Groth möchte in Ruhe gelassen werden. Doch eine Kunstinstallation in einer Notkirche tief im Osten der Republik ist ihm ein Anliegen. Begegnung mit einem Eigenbrötler aus Jerichow.
Man vernimmt ihn von weitem, sehen kann man ihn nicht. Er ist ja auch nicht da. Bloss seine Stimme hinter der Bretterwand. Im ostdeutschen Niemandsland, unweit der Grenze zu Polen spricht der Schauspieler Sylvester Groth mit sich selbst. Ab Tonband klingt sein sonores Organ.
Mobile Holzbänke, ein Altar, ein Kohleofen, mehr nicht, so ist die Notkirche von Buschdorf. Gebaute Bescheidenheit. Doch man soll sich von Äusserem nicht täuschen lassen: Die Baracke vor den Toren Berlins ist eine exklusive Location. Wohl hat die deutsche Wehrmacht 1945 alles weggesprengt, dem ein sakraler Geruch anhaftete, doch dicht beim Fundament der geschleiften Barockkirche steht ein Provisorium, das bis heute ein Widerstandsnest ist. Sein Fahnenträger: Sylvester Groth, gebürtig aus Jerichow, Sachsen-Anhalt.
Pilgern ins Oderbruch
Ein Hollywoodstar auf Landverschickung. Nicht überraschend für den bekennenden Einzelgänger. Groth missfällt die Meute. Sofort sagte er aber zu, als beherzte Oderbrüchler um den Fotografen Ingar Krauss ihm die Idee antrugen: Aus der Notkirche soll eine Hörkirche werden. Geben Sie uns Ihre Stimme!
Also las der Joseph Goebbels aus Tarantinos «Inglourious Basterds» eigens für die Kirchenbaracke in einem Studio einen vergessenen Roman ein, «Selbstverbrennung» des Berliner Autors Hartmut Lange. Die Hörinstallation in der Notkirche hat täglich bis zur Dämmerstunde offen, Gottesdienste finden ohnehin nicht mehr statt. Doch nun kommen in Buschdorf Literaturgläubige vorbei, Pilger des Wortes, Rundfunkstationen und Zeitungen.
Seit man weiss, was hier los ist, mausert sich die mausarme Notkirche zum Wallfahrtskirchlein. Was hier anzieht wie das Licht die Motten, ist die beliebte Stimme des Schauspielers und Hörbuchsprechers, genauso aber das Buch der Stunde, das er liest. Verfasst für Menschen in inneren und äusseren Glaubensnöten.
Die Selbstauslöschung eines Pastors
Hartmut Langes «Selbstverbrennung» basiert auf einer wahren Geschichte. Am 18. August 1976 übergoss sich der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz an der Elbe, einer Grenzgegend wie dem Oderbruch, mit Benzin und zündete sich an. Vier Tage später erlag er im Bezirkskrankenhaus Halle seinen schweren Verbrennungen.
Sein Suizid war Ausdruck des Protestes gegen das repressive Bildungssystem der DDR und den Einfluss des Regimes auf die Kirche. In seinem Land sei eine freie Ausübung des Glaubens nicht möglich. Brüsewitz hinterliess eine Frau und drei Kinder. Er hatte während Jahren mit verschiedenen populären Aktionen und öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten versucht, die Menschen von der Kirche und dem Glauben zu überzeugen.
Die Regierung unterstellte Brüsewitz Geisteskrankheit, gestand aber nach seiner Selbstverbrennung der Kirche gewisse Freiheiten zu. Als Reaktion auf die Tat in Sachsen-Anhalt protestierten im Land zum ersten Mal Menschen. Drei Monate nach der drastischen Aktion, am 16. November 1976, kam es zur Ausbürgerung des regimekritischen Liedermachers Wolf Biermann: Der DDR schien nun ernsthaft bange zu werden vor ihren unzufriedenen Bürgerinnen und Bürgern.
Im Kiez der Nobelpreisträger
Jetzt sitzt Sylvester Groth in Berlin. Schmaler Wurf, tiefes Gesicht. Lederjacke, Lederkrawatte, Hemd, Jeans. Und Zigarette, seine Leidenschaft. Einer, der sich nicht inszenieren will, inszeniert sich genau so. Interviews gibt er selten, er möchte in Ruhe gelassen werden. Zum Anlass des Buschdorfer Kirchenprojekts und des Buchs von Hartmut Lange macht er eine Ausnahme.
Er hat uns in seinen Kiez gebeten, nach Charlottenburg. Dreissigmal ist er seit seiner «Republikflucht» 1985 in der Stadt umgezogen, sie lässt ihn nicht los. Ein Ristorante, das er häufig frequentiert, ist Treffpunkt und Tränke. «Gin Tonic für alle, geht in Ordnung, ja?» Dann müssen es Spaghettini sein, die auf ein geheimes Zeichen hin auf dem Tisch stehen. Das Gericht steht nicht auf der Karte, man hat es in der Küche für den Stammgast erfunden.
Die Teigwaren, hausgemacht, schwimmen in einer schweren Sauce. Groth verspeist sie andachtsvoll, nickt dann über den Tisch, das Fragezeichen spart er sich: «Lecker.» Die Kellner im Hintergrund lassen ihn nicht aus den Augen, sie sind die Kulisse, jederzeit bereit, aus dem Schatten zu treten und vor ihm einen weiteren Gin Tonic aufzubauen. «Doppelt verdünnt, so wird man weniger schnell betrunken.»
