Samstag, März 15

Wer im Krankenhaus landet, verursacht hohe Kosten, langweilt sich und kommt mit gefährlichen Keimen in Kontakt. Das muss nicht mehr sein.

Die Beine von Svitlana Dubinchuk sind stark geschwollen und von roten Flecken übersät. Jeder Schritt schmerzt. Die Patientin leidet an einer schweren bakteriellen Entzündung und braucht deshalb täglich Medikamente. Sie liegt im Bett, der Pflegefachmann Rolf Hedinger lässt über die Infusion im rechten Arm zwanzig Minuten lang ein Breitband-Antibiotikum in die Vene tröpfeln. Und checkt gleichzeitig ihren allgemeinen Zustand. «Haben Sie Schwindel? Wie viel trinken Sie am Tag? Nur einen Liter? Das reicht nicht!»

Es ist eine Szene, wie sie sich in Schweizer Spitälern jeden Tag hundertfach abspielt. Aber Svitlana Dubinchuk ist nicht im Spital: Sie lässt sich daheim behandeln. In ihrer winzigen Wohnung in einem ehemaligen Altersheim in Küsnacht, wo sie mit ihrem Mann und den beiden Töchtern nach der Flucht aus der Ukraine Unterschlupf gefunden hat. Nur der Infusionsständer beim Fenster und eine Liste mit Medikamenten, die an der Wand hängt, verraten, dass dieses Appartement derzeit auch ein Krankenzimmer ist.

Fünf Tage sind vergangen, seit Dubinchuk auf der Notfallstation der Klinik Hirslanden gelandet ist. Die Antibiotika in Tablettenform, die sie zuvor gegen die Infektion bekommen hatte, schlugen nicht an. Es ging ihr immer schlechter. Eine Hospitalisierung liess sich nicht mehr vermeiden – allein schon wegen der Infusion, die sie jeden Tag braucht. Doch seit dem letzten Sommer gibt es für Patienten, die im Grossraum Zürich wohnen, eine Alternative zum Spital: Hospital at Home.

Jeden Tag besucht ein Team des gleichnamigen Gesundheits-Startups mit Sitz in Zollikon die Patientin. Neben dem Pflegefachmann Hedinger ist auch die Ärztin Valentine Cleusix bei der Visite in der Flüchtlingsunterkunft dabei. Sie erkennt anhand von Kugelschreiberlinien, die sie am Vortag auf die Unterschenkel von Dubinchuk gezeichnet hat, dass die Entzündung schon etwas zurückgegangen ist. Sie sagt der Patientin, sie könne die Schmerzmittel nun reduzieren. Aber sie solle sich weiterhin so wenig wie möglich bewegen und die Beine hochlagern.

In Norwegen oder Japan schon Normalität

Hospital at Home hat in der Schweiz den Status eines innovativen Pilotprojekts. In anderen Ländern hat sich dieses Behandlungskonzept aber bereits etabliert. In Norwegen, Australien oder Japan gehört die Behandlung in den eigenen vier Wänden zur Normalität. Gerade die Pandemie hat dem Modell weiteren Schub verliehen. Weil der Platz in vielen Spitälern plötzlich eng wurde, hat man sich mehr Gedanken darüber gemacht, wer zwingend im Spital liegen muss – und wer nicht. Zudem bietet auch der technische Fortschritt neue Möglichkeiten. Der Zustand von Patienten kann mit Sensoren auch zu Hause rund um die Uhr überwacht werden.

Abraham Licht beschäftigt sich seit langem mit dem Thema. 2013 hat der Chefarzt des Notfallzentrums der Klinik Hirslanden die Idee erstmals der Zürcher Gesundheitsdirektion präsentiert. Bis aus der Vision Realität wurde, sind zehn Jahre vergangen. Zusammen mit Mitstreitern hat Licht die Hospital at Home AG gegründet, deren Verwaltungsratspräsident er ist. Im Sommer 2023 hat das Startup seine Arbeit aufgenommen.

«Mir war aus meiner Arbeit auf dem Notfall immer klar, dass wir in den Spitälern viele Patienten versorgen, die eigentlich auch zu Hause behandelt werden könnten», sagt Licht. Er spricht von 20 Prozent. Einfach gesagt sind es jene Patienten, die zu krank sind, als dass sich die Spitex alleine um sie kümmern könnte – aber nicht so krank, dass sie zwingend im Spital liegen müssen.

