Dienstag, November 5

Die Zahl der Pflegebedürftigen in der Schweiz dürfte in den kommenden Jahrzehnten noch einmal deutlich zunehmen. Wer soll das bezahlen? Es gibt drei Varianten.

In der Schweiz explodieren die Ausgaben für die Pflege. Die Gesamtkosten für die Langzeitpflege betrugen im Jahr 2022 rund 14 Milliarden Franken. Dies entspricht einem Anstieg von 30 Prozent in zehn Jahren, wie es in einer Studie des Think-Tanks Avenir Suisse heisst.

Angesichts der Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer braucht es wenig Phantasie, sich hier eine weitere starke Zunahme in den kommenden Jahren vorzustellen. «Die Zahl der Pflegebedürftigen dürfte in den kommenden Jahrzehnten noch einmal deutlich zunehmen, und folglich dürften auch die Kosten weiter steigen», sagt Martin Eling, Professor an der Universität St. Gallen (HSG).

Das Problem ist zwar seit vielen Jahren bekannt, doch politisch hat sich bisher wenig getan. «Es gibt hier ein Vakuum, das Problem der steigenden Kosten der Langzeitpflege ist ungelöst», sagt Yvonne Seiler Zimmermann, Professorin an der Hochschule Luzern. Die meisten Bürgerinnen und Bürger könnten sich die Bezahlung der Langzeitpflege sowieso nicht leisten – und es gebe kaum Anreize, privat für die Gefahr vorzusorgen, ein Pflegefall zu werden.

Das in den siebziger Jahren entstandene Dreisäulensystem für die Altersvorsorge war auf eine kürzere Rentenphase ausgelegt. Als es konzipiert wurde, war die Langzeitpflege noch kein grosses Thema. Mit dem demografischen Wandel akzentuiert es sich nun. «Die Schweiz hat mit der Einführung des Dreisäulensystems goldrichtig gelegen», sagt Eling. «Bei der sozialen Sicherung im Bereich der Pflege hat sie aber möglicherweise etwas verschlafen.»

Wie geht es nun weiter? Grundsätzlich sind drei Varianten denkbar: ein «Weiterwursteln» im bisherigen System, die Einführung einer auf dem Umlageverfahren beruhenden Pflegeversicherung oder die Einführung eines privaten, vererbbaren Pflegekapitals, wie dies der Think-Tank Avenir Suisse in einer neuen Studie zur Zukunft der Altersvorsorge fordert. Die Autoren Jérôme Cosandey, Sonia Estevez und Diego Taboada schlagen darin vor, ein Fünfsäulensystem für die umfassende Altersvorsorge zu schaffen. In diesem hätten neben AHV, BVG und privater Vorsorge auch die gesundheitliche Akutversorgung sowie die Langzeitpflege einen Platz.

1. Variante: «Weiterwursteln»

Derzeit sieht es aber in der Politik eher danach aus, als würde man im bisherigen System «weiterwursteln», anstatt einen grossen Wurf zu wagen. Die Efas-Reform, über die das Schweizervolk am 24. November abstimmt, würde endlich die Verzerrungen zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor beseitigen. Der neue Schlüssel zwischen Versicherung und Kanton würde ab dem Jahr 2032 zudem auch im Bereich der Langzeitpflege gelten. Die strukturellen Probleme der Pflegeversicherung werden dadurch aber nicht gelöst.

«Wird die Reform angenommen, weicht die Obergrenze, von der die Krankenkassen heute profitieren, einer proportionalen Beteiligung an den Kosten der Langzeitpflege», heisst es in der Avenir-Suisse-Studie. Dadurch dürften die Pflegekosten zulasten der Krankenversicherung steigen, was wiederum eine weitere Erhöhung der Prämien nach sich ziehen dürfte.

