Mittwoch, Oktober 2

Die geplante Neubaustrecke der SBB zwischen Neuenburg und La Chaux-de-Fonds kommt in einer internen Analyse schlecht weg. Eine Stadtbahn von Zentrum zu Zentrum wäre eine bessere Lösung.

23 Milliarden Franken investiert die Schweiz mit den laufenden Programmen in ihr Bahnnetz. In der ÖV-Branche wächst jedoch die Kritik, weil der Nutzen mancher Projekte ungenügend sei. Die Schweiz plane zu viele teure Ausbauten, die zu hohen Folgekosten führten, so lautet der Tenor. Die SBB-Präsidentin Monika Ribar und Direktor Vincent Ducrot plädieren dafür, Tabus infrage zu stellen. Sie verlangen, dass dort investiert wird, wo möglichst viele Reisende profitieren.

Recherchen der NZZ zeigen nun, dass die Überlegungen der SBB nicht rein theoretischer Natur waren. Bei einem milliardenschweren Ausbauprojekt brachten Fachspezialisten vor zwei Jahren eine Alternativvariante ins Spiel, wie erst jetzt publik wird.

Es geht um die Verbindung von Neuenburg nach La Chaux-de-Fonds. Der Handlungsbedarf ist unbestritten: Die Strecke mit der Spitzkehre in Chambrelien ist veraltet. Die Bahn kann nicht mit der Nationalstrasse A 20 mithalten. Der Marktanteil des öV ist bescheiden. Ein erstes Projekt einer neuen Linie (Transrun) fiel im Jahr 2012 in einer kantonalen Volksabstimmung knapp durch. Im Jahr 2018 nahm das Bundesparlament die Strecke in den Ausbauschritt 2035 auf. Im Gegensatz zum Bundesrat, der die bestehende Linie modernisieren wollte, entschied sich das Parlament für eine neue Direktverbindung.

6000 zusätzliche Passagiere pro Tag

Gemäss informierten Quellen beurteilten mehrere Fachspezialisten der SBB-Divisionen Infrastruktur und Personenverkehr die normalspurige Neubaustrecke kritisch. Bei Kosten von rund einer Milliarde Franken rechnet der Kanton Neuenburg mit gut 12 000 Passagieren pro Tag. Das ist gegenüber heute eine Verdoppelung, aber im Vergleich zu anderen Projekten mit ähnlichen Kosten sehr wenig. Die Bahnhöfe Neuenburg, La Chaux-de-Fonds und Le Locle liegen ausserhalb der Zentren. Ein wesentlicher Teil der Passagiere steigt nicht in Neuenburg auf die Fernverkehrszüge um, sondern pendelt innerhalb des Kantons. Selbst mit der Neubaustrecke dürfte das Auto deshalb oft schneller bleiben.

Betrieblich hat die normalspurige Neubaustrecke ebenfalls Nachteile. Die geplante Linie weist Steigungen von bis zu 50 Promille auf. Das bedingt wohl den Einsatz von speziellen Triebzügen. Technisch ist dies möglich, wie die Südostbahn auf ihren Steilstrecken zeigt. Die Beschaffung von speziellem Rollmaterial wäre aber mit höheren Kosten und Einschränkungen verbunden.

Für die Fachspezialisten überwogen die Nachteile. Sie lancierten den alternativen Vorschlag einer Stadtbahn, von der schon beim Transrun-Projekt die Rede war. Diese Kombination eines Trams mit einer Schmalspurbahn würde die Stadtzentren erschliessen. Sie könnte in Neuenburg mit der bestehenden Linie vom Hafen nach Boudry verknüpft werden. Das würde auch der Hauptrichtung der Reiseströme entsprechen. Die Fahrzeit von Zentrum zu Zentrum wäre kürzer als mit dem Auto.

Eine Stadtbahn dürfte zu einer höheren Nachfrage führen als eine normalspurige Neubaustrecke. Zudem könnte die Linie dank dem kleineren Tunnelprofil durchgehend doppelspurig gebaut werden, was einen dichteren Fahrplan ermöglichen würde. Das würde es auch einfacher machen, das Angebot auszubauen. Die Kosten wären gemäss ersten Berechnungen mit der Normalspurstrecke vergleichbar. Damit Passagiere aus Le Locle in La Chaux-de-Fonds nicht umsteigen müssen, wäre eine Verlängerung nötig, mit entsprechenden Mehrkosten. Auch in Le Locle würde die Stadtbahn aber ins Zentrum führen.

Neuenburg will Fernverkehrszüge

Der Kanton Neuenburg will vom Vorschlag jedoch nicht wissen. Die Verbindung von Neuenburg nach La Chaux-de-Fonds sei Teil des Fernverkehrsnetzes, sagt der kantonale Verkehrsdirektor Laurent Favre. Dies müsse unbedingt so bleiben, langfristig mit Zügen bis zum Genferseebogen. «Die Aufgabe der Strecke ist nicht eine städtische Feinerschliessung.» Ein isoliertes lokales System hätte gemäss dem Kanton Nachteile. Der Wechsel des Verkehrsmittels und das fehlende Entwicklungspotenzial im Regional- und Fernverkehr seien für die Bedürfnisse der Nutzer unzumutbar. Es sei inakzeptabel, die Neuburger Berge mit rund 90 000 Einwohnern und Arbeitsplätzen von den nationalen SBB-Verbindungen abzuschneiden.