Das Sofa, auf dem er sitzt, sein Stammplatz beim Italiener, scheint nur für ihn auf die Strasse gestellt worden zu sein. Er hat von hier aus Sicht auf alles, was um ihn passiert. Dann und wann kommen Bekannte und Nachbarn vorbei, und man fällt sich um den Hals. «Haben Sie die gekannt? Wohnt auch hier, eine wichtige Autorin.»
Groth lebt in einer Gründerzeitwohnung dem Lokal gegenüber. Imre Kertész war sein Vormieter, bis diesem die Treppe zu beschwerlich wurde. Zwischen zwei Gabeln Pasta zeigt er durch die Bäume auf das Nebenhaus: «Dort übrigens lebt – wie heisst sie noch? – die Nobelpreisträgerin, Herta!» Seine Welt findet vor seiner Haustüre statt, Heimat sind ihm die Bilder seiner Künstlerfreunde – und Literatur.
Den Roman «Selbstverbrennung» versucht er inzwischen als Hörbuch an den Mann zu bringen. Besser noch wäre ihn zu verfilmen, Tarkowski! «Das Buch hat mich fasziniert – und das Projekt. Ich dachte: Was machen die denn da! Notkirche, und die wollen ein Tonband laufen lassen?»
«Die» sind Ingar Krauss, der visuelle Dokumentarist des Oderbruchs und seiner Bewohner. Im Hintergrund die Kunsthistorikerin Katja Lehnert, sie hat die Idee bei der evangelischen Kirche durchgeboxt. Groth sagt: «Das sind Menschen mit Herz. Das begegnet einem so selten.» Das Buch, meint er, bremse die Zeit aus. Eine Geschichte klar und ruhig erzählt, ohne dass sie unkompliziert wird. «Bei mir und in meinem Umfeld gibt es genau danach ein grosses Bedürfnis.»
Die Schnauze voll von Ideologien
Er selbst erinnert sich noch genau an die Tragödie des Pastors Brüsewitz, die in «Selbstverbrennung» ungenannt mitschwingt. Als sie geschah, lebte Groth bereits in Ostberlin und empfing Westfernsehen. Die Tat wurde den Menschen als «Sensationsmeldung» verkauft. Kirche aber war nie sein Ding, sie schmeckt ihm zu sehr nach Ideologie. Von Heilsversprechungen hat er die Schnauze endgültig voll.
«Ich hatte bis zu einem bestimmten Punkt meines Lebens Christenlehre. Da wurde zu Weihnachten gebastelt, aber man musste Geld dafür bezahlen, die Kirchensteuer. Irgendwann konnte das meine Mutter nicht mehr, und da war ich weg. Das ist die einzige Berührung mit Kirche.» Im Übrigen war Groths Jugend schön, Land eben, zurück kehrt er aber nur noch, wenn er seine Schwester besucht. «Ist der Osten ein fremdes Land oder Heimat? Ich weiss nicht, ich fahre da hin, denn ich kenne den Weg.» Dann trifft er in der Gegend auf Tristesse, «Abwanderung, Häuser von früher, die ich kenne, alle vernagelt, traurig ist das».
Der Blick zurück interessiert ihn nicht. Deshalb wollte er auch seine Stasi-Akte nicht sehen. Bis er einen Teil der Unterlagen, 80 Seiten, plötzlich nach Hause geschickt bekam. Der Schauspieler hat im Westen ein neues Leben begonnen, «die DDR war und ist erledigt für mich». Als er vier Jahre vor dem Mauerfall beschloss, in den Westen zu gehen, waren seine Bekannten und Freunde alle bereits da, «ich war der Letzte».
«Uns geht es ja gold hier»
Die Westtheater schienen auf eine Type wie ihn gewartet zu haben. Spröde der Ton, kalt, wie er sein kann, und rigoros klar wie ein Messer. Ein Bühnenstar aus der Schmiede der Staatlichen Schauspielschule Berlin, heute Ernst-Busch-Schule, der Neue aus dem Osten war das Kapital der renommiertesten Adressen.
Das Wiener Burgtheater, das Zürcher Schauspielhaus, die Salzburger Festspiele. Und dann Hollywood! Groth wischt den Begriff mit der Hand weg wie eine der lästigen Herbstwespen: «Hollywood! Ach, vergiss es.» Auch so eine Ideologie, uninteressant. Lieber spricht er davon, dass im nächsten Jahr der Film «Silent Friend» von Ildikó Enyedi erscheint, mit dabei der gefeierte Hongkong-Darsteller Tony Leung Chiu-Wai. Und die junge Schweizerin Luna Wedler.
Wenn er heute auf die ehemalige DDR blickt, was sieht er da? Keine Faschisten auf jeden Fall, auch wenn die Menschen AfD wählen. «Man kann nicht dreissig Prozent der Bevölkerung in den Bundesländern verbieten. Die werden ihr Kreuz nicht ohne Grund dort gemacht haben.» Doch man soll mit einem Schauspieler nicht über Politik reden, mahnt er. Und überhaupt: «Uns geht es ja gold hier!» Dann bestellt er den letzten Gin Tonic. Und während er noch die Rechnung für alle bezahlt, flüstert der Cameriere heimlich: «Ich weiss, das dürfen Sie nicht schreiben, aber: Herr Groth ist ein ganz Lieber!»
Daniele Muscionico ist Redaktorin bei CH Media und betreut das Kunstdossier.