In der syrischen Hauptstadt brodelt es. In der syrischen Hauptstadt mischen sich Freude und Angst. Die islamistischen Rebellen versprechen, bald eine Regierung zu präsentieren.
Mohammed und Mohammed schlendern durch die Altstadt von Damaskus. Immer wieder halten sie an und machen Fotos. Die beiden Männer mit demselben Vornamen stammen eigentlich aus Homs, einer Provinzstadt im Norden Syriens. Aber am Sonntag haben sie sich ins Auto gesetzt und sind in die Hauptstadt gefahren. «Wir kamen als Touristen», sagt einer von ihnen lachend. «Wir wollten uns das alles sofort anschauen.»
Beide sind glücklich. Sie hätten lange auf diesen Moment gewartet, sagen sie – und wollen sofort ein Foto mit den ausländischen Besuchern. Als könnten sie kaum glauben, dass ihr Heimatland plötzlich nicht mehr dasselbe ist. Vor achtundvierzig Stunden herrschte in Damaskus noch das Regime von Bashar al-Asad. Jetzt ist der Diktator, der sich nach 2011 mit Fassbomben und Giftgas gegen den Machtverlust im Zuge des Arabischen Frühlings gewehrt hatte, geflohen. Seine Sicherheitsdienste sind verschwunden – und Syrien ist mit einem Mal frei.
Der Anführer der Islamisten zeigt sich in der Moschee
Was wird jetzt aus diesem Land, das so lange unter der blutigen Herrschaft der Asad-Dynastie litt? Auf den ersten Blick herrscht im historischen Zentrum von Damaskus fast schon sonntägliche Stimmung: Die Läden sind verrammelt, die Strassen leer. Doch die Ruhe täuscht. Die Stadt brodelt und befindet sich in einem ebenso berauschenden wie gefährlichen Zwischenreich. Die alte Macht ist gefallen. Eine neue ist hingegen noch nicht etabliert.
Zwar ist Mohammed al-Julani, der Anführer der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die das Land in einem knapp zweiwöchigen Blitzfeldzug überrannt hatte, bereits am Sonntag in der Hauptstadt eingetroffen. Er zeigte sich publikumswirksam in der Umayyaden-Moschee. Zudem befassten sich die siegreichen Aufständischen bereits mit der Regierungsbildung. Die neue Mannschaft unter Mohammed al-Bashir, einem einflussreichen Politbürokraten aus Idlib, werde ihre Arbeit schon bald aufnehmen, verkündete die HTS. Man wolle so gegen Unordnung und Plünderer vorgehen.
Noch ist davon allerdings wenig zu sehen. Schon auf dem Weg nach Damaskus zeigt sich, wie rasant die alte Ordnung zusammengebrochen ist – und welches Vakuum sie hinterlässt. Der Grenzübergang zu Libanon ist ebenso leer wie die Checkpoints auf der Autobahn. Überall sind liegengelassene Militärfahrzeuge zu sehen. Und auf den Strassen liegen immer wieder dunkle Bündel: Es sind Uniformen, welche die Regimesoldaten offenbar rasch ausgezogen haben, um im Angesicht des Kollapses möglichst unterzutauchen.
Als habe jeder Mann ein Sturmgewehr
Ihre Rolle haben stattdessen wild aussehende Milizionäre eingenommen. Wem sie gehorchen, ist unklar. Fast scheint es, als habe sich jeder junge Mann im Land ganz einfach eines der zahlreichen Sturmgewehre geschnappt, welche die fliehenden Regierungssoldaten in rauen Mengen zurückgelassen haben.
Wohin das führt, ist auf dem Umayyaden-Platz in Damaskus zu beobachten. Auf dem riesigen Kreisel staut sich der Verkehr, während freudige Menschen auf einem liegengebliebenen Panzer wild feiern und tanzen. Derweil schiessen bärtige Männer mit ihren Kalaschnikows in die Luft, als gäbe es kein Morgen. Der ganze Platz ist von leeren Patronenhülsen übersät.
Eigentlich hätten die als diszipliniert geltenden Truppen des HTS, die von Norden her auf Damaskus zumarschierten, in der syrischen Hauptstadt längst für Ordnung sorgen sollen. Aber sie sind nicht allein in Damaskus. Vor ihnen erreichten Rebellengruppen aus Südsyrien die Hauptstadt. Gleichzeitig erhoben sich in der Nacht auf Sonntag auch die Damaszener selbst gegen das todkranke Asad-Regime. Nun stehen sich alle diese Gruppen in Lauerstellung gegenüber.