Das hätte negative Folgen, glaubt Eling. «Dies wäre ein politischer Steilpass, um die Einführung einer Einheitskasse zu fordern», sagt er. Die Grundidee der Efas-Reform sei richtig, letztlich löse sie aber das Problem, wie die Langzeitpflege in Zukunft finanziert werden soll, nicht. «Letztlich wäre es nur eine Umverteilung von der einen in die andere Tasche», sagt er. Derzeit sei die Finanzierung der Pflege «ein grosses Durcheinander». Das Restrisiko liege bei den Gemeinden, welche die Ergänzungsleistungen (EL) ausrichteten.

2. Variante: Einführung einer obligatorischen Pflegeversicherung

Die zweite Variante wäre die Einführung einer separaten, obligatorischen Pflegeversicherung etwa wie in Deutschland. Eine solche Versicherung würde die Kosten für ambulante und stationäre Langzeitpflege übernehmen, während die übrigen Gesundheitsleistungen weiterhin durch die Krankenkassen abgedeckt wären, sagt Cosandey.

Finanziert wird eine solche Versicherung nach dem deutschen Beispiel durch ein Umlageverfahren – wie in der AHV. Der Haken dabei: Aufgrund der steigenden Nachfrage nach Langzeitpflege würden die Prämien wohl ständig steigen. Zudem käme es dabei zu einer weiteren Umverteilung von Erwerbstätigen zu Älteren.

3. Variante: Einführung eines privaten Pflegekapitals

Avenir Suisse empfiehlt, die Langzeitpflege durch eine fünfte Säule abzudecken, in der die Versicherten ein privates Pflegekapital auf einem Sperrkonto ansparen. Sie wäre ähnlich wie die berufliche Vorsorge organisiert. «Viele Senioren würden ihren Kindern gerne etwas hinterlassen», sagt Cosandey. Um den Sparprozess attraktiver zu machen, sollte das Pflegekapital folglich auch vererbbar sein.

Man wolle den sparsamen Umgang mit Finanzen fördern. Weil hier jeder für sich selber spare, gebe es keine Umverteilung von Jung zu Alt. Avenir Suisse hat die Idee bereits einmal vorgestellt. Wer die Beiträge nicht zahlen kann, soll davon befreit werden. «Jeder soll auch in Zukunft in der Schweiz in Würde altern können», sagt Cosandey.

Seiler Zimmermann begrüsst, dass der Think-Tank das Thema adressiert. «Pflege gehört letztlich auch zur Altersvorsorge, da die zweite Säule die Fortsetzung des gewohnten Lebensstandards in angemessener Weise vorsieht – und dazu gehören auch Pflegeleistungen», sagt die Professorin. Sie würde eine separate, transparente Finanzierung der Kosten der Langzeitpflege begrüssen. Grundsätzlich sei es auch sinnvoll, die Altersvorsorge zusammen mit der Gesundheitsvorsorge zu betrachten: «Letztlich muss ein Vorsorgesystem alle Posten finanzieren», sagt sie.

«Die Offenheit dafür, ein neues Zwangssparsystem in der Pflege einzuführen, ist für einen liberalen Think-Tank nicht selbstverständlich», sagt Eling. Grundsätzlich unterstütze er die Idee, die Finanzierung der Langzeitpflege neu zu denken und sie aus dem bisherigen System herauszulösen. Auch sei es sinnvoll, hier das Kapitaldeckungsverfahren nach dem Vorbild der beruflichen Vorsorge anzuwenden. Er rät aber davon ab, in diesem Fall zu früh mit dem Sparprozess anzufangen: 30- bis 50-Jährige seien finanziell bereits stark belastet, und viele hätten keine Kapazität, einen Topf für die Langzeitpflege zu äufnen. Es sei sinnvoll, den Sparprozess etwa ab dem Alter von 50 zu beginnen – dabei sollte man aber aufpassen, dass man die älteren Arbeitnehmenden nicht weiter verteure. Dies sollte man berücksichtigen, bevor man Arbeitgeber zu Beitragszahlungen verpflichte.

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