Das kann eine ältere Frau mit einer schweren Lungenentzündung sein oder ein junger Mann mit einem schwierig zu behandelnden Wundinfekt. Wendet sich ein solcher Patient an die Notfallstation der Klinik Hirslanden oder der Klinik Im Park, mit denen Hospital at Home kooperiert, dann wird abgeklärt, ob die Person für das Programm infrage kommt. In Zukunft will Hospital at Home noch mit weiteren Spitälern kooperieren. Patienten können zudem auch vom Hausarzt zugewiesen werden.

Ob ein Patient geeignet ist für das neue Modell, entscheidet sich nicht nur anhand der Erkrankung und der Diagnose zur Spitalbedürftigkeit. Wichtig ist auch die Frage, ob die Person noch einigermassen mobil ist. So sollte sie beispielsweise selbst auf die Toilette gehen können. Von Vorteil ist auch, wenn Angehörige verfügbar sind, die zu Hause bei alltäglichen Verrichtungen helfen können. Nicht infrage kommen Patienten, bei denen das Risiko besteht, dass sich ihr Zustand rasant verschlechtern könnte.

Die entzündeten Beine der Patientin sind immer noch stark geschwollen, aber langsam geht es aufwärts.

Und auch die Patienten müssen einverstanden sein damit, dass sie zu Hause behandelt werden. «Es gibt Menschen, die sich im Spital sicherer fühlen, und das respektieren wir selbstverständlich», sagt Licht. Eigentlich sei es aber so, dass die eigenen vier Wände mitunter die sicherere Umgebung seien. In Spitälern besteht immer das Risiko, dass sich Patienten mit anderen Erregern infizieren. Insbesondere für betagte Menschen bietet die Behandlung zu Hause Vorteile: In der gewohnten Umgebung entwickeln sie seltener ein sogenanntes Delir, einen Zustand akuter Verwirrung, der lebensbedrohlich werden kann. Dies belegen auch internationale Studien.

Lieber daheim auf dem Sofa

Viele Patientinnen und Patienten bleiben ohnehin lieber daheim. So wie Daniela Ljütens. Sie bekam vor Ostern eine schwere Lungenentzündung, die normalerweise stationär behandelt werden muss. Ljütens ist privat versichert und hätte im Spital ein schickes Einzelzimmer und Gourmetküche bekommen. Doch der noch grössere Luxus war für sie, nicht ins Spital zu müssen. «Dort wird man permanent gestört: Jemand bringt das Essen, jemand misst Fieber, dann kommt die Visite. Doch ich brauchte anfänglich einfach meine Ruhe und habe fast den ganzen Tag geschlafen.»

Die Behandlung daheim dauerte bei Ljütens zwei Wochen. Das ist für Hospital-at-Home-Patienten ungewöhnlich lang – die durchschnittliche Behandlung ist nach sechs Tagen vorbei. Nach der ersten Woche begann Ljütens, sich eine Tagesstruktur zu geben. Am Mittag tauschte sie das Pyjama gegen Alltagskleidung und setzte sich zum Lesen aufs Sofa. «Es tat der Seele gut», sagt Ljütens.

Studien zeigen, dass die Patienten im Hospital at Home schneller genesen und auch früher wieder aktiv werden. Das kann gerade für ältere Menschen entscheidend sein. Laut Abraham Licht kommt es zu Hause anders als im Spital fast nicht vor, dass ein Patient den ganzen Tag im Bett liegt. Und damit sinkt auch das Risiko, dass sich nach wenigen Wochen die Muskulatur so weit zurückgebildet hat, dass eine Verlegung in ein Pflegeheim unumgänglich wird.

Die Familie nicht alleine lassen

Auch für Menschen, die in schwierigen Verhältnissen leben, kann die Behandlung daheim ein Segen sein. So für eine alleinerziehende Mutter aus Pakistan, die in der Schweiz kein soziales Netz hat. Dank Hospital at Home konnte sie sich weiterhin um ihren Sohn im Primarschulalter kümmern, wie sie der NZZ berichtete. Svitlana Dubinchuk ist ebenfalls dankbar, dass sie nicht ins Spital muss. Denn die ukrainische Mutter hält in der Fremde die Familie zusammen – und möchte kontrollieren, dass ihre neunjährige Tochter, bei der kürzlich Diabetes diagnostiziert worden ist, regelmässig ihr Insulin spritzt.