Noch herrscht Glückseligkeit
Er fürchte leider, dass die verschiedenen Fraktionen bald schon aufeinander losgingen, sagt ein gut vernetzter Syrer in seiner Wohnung am Stadtrand. In dem Viertel, wo bis vor kurzem auch Angehörige der Sicherheitskräfte lebten, sind immer wieder Gewehrsalven zu hören. Zudem erzittern die Wände unter den Druckwellen ferner Explosionen. Es sind die Bomben israelischer Kampfjets, die im Minutentakt die Reste von Asads Militärinfrastruktur pulverisieren.
Noch herrscht in Syrien vor allem Glückseligkeit über den Sturz des verhassten Diktators. Tausende Syrer strömen in die gefürchteten Foltergefängnisse, deren geöffnete Tore jetzt totgeglaubte Verwandte und Freunde in die unverhoffte Freiheit entlassen. Andere beschäftigen sich hingegen mit profaneren Dingen und plündern zum Beispiel den Präsidentenpalast. In manchen Vororten, so erzählen Anwohner, komme es nachts auch zu Morden an Vertretern des gestürzten Regimes.
An der Grenze zu Libanon stauen sich deshalb die Fahrzeuge derjenigen, die keine Zukunft im neuen Syrien sehen. Es sind offenbar nicht nur hartgesottene Regime-Anhänger, die das Weite suchen, sondern auch Angehörige der Minderheiten wie der Alawiten oder der Schiiten. «Hier gab es eine kleine Bäckerei», sagt Hisham, ein älterer Christ im Viertel Bab Tuma, und zeigt auf einen geschlossenen Laden. «Aber der Besitzer war Schiit und ist sofort weggegangen.»
«Das Chaos und die Plünderungen müssen aufhören»
Zwar betonen die siegreichen Islamisten immer wieder, in ihrem neuen Syrien habe es Platz für alle Religionen. Aber manche ihrer andersgläubigen Mitbürger trauen ihnen offenbar nicht über den Weg. Zu frisch ist die Erinnerung an die sektiererischen Massaker im Bürgerkrieg. Und zu tief sitzt auch die Regime-Propaganda, die den Christen, Alawiten und Schiiten immer wieder Furcht vor der sunnitischen Mehrheit im Land eintrichterte.
«Wir wurden so erzogen», sagt Jamil, ein Priester in einer Chaldäischen Kirche in Bab Tuma. «Ich war immer gegen Asad und habe 2011 gegen ihn protestiert. Aber ich fürchte mich vor einem Islamisten-Staat, in dem ich dann Bürger zweiter Klasse bin.» Syrien habe jetzt seiner Meinung nach zwei Optionen. «Entweder wir werden wie Ägypten oder der Irak.» Es sei die Wahl zwischen einer neuen Diktatur oder einem weiteren Bürgerkrieg.
Nicht alle sind so pessimistisch. Er sehe eine Chance für das Land, sagt sein Freund George, der mit ihm vor dem Kirchenportal steht. «Es ist ja erst zwei Tage her. Es gibt jetzt endlich Hoffnung. Aber das Chaos und die Plünderungen müssen so rasch wie möglich aufhören.» Auf die Frage, wer denn dafür sorgen solle, sagt er: «Die Miliz. Oder die Leute, die jetzt noch die Miliz bilden.»
Bisher verlief der Umsturz relativ friedlich
Die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung ist die wohl dringlichste Aufgabe der neuen Machthaber. Im Vergleich zu anderen Revolutionen verlief der Umsturz in Syrien bisher einigermassen friedlich. Doch den Milizionären der HTS, die die Führung innerhalb der Aufständischen für sich beanspruchen, fällt es schwer, genügend Männer für die Sicherung von Damaskus abzustellen.
Deshalb müssen sie jetzt auch andere Gruppen integrieren. Ob sich diese kontrollieren lassen, ist eine andere Frage. Und wohin ein unkontrolliertes Milizenwesen führt, zeigen die traurigen Beispiele von Libyen oder Jemen, wo jeweils skrupellose Politbosse und Warlords das Interregnum nach dem Sturz der alten Ordnung für sich genutzt haben. Seither kommt die Macht dort nur noch aus den Gewehrläufen.
So weit ist es in Damaskus noch nicht. «Ich habe keine Angst», sagt Hisham, der Christ in Bab Tuma. Aber es komme jetzt auf die Mentalität jedes Einzelnen an. Die Syrer müssten alle zusammenhalten. Inzwischen ist es dunkel geworden und leer – bis auf Gruppen junger Männer, die laut hupend auf Motorrädern durch die Gassen fahren. Gleich fängt hier die Sperrstunde an, welche die neuen Machthaber eingeführt haben. «Ich bin kein Mann der Politik», sagt Hisham. «Am Ende kann uns nur Gott helfen.»

