittelstreckenrakete, und Bidens neugewählter Nachfolger Donald Trump erwägt, den Ukrainern diese Möglichkeit wieder zu entziehen.

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Kiew unbeirrt weiter mit westlichen Lenkwaffen innerhalb Russlands angreift. Beschränkt werden solche Einsätze einzig durch die viel zu geringe Verfügbarkeit solcher Waffen. Experten gehen davon aus, dass Kiew derzeit nur noch eine zweistellige Zahl von Atacms-Raketen besitzt. Das verringert ihre militärische Bedeutung erheblich.

Wichtige Fabriken im Visier

Wichtiger sind deshalb weiterhin die Langstrecken-Drohnen, von denen die Ukraine seit 2024 mehrere Eigenentwicklungen mit Erfolg einsetzt. Auch diesmal mussten die Russen herbe Schläge hinnehmen. Die jüngste Angriffswelle richtete sich gegen Anlagen in mindestens sieben russischen Regionen, auf Distanzen von 200 bis 1100 Kilometern. Das am weitesten entfernte Ziel befand sich in der Republik Tatarstan an der Wolga. Dort wurde ein Lager für Flüssiggas getroffen, mindestens eine Gas-Zisterne geriet in Brand.

Auf dem Militärflughafen Engels in der Provinz Saratow schossen die Ukrainer ein Treibstofflager in Brand. Für die Russen ist dieser Fall besonders bitter, da in diesem Depot schon ein früherer Angriff am 8. Januar ein Inferno ausgelöst hatte, da erst nach fünf Tagen endete. Nun geht die Zerstörung weiter, wie die lodernden Flammen auf dem untenstehenden Video zeigen. Das Feuer konnte bis zum Dienstagabend nicht gelöscht werden.

In der betreffenden Anlage soll Flugzeugtreibstoff für russische Langstreckenbomber gelagert sein. Diese fliegen vom Stützpunkt Engels aus regelmässig Einsätze gegen die Ukraine.

Weitere ukrainische Drohnenangriffe der jüngsten Welle richteten sich gegen Chemie- und Metallfabriken. Es soll sich um Anlagen handeln, die den russischen Rüstungssektor beliefern. Der Gesamtschaden lässt sich derzeit nicht abschätzen. So spektakulär die ukrainischen Angriffe der letzten Monate sind, haben sie keinen erkennbaren Effekt auf das Geschehen an der Kriegsfront. Es ist zwar anzunehmen, dass die Explosion von Munitionslagern oder Treibstoffdepots den Russen logistische Probleme bereiten und gewisse Operationen erschweren. Aber die Truppen des Kremls beschleunigten in den letzten Monaten gleichwohl ihren Vormarsch und erzielten erhebliche Geländegewinne.

Messbar sind die Auswirkungen des ukrainischen Drohnenkrieges am ehesten im Energiesektor. 2024 erfolgten laut dem russischen Dienst der BBC insgesamt 31 Angriffe auf russische Erdölraffinerien und mehrere Dutzend weitere auf Treibstofflager. Dadurch sollen gut zwölf Prozent der Raffinerie-Kapazitäten ausgefallen sein. Moskau verhängte ein Verbot für den Export von Erdölprodukten wie Benzin und Diesel, um den Preis im Inland zu stabilisieren. Trotzdem verteuerte sich Benzin im Laufe eines Jahres um elf Prozent. Das ist keine Katastrophe für das Putin-Regime, aber eine für die Bevölkerung schmerzhafte Entwicklung.

Die ukrainischen Drohnenangriffe sind noch in einer weiteren Hinsicht bedeutsam. Sie führen dem Kreml vor Augen, dass Kiew die Fähigkeit zu heftigen Schlägen im russischen Hinterland hat. Dem steht Moskau weitgehend machtlos gegenüber – allen Anstrengungen zum Trotz gelang es den Russen nie, die gegnerische Rüstungsindustrie zu zerstören. Im Gegenteil schaffen es die Ukrainer, immer neue Waffenentwicklungen ins Feld zu führen.

Diese Situation sorgt für einen gewissen Anreiz, irgendwann einen Ausgleich mit der Ukraine zu suchen. Denn das Risiko, regelmässig Schäden an strategisch wichtigen Industrieanlagen zu erleiden, ist auf lange Sicht eine zu grosse Hypothek auf der russischen Wirtschaft.

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