Die Promotoren von Hospital at Home versprechen sich vom neuen Modell auch Kosteneinsparungen im Vergleich mit der stationären Behandlung. Primär, weil damit die teure Spitalinfrastruktur nicht benötigt wird. Internationale Studien gehen von einem Sparpotenzial von 10 bis 30 Prozent aus.

Das Startup konnte mit seinem Pilotprojekt das Interesse der Zürcher Gesundheitsdirektion wecken. Der Kanton unterstützt das neue Modell in den kommenden drei Jahren mit Subventionsbeiträgen. Peter Indra, Leiter des Amts für Gesundheit, bezeichnet das Pilotprojekt in einer Medienmitteilung als visionär. «Mit unserer finanziellen Investition möchten wir Erkenntnisse zu Qualität und Wirtschaftlichkeit des Hospital-at-Home-Ansatzes gewinnen.» Damit evaluiert werden kann, wie gut das Pilotprojekt im Vergleich mit der herkömmlichen stationären Behandlung abschneidet, stellt das Startup dem Kanton Daten zur Qualität und Wirtschaftlichkeit zur Verfügung.

Das Potenzial des Telemonitorings

In der Küsnachter Flüchtlingsunterkunft stellt der Pflegefachmann Rolf Hedinger den Infusionsständer zur Seite. Die Behandlung von Frau Dubinchuk wäre für heute eigentlich abgeschlossen, doch da beginnt sie plötzlich stark zu zittern. «Sie fiebert auf», sagt Hedinger und holt weitere Decken. «Kein Problem», sagt die Patientin in gebrochenem Deutsch und lächelt verlegen. Hat sie womöglich eine allergische Reaktion auf die Antibiotika? Hedinger ist skeptisch, auf Anraten der Ärztin Cleusix misst er ihr stattdessen den Blutzucker: Die Werte sind tief. «Sie müssen mehr essen», sagt er der Patientin, die schon drei Kilo abgenommen hat. Cleusix reicht ihr Traubenzucker.

Wer eine intravenöse Verabreichung von Medikamenten via Infusion braucht, muss normalerweise ins Spital – doch nun gibt es eine Alternative.

Nach ein paar Minuten geht es Dubinchuk besser. Hedinger sagt ihr nochmals eindringlich, wie wichtig es sei, dass sie sich gut ernähre. Und er will am Nachmittag nochmals vorbeikommen, um die Vitalwerte zu messen. Dubinchuk hat kein Armband, das ein Telemonitoring ermöglichen würde. Ein solches Gerät, mit dem sich von der Zentrale aus auch der Blutdruck oder die Sauerstoffsättigung des Bluts überwachen lassen, bekommen zurzeit nur Hospital-at-Home-Patienten mit Herzproblemen oder Erkrankungen der Lungen.

Der Personalaufwand des Startups ist zurzeit noch relativ hoch, wie der Mitgründer Stephan Pahls einräumt. Innert vier Stunden werden vier bis sechs Patienten betreut. «Wir stehen ganz am Anfang.» Mit zunehmender Erfahrung und steigender Patientenzahl werde sich die Effizienz verbessern. «Und auch die Telemedizin wird künftig noch eine grössere Rolle spielen», sagt Pahls.

Andere Länder gehen in diesem Bereich schon viel weiter. Zum Beispiel England: Dank elektronischer Überwachung kümmern sich dort vier speziell ausgebildete Pflegefachkräfte um bis zu sechzig Patienten gleichzeitig. Und dies mit durchaus guten Ergebnissen, wie der Notfallmediziner Licht sagt.

Trotzdem steht der Chefarzt zu viel Elektronik skeptisch gegenüber. «Der direkte Kontakt mit den Patienten ist wichtig.» Denn dabei wird man auch auf Probleme aufmerksam, die Messgeräte womöglich nicht registrieren. So wie die Tatsache, dass Svitlana Dubinchuk über Wochen viel zu wenig gegessen hat.

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