Für die Modernisierung der Linie seien verschiedene Varianten eingehend geprüft worden, sagt Favre. Alle Akteure hätten eine normalspurige Direktverbindung bevorzugt, der das Parlament im Rahmen des Ausbauschrittes 2035 mit grosser Mehrheit zugestimmt habe. Zudem hätten die Direktion und der Verwaltungsrat der SBB wiederholt bestätigt, dass die Linienwahl für eine leistungsfähige nationale Direktverbindung richtig sei.

Der Alternativvorschlag liegt zwar auf der Linie von Ribars und Ducrots grundsätzlichen Überlegungen zur Bahn. Aber der SBB-Konzernleitung fehlte offenkundig der Mut, die Idee weiterzuverfolgen: Gemäss mehreren Quellen stellte sie sich nicht dahinter. Der SBB-Sprecher Moritz Weisskopf verweist auf den Auftrag des Bundesamts für Verkehr (BAV) und der Politik. Alternative Ideen seien nicht weiterverfolgt worden, weil sie verschiedene Anforderungen nicht erfüllt hätten, sagt er. So wäre der Bau einer unterirdischen Haltestelle im Bahnhof Neuenburg wegen der Topografie heikel. Der geplante Zeithorizont bis 2035 wäre unrealistisch gewesen.

Die vorgesehene Neubaustrecke basiert gemäss dem BAV dagegen auf einer bewährten Technologie. Die Linie könne in den Bahnhof Neuenburg integriert werden und ermögliche eine Fahrzeit von weniger als 15 Minuten, sagt der BAV-Sprecher Michael Müller. Mit der von den SBB angedachten Variante wäre ein isoliertes System eingeführt worden, das wenig erprobt sei. Die Gesamtkosten wären ähnlich hoch wie bei der Normalspurstrecke, jedoch bei einer weniger guten Leistung.

Fehlanreize beim Bahnausbau

Die normalspurige Neubaustrecke hat für Neuenburg den Vorteil, dass der Bund diese über den Bahninfrastrukturfonds (BIF) bezahlt. Das Beispiel zeigt exemplarisch, wie Alternativen zum Bahnausbau in der Schweiz einen schweren Stand haben. Nicht in jedem Fall ist eine neue Normalspurlinie für die Nutzerinnen und Nutzer die beste Lösung. Doch mit dem heutigen Finanzierungssystem haben die Kantone wenig Anreize, für eine Stadtbahn oder ein anderes System zu plädieren.

Im Rahmen der Agglomerationsprogramme finanzierte der Bund zwar auch Trambahnen wie die Limmattalbahn mit. Doch die Kantone müssen einen wesentlichen Teil übernehmen. Die Abgrenzung ist nicht immer einfach. So beteiligt sich der Bund über den BIF auch an der Verlängerung der Überlandbahn von Ponte Tresa in Lugano, mit tramähnlichen Fahrzeugen. Eine neue Eisenbahnstrecke bezahlt er aber vollständig aus dem BIF – von einem pauschalen Beitrag der Kantone und von Zusatzwünschen abgesehen. Das erklärt, warum die Kantone im Parlament so stark für ihre Bahnprojekte lobbyieren.

Die SBB und das BAV äussern sich zur Frage der Fehlanreize zurückhaltend. In identischen Antworten schreiben sie, das Stimmvolk habe die Mechanismen und Zuständigkeiten bei der Finanzierung der Bahninfrastruktur im Jahr 2014 festgelegt. Kein Blatt vor den Mund nimmt dagegen Peter König, der langjährige Leiter der Rechtsabteilung des BAV. Die Bahn sei zu teuer und ungeeignet, um regionale Verkehrsprobleme zu lösen, schrieb er im Juli in einem Gastbeitrag in der NZZ. Er schlug vor, das Gesetz anzupassen, damit der Bund über den BIF auch Trams oder Stadtbahnen finanziere. Das würde den Weg frei machen für günstigere und bessere Lösungen.

Für die Neubaustrecke nach La Chaux-de-Fonds dürfte die Diskussion zu spät kommen. In den kommenden Jahren sollen die Bohrmaschinen auffahren. Im Mai 2023 präsentierte der Kanton Neuenburg mit den SBB und dem BAV von den geprüften Streckenführungen jene Variante, die nun realisiert werden soll. Auf rund 14 Kilometern soll diese primär unterirdisch verlaufen und eine Kreuzungsstelle in Cernier umfassen. Der Kanton muss nur die Kosten von rund 45 Millionen Franken für diesen Bahnhof übernehmen.

Die Baukosten für die Strecke, die die Verantwortlichen im Jahr 2022 noch auf rund eine Milliarde Franken schätzten, sind inzwischen stark gestiegen. Gemäss der letzten Prognose geht das BAV von rund 1,29 Milliarden Franken aus. Mit einer Inbetriebnahme rechnet es im besten Fall im Dezember 2038. Die Passagiere im Neuenburger Jura müssen sich noch länger gedulden – unabhängig von der gewählten Variante.

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